Gottes eigenes Land – Gedanken am Rande einer Radtour

Es ist Mitte Oktober 2016. Wieder einmal besteigen wir nahe der keralischen Metropole Cochin die Fahrräder zu einer durchaus anspruchsvollen Tour hinauf in den südindischen Regenwald, die Tee-, Kaffee- und Gewürzplantagen in den Bergen der Western Ghats, alsdann hinunter in die „Seele“ Südindiens nach Madurai mit seinen Tempeln, um abschließend die großartige Kulturlandschaft der Backwaters bei Alleppey und die Traumstrände von Marari Beach zu genießen.

Erneut treffen wir faszinierende Menschen und erleben Situationen, in denen wir mal erstaunt, mal kopfschüttelnd und auch mal frustriert registrieren, dass das Leben auf dem Subkontinent oft andere, mitunter anstrengende Lösungen für den westlichen Gast parat hält.

Die Inder im Süden sind unglaublich offen und fragen schnell sehr direkt nach durchaus auch privaten Dingen zur eigenen familiären Situation, den Kindern, der Arbeit und anderem mehr. Dies ist geübt, erkennen sich fremde Inder doch auf diesem Wege schnell, mit wem sie es zu tun haben und wie sie sich ihm gegenüber zu verhalten haben. Seit einiger Zeit schon fotografieren und filmen Sie uns auch ungeniert, dem Smartphone sei Dank. Das alles geschieht eher unaufdringlich. Ungefragt bieten sie zudem gern jede mögliche Hilfe an.

Zu Beginn rollen wir uns in bewährter Weise entlang der Küstenstraße ein und machen an einem der fast menschenleeren Traumstrände nördlich oder südlich von Cochin Pause, um zu einem ersten erfrischenden Bad in den Indischen Ozean einzutauchen. Stets suche ich dazu kleine Hotelanlagen aus, die uns die Möglichkeit zum Umziehen und zum Duschen bieten können. Wo immer ich um diesen Service bitte wird er lächelnd gewährt. Mehr noch, im Camäleon Beach Bungalow auf Vypin Island werden wir vom Eigentümer persönlich zum Gespräch und zu einer Gratis-Erfrischung eingeladen und im Alleppey Beach Resort dürfen wir die Hängematten im Garten nutzen und im Restaurant zusätzlich Tee und Kafffee konsumieren. Das ist nicht überall auf der Welt so selbstverständlich.

Leider beginnt für einen unserer Gäste, und somit auch für uns,  mit der Anreise auch eine dreitägige Odyssee zur Erlangung seines verspätet eintreffenden Gepäcks. Einerseits erleben wir das geradezu furienhafte Engagement unser Gastgeberin Usha, um den lokalen Behörden „Feuer unterm Hintern“ zu machen, inklusive der Nutzung ihrer persönlichen Kontakte zu einem höheren Polizeioffizier. Andererseits ist dies dringend nötig, ja wird von den behäbigen und arroganten Angestellten der Fluggesellschaft Jet Airways geradezu erwartet. Trotz allen Druckes tun sie nichts, erfinden immer wieder neue Lügenmärchen und zwingen uns letztendlich, nochmals persönlich zum Flughafen zu kommen, um das Gepäck zu identifizieren und in Empfang zu nehmen. Unglaubliches Indien – Incredible India!

Erneut berichten mir Gäste vom herablassenden Benehmen indischer Offizieller bei der Beantragung des Visums. Liebe Vertreter des zu Recht stolzen indischen Volkes, bitte lasst Euren Frust, über was auch immer, nicht an denen aus, die mit großem Interesse Eure Heimat bereisen wollen. Ihr gebt ein unnötig falsches und komplett vermeidbares und zum Glück in der Realität selten zutreffendes Bild von Indien ab. Bitte bringt auch Ihr Eure Servicekultur auf das Niveau von Tausenden Eurer Landsleute im privaten Sektor des Tourismusgeschäftes, die Euch mit ihrem überwältigendem Einsatz, Wissen und vor allem ihrer Freundlichkeit beschämen.

Ein stiller Freundlicher ist der Fahrer unseres Begleitfahrzeugs mit dem bedeutsamen Namen Vishnu. Schon auf der ersten Radetappe von Kadally ins Vogelreservat nach Thattekad führt er uns abseits der verkehrsreichen Straßen auf den Pfaden seiner Kindheit über Nebenstraßen und Schleichwege, die sonst nur die Einheimischen benutzen. Außerdem hat er in Eigeninitiative seinen Job als Verantwortlicher für Wasser und Obst für uns Radler um eine von allen sehr geschätzte Option erweitert. Einmal am Tage bereitet er aus frischen Tomaten, Gurken, Zwiebeln, Limonen, grünen Chillies und diversen Kräutern einen frischen Salat – köstlich!

