Unterwegs im Land der Tamilen

Anders Radfahren

Radfahren in Indien ist anders, nicht nur, weil wir auf der linken Seite fahren. Es gibt keine speziellen Radwege. Und es ist anstrengend, weil wir uns auf im Vergleich zu Europa grundsätzlich andere Bedingungen und Verhaltensweisen einzustellen haben, da wir selbst sie nicht ändern können. Worum geht es?

Zunächst und vor allem um den ungewohnt unverhältnismäßigen, meist lautstarken Einsatz der Hupen. Der wird in der Fahrschule bereits eingeübt. Auch wenn die allermeisten Fahrzeuge heute über Rückspiegel verfügen, so orientiert sich der hiesige Verkehrsteilnehmer fast ausschließlich nach vorn. Was seitlich oder hinter ihm passiert nimmt er nur wahr, wenn er akustisch darauf hingewiesen wird. Daher sind besonders viele größere Fahrzeuge wie Trucks oder Busse mit der eindeutigen Aufschrift „Horn Please!“ oder „Sound Horn“ (Bitte Hupen!) versehen. Davon wird heftig und für uns Radler leider viel zu lautstark Gebrauch gemacht. Was auf uns oft wie Nötigung wirkt, ist eher selten so gemeint. Wie gelernt, teilt der Inder uns lediglich mit, dass er sich von hinten oder von der Seite nähert. Wir sollten nicht erschrecken und unseren Weg ruhig und unbeeindruckt fortsetzen.

Alsdann gibt es anders als bei uns keine klar definierten Vorfahrtsregeln. Alles ist bei meist wesentlich geringerer Geschwindigkeit als in Europa im Fluss, jeder nimmt auf jeden so gut Rücksicht wie möglich, oder auch manchmal nicht. Alles regelt sich irgendwie durch Blickkontakte, kleine Gesten oder das entschiedene Vordringen in die kleinste Lücke. Dies erfordert gerade am Anfang oft eine gewisse Überwindung, geht es doch darum, den Verkehr zu lesen, die kommenden Aktionen der anderen Teilnehmer möglichst zu antizipieren. Mit der sich einstellenden Übung gelingt das meist schnell und mit jedem Tag besser. Dabei sind die Inder kooperative und gelassene Partner, die selten mal eine Art Vorfahrtsrecht durchsetzen. Eher sind sie erfreut über uns und behilflich, die jeweilige Situation zu meistern. Gerade bei nicht vermeidbaren Ortsdurchfahrten  hilft uns auch, dass wir als Gruppe erscheinen, die von einem erfahrenen Guide ruhig durch die vermeintlichen Problembereiche geführt wird.

Auch wenn sichtbar an der Verbesserung und am Ausbau des indischen Straßennetzes gearbeitet wird und sich viele von uns befahrene Abschnitte im Belag von Tour zu Tour deutlich verbessern, so ist der permanente Blick auf die Strasse hier noch wichtiger als zu Hause. Nach wie vor tun sich unvermittelt Schlaglöcher von mitunter erschreckenden Ausmaßen auf. Mal liegt unvermittelt eine Kuh oder Ziege auf meiner Spur. Und dann haben die Inder die britische Hinterlassenschaft von unvermittelt auf die Strasse aufgebrachten „Speedbreakern/Humps“ (Bodenwellen) zu einer Art Massenkultur auch dort entwickelt, wo man sie eher nicht erwartet. Also immer die Augen auf, auch wenn der Guide meist auf Gefahrenstellen hinweist.

Um längere Strecken zu fahren, sind wir bei allen Touren auch auf den so deklarierten National Highways unterwegs, bei uns vergleichbar mit mehr oder weniger gut ausgebauten 2-spurigen Landstraßen. Immer öfter findet sich ein breiter Seitenstreifen, auf dem es sich vergleichsweise entspannt rollen lässt. Oft ist es die einzige, meist die sinnvollste Möglichkeit, ans Ziel zu kommen. Wo immer möglich bevorzugen wir untergeordnete Strassen, was leider nicht in jedem Fall bedeutet, dass dort das Radeln entspannter wäre. Da öffentliche Busse noch in das letzte Dorf fahren, nutzen auch sie diese Straßen mit der Konsequenz, das wir immer wieder mal in den Staub müssen.

