Von „gemütlich“ bis Corona

Im März 2020 sind wir unsere Tour „Zauberhafter Süden“ von Mumbai/Bombay über Goa hinunter nach Kerala bereits zum 15. mal gefahren. Und wieder hat sie sich zu einer ganz besonderen, mit Sicherheit unvergesslichen Tour für alle entwickelt, die dabei waren. Hoffentlich bleibt sie einmalig in allem, was mit dem Coronavirus und seinen Auswirkungen auf uns zu tun hat.

Angefangen hat sie mit einer traurigen Nachricht. Gerade in Bombay gelandet rief mich eine Radlerin noch aus Deutschland an um mir mitzuteilen, dass sie beim Tasche packen vom friedlichen Einschlafen ihrer Mutter erfuhr und augenblicklich alles umplanen mußte. Sie wird sicher in 2021 mit uns auf Tour gehen.

Schwierig gestaltete sich die Situation dadurch für Diana, die nun als einzige Frau unter lauter Kerlen eine bravouröse Leistung erbrachte. Auch wenn wir mit Josey immer gefühlt für sie da waren, konnten wir doch nicht durchgängig vermeiden, dass sie sich mitunter etwas verloren oder einsam fühlte. Unabhängig von der eigentlichen Radtour wurden wir durch diese Situation menschlich gefordert und sind im Ergebnis sicher alle ein Stück gewachsen.

Schon der traditionelle Einführungsspaziergang durch Colaba war dieses Mal auch für mich alten Hasen von einer seltenen Intensität. Gerade dem Flieger entstiegen braucht es nach dem Frischmachen im Garden Hotel nur wenige Schritte und wir sind auf dem Markt. Noch etwas weiter und wir werden von freundlichen Kinder eingeladen, mit Ihnen durch ihr Viertel zu schlendern. Nach kurzem Zögern willige ich ein, handelt es sich doch um das, was auch von den Kindern ganz selbstverständlich als ihr Slum bezeichnet wird.

Von "gemütlich" bis Corona

Auf engstem Raum leben und arbeiten hier, in Blickweite des mondänen Taj Palace Hotels und des Gateway of India, viele Tausend Menschen. Wir erleben äußerlich heruntergelebte, irgendwie aneinander gereihte und miteinander verbundene zunächst 2-3-stöckige Häuser, die zum Meer hin immer einfacher werden und oft nur noch bei uns Kopfschütteln hervorrufende Hütten aus Holz, Pappe und Plasteplanen sind. Traditionell sind unten alle nur möglichen Gewerke angesiedelt, die zum Broterwerb dienen und die für das Leben in diesem Mikrokosmos unabdingbar sind. Von hier führen, Hühnerleitern ähnelnd, steile Treppen in die „Wohnbereiche“. Die sanitären Bedingungen sind für uns Westler schwer zu akzeptieren. Es gibt eine Wasserleitung der Stadtwerke, die an einigen Entnahmepunkten zu den Anwohnern bekannten Zeiten Wasser spendet, oder auch nicht. Dann kommt ein Truck und alle mit ihren Plastegefäßen, um das Naß in ihre Behausungen zu tragen. Trinkwasser ist das nicht. Inzwischen gibt es an zwei Punkten nach Geschlechtern getrennte Waschhäuser, in denen auch einige Toiletten untergebracht sind. Traditionell wird die Notdurft wie seit Jahrtausenden am Meer verrichtet und die Gezeiten dienen als „Spülung“.

Die Mädchen führen uns durch immer engere Gassen in Richtung Meer. Uns werden, wie wir finden, beschämende Einblicke gewährt in saubere Privatbereiche immer freundlicher, mit sich selbst und in ihrer Gemeinschaft offenbar zufriedener Menschen, die uns nachdenklich stimmen. Wieviel Platz und was überhaupt braucht der Mensch, um ein glückliches Leben zu führen? Wir im Westen sollten vielleicht unser ausuferndes materielles Anspruchsdenken kritisch hinterfragen, solange es noch Zeit dafür ist.