Angekommen im Jungle Bird Homestay von Mrs. Sudha verordnet sie uns sofort Tee und später und am nächsten Morgen ihre legendären vegetarischen Curries. Im abendlichen Gespräch ist es ihr Sohn, der unsere Pläne hinterfragt, diese eher suboptimal findet und uns bisher unbekannte Routen durch den Wald, u.a. über eine Hängebrücke empfiehlt. Das erweist sich als Volltreffer und wertet die beiden nächsten Tagesetappen deutlich auf.

Die meisten unserer Gäste fordern nach den schweißtreibenden Stunden auf den Rad zumindest am Abend das redlich verdiente Bier. Auch wenn die Tage der Prohibition in Kerala zum Glück hinter uns liegen, so ist es doch in privaten Homestays, zumal im Wald oder inmitten von Teeplantagen gelegen unüblich, Alkohol wie dieses unser „Grundnahrungsmittel“ anzubieten. Erneut schlägt hier die Stunde unseres treuen Helfers Vishnu. In der letzten Stadt vor der Einfahrt in den Regenwald besorgt er die ihm genannte Menge. Vor dem Aufstieg nach Munnar stelle ich erfreut fest, dass wir nur gut die Hälfte des Vorrates geleert haben. Ich packe also die noch vollen und darüber die leeren Flaschen in eine große Tasche und übergebe sie kommentarlos an Vishnu zum Weitertransport.

Am Abend bitte ich ihn um die verbliebenen Flaschen, um auf den gelungenen Abschluss der „Königsetappe“ anzustoßen. Er aber zeigt nur auf die leere Tasche.

Als ich ihm erkläre, dass unter den leeren noch etliche volle Flaschen waren, erwidert er betroffen, dass er alle Flaschen ohne weitere Prüfung entsorgt habe. Er konnte sich wohl schlichtweg nicht vorstellen, dass deutsche Radfahrer nicht die bestellte Menge unseres Nationalgetränkes konsumiert haben. Aus anfänglichem Zorn meinerseits wird schnell Nachdenklichkeit, sind wir es doch, die bei ihm dieses Immage des für Inder nicht nachvollziehbare Mengen Bier konsumierenden Gastes bewirkt haben. Noch ehe ich dazu komme, meinen Erkenntnisgewinn mit meinen Gästen zu teilen, hat er schon seinen „Fehler“ korrigiert und wir genießen unser Bier.

Apropos Genuss. Mehrfach während der Tour genießen wir unser Abendessen – soweit möglich – gemeinsam mit Einheimischen, sei es nun als Streetfood wie in Munnar oder in einem stark frequentierten Restaurant in Madurai. Immer fällt auf, dass die Inder, wie andere Asiaten auch, die Nahrungsaufnahme im Schnelldurchgang vollziehen und sich ihrerseits wundern, wie lange wir dafür brauchen. Die gerade leeren Teller werden uns buchstäblich  unter der Nase weg gezogen und die Rechnung wird noch mitten im Essen präsentiert, wenn klar ist, dass keine weiteren Bestellungen mehr folgen. Künftige Gäste, bitte stellt Euch darauf ein, denn es ist nicht anzunehmen, dass die Einheimischen kurzfristig von ihren Gewohnheiten lassen. Dafür sind die vegetarischen Speisen von einer erlesenen Qualität, die uns gern über diese „Unsitte“ hinweg schauen lassen.

Bei der Wanderung durch das Wildreservat von Thekkady erklärt uns der Ranger, das es die gewaltigen Teakholzbäume sind, die dem Ort den Namen gaben (Thek ady = Ort unter den Teakbäumen). Während der gesamten Tour begegnen uns diese Bäume mit den markanten großen Blättern, leider nicht mehr in der Größe, wie wir sie im Reservat bestaunen können. Seit den Tagen des britischen Empire und auch danach im unabhängigen Indien wurden sie gnadenlos abgeholzt und im günstigsten Fall zu langlebigen Möbeln für den lokalen wie internationalen Markt verarbeitet. Oft aber wird in westlichen Ländern Teakholz für Böden in Gärten oder auf Terassen benutzt oder als Sitzmöbel, weil diese vermeintlich schicker sind als die in Indien überall verbreiteten und in allen Formen vorkommenden Plastemöbel. Vielleicht sollte auch im ökologisch so vorbildlichen Deutschland mal ankommen, dass Verzicht auch in diesem Fall die bessere Variante ist gegenüber der Selbstberuhigung durch Öko- oder
welche Labels auch immer. Von der behaupteten und bestätigten nachhaltigen Produktion sind sie in Ländern wie Indien noch ein erhebliches Stück entfernt. Wider besseres Wissen geht hier und bei vielen anderen Themen der Raubbau weiter.