Alles genannte sind Gegebenheiten, die wir nicht ändern, auf die wir uns aber gut einstellen können. Wir als Veranstalter tun durch die Bereitstellung technisch einwandfreier und in ihrer Funktionstüchtigkeit zuverlässiger Fahrräder, durch unsere Tourenführung, das immer präsente Begleitfahrzeug und das tägliche gemeinsame „Training“ das uns Mögliche, damit das Radabenteuer Indien allen unseren Gästen weiterhin nur in positiver Erinnerung bleibt und wir alle stets unfallfrei ankommen.

Dennoch muss jedem Teilnehmer klar sein, dass er in Indien, wie zu Hause auch, ausschließlich auf eigenes Risiko mit den von uns bereitgestellten Fahrrädern unterwegs ist.

Diese lösen, wo immer wir auftauchen, ein Rieseninteresse sowohl bei den Kindern, aber auch bei den manchmal greisenhaften Wachleuten der Hotels aus. Bei jeder Pause sind die Räder umringt, werden Schaltungen und Klingeln getestet und oft in ihrer Position verändert. Deshalb heißt es vor dem Aufsteigen immer, die Schaltung zu prüfen, um stressfrei wieder ins Rollen zu kommen. Generell werden wir überall mit großem Hallo begrüßt und nach dem Namen, dem Woher und Wohin befragt. Auch sind wir es, die von den Indern viel häufiger fotografiert werden, als umgekehrt. Also immer gute Mine machen zum manchmal anstrengenden Spiel.

Amma

Mit der Ankunft in Chennai bekommt Indien, hier der Unionsstaat Tamil Nadu, für den westlichen Reisenden sofort ein Gesicht – das von Amma (Mutter). Bereits im Flughafen, dann beim Transfer ins Hotel und täglich während der einzelnen Radabschnitte erblicken wir immer überlebensgroß und meist stark verjüngt auf Plakaten und Bannern eine Frau, oft auch nur ihr Gesicht. In den elektronischen und Printmedien erscheint sie dann mehrmals täglich so, wie sie heute ist. Eine nicht mehr ganz junge und bestimmt nicht ganz schmale Frau. Es ist der ehemalige Bollywood-Filmstar namens Jayalalitha, seit einer gefühlten Ewigkeit – mit einer Unterbrechung – die Chief Ministerin (Ministerpräsidentin) des Unionsstaates Tamil Nadu. Ihr Talent aus dem Erstberuf hat sie in ihrer andauernden politischen Schaffensphase genutzt, um sich zunehmend als die unverzichtbare Landesmutter für alle Tamilen zu stilisieren.

Der westliche Ankömmling reibt sich verwundert die Augen ob des so unverhohlen zur Schau gestellten Personenkultes. Die Tamilen scheinen noch immer einer starken Führungsfigur zu huldigen und das ist seit Jahrzehnten eben diese Frau. Neben den Gottheiten scheint sie für einen großen Teil der Bevölkerung mindestens gleich wichtig. Wir sind an vielen hypermodernen Betrieben und so manchem beeindruckenden neuen Universitäts-Campus vorbei gefahren. Immer fanden wir neben der Namenstafel eine weitere, mindestens gleich große, die darauf hinwies, wann dieser Betrieb oder diese Einrichtung durch Amma eingeweiht wurde. Ganz nebenbei findet so eine immense Vergeudung materieller und finanzieller Mittel statt. Man riecht förmlich das Heer der Zehntausende von Speichelleckern und Krummbuckeln, die in vorauseilendem Gehorsam immer neue Blüten dieser traurigen Beweihräucherung zelebrieren. Da es ihr und ihrem Volk zu gefallen scheint, sollten wir es respektieren. Denn zumindest nehmen ihre Landeskinder von all dem zumindest keinen Schaden.