Aber die Stadtverwaltung von Mumbai sieht das anders. Sie folgt einstweilen dem westlichen Heilsweg. Genau wie in anderen indischen Megacities gibt es auch hier großangelegte Projekte gegen den Willen vieler hier lebender Menschen zur Beseitigung dieser traditionellen Wohnformen. An deren Stelle treten überall gesichtslose, oft 30-geschossige und noch höhere Appartementsilos, die wohl die hygienischen Bedingungen verbessern, dies jedoch auf Kosten der gewachsenen sozialen Netze und des so wichtigen Miteinanders der hier Lebenden. Kompromisslösungen scheinen nicht in Sicht.

Auch an anderer Stelle erleben wir, wie die Behörden den Jahrzehnte währenden Dornröschenschlaf beendet haben und nun riesige Infrastrukturprojekte vorantreiben, wie das neue Metro-Netz oder die Verlängerung des in die arabische See gebauten Sealink, einer bald 8-spurigen Autobahn bis hinunter an die Südspitze nach Colaba.

Wo viel Neues entsteht, rückt Bekanntes in den Hintergrund oder verschwindet wohl bald. Wir erleben dies bei der berühmten Haji Ali Moschee, die zwar eine wichtige Pilgerstätte für die Moslems bleiben wird, aber optisch ihre einmalige Insellage im arabischen Meer verliert, da sie durch die Verlängerung der Autobahn unter dieser quasi unsichtbar wird. Ähnliches steht wohl einem anderen Juwel, den berühmten Dhobi Ghats, der größten „Waschmaschine“ von Bombay bevor. Zum einen wird die ungesunde und anstrengende Tätigkeit der Wäscher in ihren Bottichen zunehmend durch moderne Großwäschereien ersetzt und zum anderen sind in den letzten 5 Jahren Dutzende Appartment-Türme immer näher an das Areal gewachsen. So ist es wohl keine zu gewagte Wette zu prophezeien, dass die Tage der Dhobis hier gezählt sind, auch wenn man das als Tourist bedauern mag.

Dies trifft garantiert nicht auf Mumbais berühmtesten Bahnhof zu, den mit dem Titel des UNESCO-Weltkulturerbes versehenen Victoria Terminus oder neu CST. Wie immer nutzen wir ihn als Ausgangspunkt für unsere Bahnfahrt nach Goa, wie immer sind wir begeistert von der verschwenderischen Bauweise des Gebäudes, besonders der kathedralenhaften Schalterhalle wie auch vom nicht endenden Gewusel auf den Bahnsteigen und in den anderen großen Hallen.

In Goa treffen wir dann endlich meinen langjährigen Partner Josey, können die Leihräder in Besitz nehmen und sie entsprechend unseren individuellen Maßen und Möglichkeiten zumindest ein Stück weit daran anpassen. Das ist für alle immer ein spannender Moment, prallen hier doch mit Sicherheit erstmals die indische und die westliche Mentalität in Fragen Fahrrad, dessen Pflege und Nutzung etc. aufeinander, besonders wenn Süddeutsche und Schweizer mit in der Gruppe sind. Natürlich war es auch dieses Mal wieder so.

Natürlich waren trotz aller Erfahrung, die Josey inzwischen hat, auch heuer nicht alle Räder so vom Mechaniker vorbereitet, wie ich und die Gäste das erwarten und natürlich gab es unnötigen Stress für ihn bei der notwendigen kurzfristigen Korrektur einiger Mängel. Offensichtlich braucht er das. Immerhin hat Andreas mit viel Fingerspitzengefühl Josey einiges Wissen vermittelt. Danke dafür und hoffentlich ist es am Jahresende noch präsent, wenn wir uns wieder in die Sättel schwingen wollen.

Immerhin sind wir bis auf einige „obligatorische“ Reifenpannen ohne Stürze, Schrammen und technische Defekte gut am Tourende in den Backwaters angekommen. Der mitunter raue Untergrund lockerte immer wieder Schraubverbindungen, so dass mein Multitool beinahe täglich zum Einsatz kam. Aber dafür habe ich es ja stets dabei.