Eine unserer Radetappen durch die faszinierende Welt der Backwaters lasse ich traditionell am Strand von Alleppey ausklingen. Dieser eigentlich sehr schöne 2 km lange, noch dazu geschichtsträchtige Landstrich mit Gebäuden aus der Gründungszeit der Stadt bietet seit einigen Monaten eine besondere Attraktion, die mein Partner den Gästen gern vorenthalten hätte. Es ist dies eine Mega-Baustelle, wird hier doch mit Hochdruck an einer mehrspurigen, auf 8 -12 m hohen Trägerungeheuern lagernden Umgehungsstraße  für den Fernverkehr gearbeitet. Da für den Inder der Strand nicht annähernd die Bedeutung hat wie für westlich Zivilisierte, regte sich nicht nur kein Widerstand ob dieser Schandtat, sondern alle sehnen sie den Tag der Eröffnung herbei, verheißt diese doch eine spürbare Entlastung der oft vom Verkehr blockierten Innenstadt. Vielleicht sollten auch wir unsere Empörung mäßigen, denn mir fallen reihenweise Verkehrsprojekte in Deutschland und anderswo ein, wo auf dem Tempel der Automobilität natürliche Lebensräume geopfert wurden. Schade ist es trotzdem, dass auch hier alle Fehler des Westens mit Hingabe wiederholt werden.

Zum Abschluss der Tour hatten wir im Vorfeld vereinbart, dass für die letzten drei Nächte zusammenhängend ein Hotel am traumhaften Marari Beach im Norden von Alleppey den entspannenden Schlusspunkt unter diese doch anstrengende Tour setzen sollte. Leider gab es eine Nichtverfügbarkeit der Zimmer am 2. der drei Tage, weshalb mein Partner uns eine ebenfalls toll ausschauende Alternative anbot. Begeistert stimmten alle Gäste und auch ich zu, annehmend dass damit der zusammenhängende 3-Tages-Aufenthalt gesichert sei. Nur ist dem in der Realität dann nicht so, da mein Partner die Alternative nur für den einen Tag gebucht hat. In der Konsequenz heißt das jeden Morgen wieder Koffer packen und 500m den Strand rauf und am nächsten Morgen wieder runter. Zwar erleben alle dadurch neben dem größeren Beach Hotel nochmals ein sehr persönliches Heritage Guesthouse mit erlesenem Service, aber zunächst ist der Unmut ob der ungeplanten Umzieherei doch erheblich. Einzig mein indischer Partner kann nicht nachvollziehen, warum wir damit ein Problem haben. Vielleicht hat er Recht und wir sollten von unserer gewohnten Problem-Denke umschalten auf die der Chancen-Nutzung?

Inzwischen verbringen unsere Gäste entspannt ihre letzten Stunden und ich nutze die Zeit, Räder und Material für die bereits in der Folgewoche beginnende nächste Tour zu checken. Für meinen Partner Josey ist das alles noch sehr weit weg…Beim Prüfen unserer Ersatzschläuche stelle ich fest, dass von insgesamt 8 nur noch 2 intakt sind. Und dies vor dem Hintergrund, dass wir vereinbart haben, dass er oder der Fahrer den jeweiligen Schlauch sofort nach einem Platten am Abend flickt oder entsorgt. So mache ich mich denn an die Reparatur bzw. ans Aussortieren. Abends reden wir einmal wieder über dieses Thema. Josey ist zufrieden mit der Zuverlässigkeit der Räder während der vergangenen Tage und nicht bereit, sich kritische Fragen meinerseits stellen zu lassen. Ist doch alles super gelaufen und für die kommende Tour haben wir dank meiner Unruhe und meines deutschen Perfektionismus nun genügend Ersatzschläuche – grinst er alle meine Bemühungen weg, auch ihn etwas vorausschauender arbeiten zu lassen. Das wird wohl auch im 6. Jahr unserer nicht immer einfachen Zusammenarbeit nix. Trotzdem weiß ich, was ich an ihm habe und dass er letztendlich immer alles auf den allerletzten Drücker hinbekommt. Mehr ist ja schließlich nicht nötig und damit unterscheidet er sich auf angenehme, wenn auch manchmal etwas stressige Weise von Abertausenden seiner „No-Problem-Sir“-Landsleute.

Und so freue ich mich denn auf die kommenden Touren mit meinen indischen Freunden und Partnern und auf das, was dann alles wieder so an Unvorhersehbarem passieren wird.

Seien Sie doch einfach mal dabei, sie werden es nicht bereuen!

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