Obwohl des Tamilischen nicht mächtig, wissen wir nun, dass die Dame gerade 66 Jahre geworden ist. Zeit also für den nächsten Karriere-Schritt. Denn seit Udo Jürgens gilt ja, dass in diesem Alter das Leben erst so richtig beginnt. Daher wundert es nicht, dass sie hier im tiefen Süden der größten Demokratie der Welt in der gerade anlaufenden Aufwärmphase für die im April/Mai bevorstehen Wahlen zur Lok Sabha, dem mächtigen Unterhaus des indischen Zentralparlamentes, beginnen, politische Bündnisse aus der Taufe zu heben. Deren Ziel soll es sein, Amma auf den Sessel des Premierministers der nächsten indischen Zentralregierung zu hieven. Mit Unterstützung der verschiedenen kommunistischen Parteien und ihrer vermeintlichen politischen Brüder aus dem benachbarten Andhra Pradesh versuchen sie, ein Wahlbündnis links von der Mitte unter ihrer präsidialen Führung zu schmieden. Dies soll dann neben der eher zögerlich zur Wiederwahl antretenden Kongresspartei unter Rahul und seiner Mutter Sonia Gandhi sowie deren Opponenten von der hindu-nationalistischen BJP unter dem charismatischen Leute- und Stimmenfänger Modi, derzeit erfolgreicher und beliebter Chief Minister in Gujarat, eine Art dritte politische Kraft im Lande generieren. Bei einem – wohl eher nicht eintretenden – Patt der beiden großen etablierten Blöcke träumt man im Süden von der erwähnten Chance für Amma. Wir haben hier viele Leute auf der Strasse getroffen, die bei dem Gedanken leuchtende Augen hatten. Ihre zahlenmäßig weit stärkeren Brüder im Norden werden das mit ihrer derzeitigen Modi-Besoffenheit schon zu verhindern wissen…

Schade nur, dass ich die heiße Phase des Wahlkampfes dieses Mal nicht im Lande erleben werde. Es ist unglaublich, zu welcher Mobilisierung ihrer Anhänger die Inder in der Lage sind. Täglich finden dann entlang der Straßen auf staubigen Plätzen oder in den Cricket grounds gut besuchte, lange dauernde und vor allem lautstark in die Umgebung hinein strahlende Kundgebungen statt. Neben kilometerlangen Plakatierungen entlang der Straßen sind das eigentliche Highlight aber immer die mit nur hier möglichen Konstruktionen von Lautsprechern und Boxen bestückten LKWs und Auto-Rickshahs, die für eine gewisse Zeit den sonst schon unerträglichen Straßenlärm in eine andere Dimension katapultieren. Heerscharen sonst wohl arbeitsloser junger Männer verdingen sich als Parteisoldaten und haben für eine kurze Zeit mal eine Aufgabe, die sie wie besessen erfüllen.

Ganz nah dran und mittendrin

Bei unseren Touren durchs Land kommen wir den Einheimischen unvermeidlich immer wieder sehr nah. Auf dem Weg nach Thanjavore – die Tagesstrecke ist überschaubar und wir haben Zeit – beschließen wir kurzer Hand, die Fahrräder stehen zu lassen und mal zu Fuß durch das Dorf etwas abseits der Strasse zu schlendern. Kaum nähern wir uns dem ersten Haus, werden wir von einer Schar Kinder stürmisch in Empfang genommen. Hinter ihnen tritt ein junger Mann hervor und lädt uns herzlich ein, sein Haus zu betreten. Wir folgen ihm gern.

Da wir von der Wiese her und nicht über die Dorfstraße kommen, treten wir zunächst in einen kleinen aufgeräumten Hof, der übergangslos in die teils am, teils im Haus befindliche Küche übergeht. Eigentlich ist es nur ein einziger, vielleicht 20 qm kleiner Raum, in dem wir uns nun befinden. Abgeteilt sind die Küchenzelle und an der Seite sein „Office“, sein Arbeitsplatz mit Laptop und Internet-Zugang, den er als 26-jähriger IT-Ingenieur benötigt. Die Wände des Hauses sind einfach gemauert und teilweise unverputzt, der Fußboden aus kühlendem Lehm. Auch die einfache Dachkonstruktion, die wir schon in Pondicherry kennengelernt haben, tut das Ihre für ein angenehmes Klima im stets offenen, gut durchlüfteten Raum.

Dieser ist durch uns vier, unseren Gastgeber und einige Kinder bereits mehr als gut gefüllt. Kein Wunder, dass sich das Leben meist auf den einfachen Terrassen zur Straße oder zum Innenhof hin abspielt. Draußen sitzen mehrere Frauen, seine Schwester, eine Schwägerin und weitere Nachbarinnen, die sich von ihrem die Essensvorbereitungen begleitenden small talk durch unser Eintreffen nur kurz stören lassen. Er selbst beantwortet bereitwillig alle unsere Fragen. So erfahren wir, da wir keine Schlafräume oder Sanitärzellen entdecken können, dass die Familie abends einfach Matten ausrollt, auf welchen dann je nach Anwesenheit 7-9 Personen schlafen. Er selbst hat ein einfaches Bett direkt am Arbeitsplatz. Gewaschen wird sich entweder im Innenhof oder in einem Fluss in der Nähe. Die Notdurft verrichten sie wie seit Generationen im benachbarten Feld. Alle sind sehr gepflegt und sauber. Sie sind christlichen Glaubens und es herrscht in dieser späten Vormittagsstunde eine entspannte Stimmung. Wir haben nicht den Eindruck, dass es ihnen an etwas Wichtigem fehlt.