Das Radeln selbst war abwechslungsreich wie immer und in Verbindung mit den in der Tagesmitte erheblich zunehmenden Temperaturen auch körperlich fordernd. Das Einrollen am langen Sandstrand von Colva hat natürlich allen wieder zugesagt, aber auch die Passagen durch den Wald von Cortigao in Goa und hinauf nach Sringeri und Hassan sind immer wieder radlerische Leckerbissen. Wegen massiver Arbeiten zur Erweiterung der Straße nach Mysore haben wir von Hassan erstmals eine neue Route weiter östlich durch die Dörfer nach Srirangapatna, der Stadt des legendären Tipu Sultan, befahren und dabei hier wie andernorts viel traditionelles Leben genossen.

Wir haben Bauern bei der Ingwer-Ernte getroffen, wir haben selbst erlebt, wie mühsam die Vorbereitung der Reisfelder mit Ochsengespannen und das Setzen der jungen Reispflanzen von Hand ist. Wir wissen nun, wie man auf traditionelle Weise aus Zuckerrohr Saft gewinnt und diesen dann langsam in riesigen Pfannen zu Jaggery (Melasse) einkocht. Zwar war die Baumwollernte in der Region vorbei und die Büsche begannen gerade, neu auszutreiben, jedoch wissen wir nun, dass es auch imposante Cotton Trees, also Bäume gibt, aus deren reifen Kapseln die Einheimischen die weiße watteähnliche Masse zum Füllen ihrer Kissen nutzen. Wir haben frischen Pfeffer und Kardamom probiert, den betörenden Duft der Kaffeeblüte noch in der Nase und auch die Herstellung des klassischen starken indischen Tees in einer museumsreifen tamilischen Fabrik gesehen.

Wir wissen nun, weil wir es selbst ganz aus der Nähe beobachtet haben, dass auch mal eine Herde wilder Elefantendamen mit Nachwuchs durch die Teeplantagen wandert. Und wie prachtvoll der vorher hundertfach gesehene Nationalvogel Indiens, der stolze Pfau gerade in der Balz mit seinen schillernden Schwanzfedern auftritt. Und welch ohrenbetäubenden Lärm sowohl die kleinen Spatzen, als auch die imposanten, weil um vieles größeren Flughunde in ihren Schlafbäumen veranstalten, um sich die besten Plätze zu sichern. Und vieles, vieles mehr.

Und wir haben eines Abends schon in der zweiten Tourenhälfte eine Situation, die sich in der Folge zum Running Gag entwickelt. Als ich unsere Gruppe nach so manchem sehr einfachen Lokal, oft am Straßenrand, am Abend in ein neu eröffnetes, tief herunter gekühltes, relativ steriles und mit jungem Publikum gut besetztes Restaurant führe, entgegnet Andreas spontan, dass ihm dies zu ungemütlich sei. Ich bin im ersten Moment irritiert, dachte ich doch, meinen Gästen nach all den Herausforderungen der indischen Alltagsverpflegung mal etwas besonderes zu bieten. Okay, sage ich, gehen wir halt woanders hin, mache auf der Stelle kehrt und lasse keine Diskussion zu, was wiederum die anderen nicht unbedingt toll, ja unfair finden.

Am Abend muß ich über die Situation schmunzeln und entschuldige mich am nächsten Morgen für meine emotionale Reaktion. Es entspinnt sich eine Debatte darüber, was hier in Indien denn für uns gemütlich sein kann.

Für die Inder wie andere Asiaten auch geht es beim Essen nicht vordergründig um Genuss, sondern um die oft sehr schnelle Aufnahme von Nahrung, hier im Süden immer ohne Besteck. Das Lokal, Hotel genannt, ist oft – nach unseren Maßstäben – schmuddelig und das „Ambiente“ für die Einheimischen völlig unerheblich. Hauptsache sie sind schnell und günstig gesättigt. Von daher war ich von Andreas Bemerkung zunächst völlig überfordert. In der Folge haben wir dann mit großer Erheiterung unsere Essensorte auch immer unter dem Kriterium der „Gemütlichkeit“ bewertet…

Wie immer führt diese Tour durch fünf indische Unionsstaaten. Von Mumbai in Maharashtra fahren wir über Goa, Karnataka und einen nördlich Zipfel von Tamil Nadu in der dritten Woche aus den Bergen der Western Ghats hinunter nach Kerala, Gottes eigenem Land, wie sie es unbescheiden in ihrer Tourismuswerbung nennen. Wie immer freue ich mich auf Kerala, da es inzwischen so etwas wie eine zweite Heimat mit vielen guten Freunden für mich geworden ist.