In der Zwischenzeit hat unser Gastgeber den Schlüssel für den Stolz des Dorfes, die kleine Kirche, besorgen lassen und wir wandern gemeinsam in einer Art kurzer Prozession dorthin. Sie ist überaus einfach gehalten und auf Basis von Spenden der etwa 70 Familien und deren Freunde entstanden. Auf dem weiteren Weg durchs Dorf begleitet uns der Schlüsselverwalter, de facto der dörfliche Stellvertreter des zuständigen Priesters, der 1-2 mal in der Woche zur Lesung der Messen aus Thanjavore hierher kommt. Im Gegensatz zu unserem sympathischen Gastgeber ist dieser ein eher unangenehmer älterer Herr, der sofort ein Klagelied über die vermeintliche Bedürftigkeit der hier Lebenden und die Notwendigkeit, sie zu unterstützen, anstimmt. Das scheint den anderen Anwohnern eher unangenehm zu sein, aber sie widersprechen ihm nicht öffentlich. Im kleinen Dorfladen kaufen wir für die anwesenden Kinder einige Süßigkeiten, die begeistert angenommen werden. Zum Abschied hinterlassen wir eine Spende für die Kirchgemeinde, für die der Älteste nicht dankt. Unklar bleibt, welche Verwendung sie finden wird. So machen wir uns beeindruckt, aber mit durchaus gemischten Gefühlen wieder auf den Weg.

Und dann kann man am Wegesrand auch erleben, wie sich ein zunächst interessanter Stopp in eine hoch professionell geführte Verkaufsveranstaltung drehen kann. So geschehen am Rande der Stadt Thanjavore, wo wir in einem so beworbenen Künstlerdorf Bronzegießern bei ihrem alten Handwerk zuschauen. Angefertigt wird vor unseren Augen der Rohling für ein bronzenes Abbild des Elefantengottes Ganesha. Auch mit viel gutem Willen fällt es uns schwer zu glauben, dass aus dem Ausgangsprodukt tatsächlich ein Exemplar, wie in der Vitrine ausgestellt, werden könnte. Als wir dann in einen Verkaufsraum geführt werden dämmert es in uns, dass diese doch recht primitiven Handwerker wohl nur ein netter Appetizer für den nun stattfindenden Verkauf der nicht unbedingt günstigen Statuen etc. sind.

Ähnliches passiert dem interessierten Reisenden z.B. auch beim Besuch einer vermeintlich historischen Weberei im Chettinad, die nur der Aufgalopp für den Verkauf von überteuerten Textilien darstellt, da die angebotene Vielfalt und Menge von Waren niemals an dem einen, wahrscheinlich auch nur während der Anwesenheit der Besucher betriebenen Webstuhl gefertigt sein kann. All die angebotenen Tücher, Tischdecken und Saris würde man in einer Einkaufsstraße oder auf den Märkten um vieles günstiger erwerben.

In den Western Ghats wachsen neben Tee und Kaffee alle Gewürze, die wir kennen. Daher ist es auch für uns ein Muss, an einer der Gewürzfarmen zu stoppen und uns auf verschlungenen Pfaden in diese wunderbare Welt einführen zu lassen. Hier erfahren wir vieles über die Nutzungsmöglichkeiten und gesundheitlichen Wirkungsweisen der angebauten Pflanzen. Nur haben wir gelernt, dass am Ende der meisten dieser Pfade ein Verkaufsraum mit erwartungsvollen und professionell geschulten Mitarbeitern auf uns wartet. Das muss kein Nachteil sein. Selten wird man Gewürze auf dieser Welt frischer erhalten als hier. Auch wenn die Preise dem Inder maßlos überteuert erscheinen, so sind sie doch für uns im Vergleich zu dem Preis-Leistungsverhältnis zu Hause geradezu lächerlich günstig.

Die Situationen im Kontakt zu den Indern und zur indischen Wirklichkeit sind also höchst unterschiedlich und meist erkenntnisreich. Wie immer im Leben ist es gut, wenn man ihnen offen begegnet, sie aber auch kritisch hinterfragt. Die uns begegnenden Inder halten es uns gegenüber genauso.

 

 

 

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