Es ist Mittwoch, der 11. März, als wir hinunter nach Nilambur fahren. Es ist dies der Tag, an dem die indische Regierung im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus mit sofortiger Wirkung die Einreise von deutschen, französischen und spanischen Bürgern nach Indien untersagt und auch bisher genehmigte Visa suspendiert. Wer wie wir schon im Lande ist, darf zunächst bleiben. Wenige Tage später, am Montag, den 16. März werden mit gleicher Absicht alle touristischen Aktivitäten untersagt. Es ist dies unser letzter Radfahrtag hin zum Haus von Josey, in den malerischen Kerala Backwaters gelegen. Wir absolvieren ihn noch komplett, erleben aber auf der Strecke ein Wechselbad der Gefühle.

Die ländliche Bevölkerung ist verunsichert wegen eines in den Medien breit diskutierten Vorfalls mit einem Italiener, der völlig unverantwortlich nachweislich in einem Distrikt eine Reihe von Virusinfektionen verursacht hat. Dies führt seit Nilambur dazu, das wir oft im Vorbeifahren das „Schimpf“Wort Corona hören. Wir sind für sie klar eine Gefahr, die Ansteckung mit dem Virus verheißt. Kinder, die sonst immer auf uns zukommen und sich besonders für unsere Räder interessieren, laufen vor uns weg. Handwerker, die uns sonst geduldig zuschauen lassen und ihr Tun erklären, bedeuten uns weiter zu fahren oder schließen einfach Tür und Tor, wenn sie uns sehen.

Ab Montag wird es dann kritisch. Bei einem Teestopp auf dem Lande werden wir von einem örtlichen Polizisten beobachtet und unser weiterer Weg nach Alleppey wird von vielen Augen akribisch verfolgt und telefonisch an wen auch immer kommuniziert. In der Stadt besucht Josey nochmals die zuständige Gesundheitsbehörde, der bereits alle Daten über uns, unser Einreisedatum und unseren genauen Tourenverlauf vorliegen. Daraus ist selbst nach deren Auffassung bis Sonntag klar gewesen, dass wir gesund sind, da wir lange vor dem Stichtag in Indien eingereist sind und keinerlei Symptome aufweisen. Außerdem habe wir angeboten, uns in einem Krankenhaus testen zu lassen, um dies zu bestätigen.

Über Nacht ändert sich die Auffassung der lokalen Behörde, die nun mit sofortiger Wirkung eine 14-tägige Quarantäne für uns und auch Josey verhängt, da er ja die ganze Zeit eng mit uns unterwegs war. Sachlich hat sich zwar nichts geändert, aber aus offensichtlicher Angst, einen Fehler zu begehen, reagieren sie völlig unverhältnismäßig und gefährden damit den geplanten Abschluss unserer Tour.

Um der Quarantäne zu entgehen kehren wir nach Rücksprache mit unserer Freundin Usha noch am Nachmittag in deren Homestay nach Fort Cochin zurück. Hier, wo der Tourismus die Haupteinnahmequelle vieler Bürger ist, sind die Behörden bemüht, uns zu unterstützen und die Stimmung ist weiterhin unaufgeregt. Wir können unsere Rückflüge zum frühestmöglichen Termin umzubuchen. Letztlich reisen wir planmäßig aus und hoffen, ohne Infektion durch den langen Interkontinentalflug und den Aufenthalt auf diversen großen Flughäfen in die Heimat zu gelangen. Das wird sich in der folgenden zweiwöchigen häuslichen Quarantäne zeigen, der sich alle von uns unmittelbar nach ihrem Eintreffen zu Hause unterziehen.

Möge der Virus keinen zu großen Schaden anrichten und weltweit bald abklingen, damit wir wie geplant im November auf dieser und anderen beeindruckenden Routen wieder in Indien unterwegs sein können!

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