Indische Frauenbilder 2018

Beim Eingewöhnungs- Spaziergang während unserer jüngsten Radtour im März nehmen meine Gäste im beeindruckenden Bombayer Bahnhof CST irritiert separate Warteräume nur für Frauen wahr. Beim Ticketkauf im Kino oder Nahverkehr gibt es durch Eisenbarrieren getrennte Schlangen für Männer und Frauen. In Kirchen, Moscheen und Tempeln wird strikt nach Geschlechtern getrennt gebetet oder auch auf die Verrichtung religiöser Handlungen gewartet. Und, und, und…

Ende März berichten die Medien in Kerala unter Überschriften wie „Familienoberhaupt ist der Mann – Frauen wählen die Unterordnung“ oder „Provokative Kleidung erhöht Risiko einer Vergewaltigung“ über die Vorstellung einer repräsentativen Befragung eines Institutes unter 60.000 Frauen (über 18 Jahre alt) quer durch den seit der Staatsgründung über 50 Jahre lang von demokratisch gewählten Kommunisten regierten Unionsstaat. Ein halbes Jahrhundert, nachdem im Staat Programme erstellt und Versprechungen abgegeben wurden, die die Gleichstellung der Frauen im gesellschaftlichen und privaten Leben zum Ziel hatten, sei es Zeit für die bittere Wahrheit. Diese liege in den Antworten der befragten Frauen zu den sie besonders betreffenden Fragen.

Für zwei Drittel der befragten Frauen ist der Mann noch immer uneingeschränktes Familienoberhaupt, dessen Entscheidungen zu akzeptieren sind, dem man zu folgen habe, auch wenn seine Entscheidungen falsch seien. Geldangelegenheiten verwalte er. Sollte die Frau eigene Einkünfte haben, so werden diese dem Ehemann übergeben.

Weit über die Hälfte der Frauen glaubt, dass sie mit ihrem Mann leben müssen trotz Streites und Auseinandersetzungen, für die sie keine Verantwortung tragen. 25% der Frauen äußerten, dass sie dem Drängen ihres Gatten nach erzwungenem Sex nachzugeben haben. Noch immer mehr als 20% glauben, dass ihr Mann das Recht zur Disziplinierung bis hin zu körperlicher Züchtigung (auch der gemeinsamen Kinder) besitze. Hinzu kommt, dass fast zwei Drittel davon ausgehen, dass provokative Kleidung ihr Risiko erhöhe, Opfer einer Vergewaltigung zu werden.

Auf Basis dieser Umfrage wird die Linke Staatsregierung wieder einmal Projekte zur weiteren Verbesserung der Sicherheit von Frauen und Kindern definieren und deren Umsetzung durch lokalen Verwaltungsorgane überwachen lassen. Man darf skeptisch sein, dass sich so die lange herbei geredeten Veränderungen auch einstellen werden.

Aktivisten unterstreichen, dass die Umfrage die tiefe Verwurzelung patriarchalischen Denkens in weiten Teilen der ländlichen wie auch städtischen Bevölkerung Keralas widerspiegele. Das Patriarchat sei seit Jahrhunderten unverändert in der Gesellschaft und auch bei vielen Frauen verankert. Ziel der modernen Gesellschaft müsse es sein, eine stärkeres Bewusstsein für die aufgezeigten Missstände zu entwickeln. Dazu sei ein Generationen übergreifendes Langzeitprogramm nötig.

Am vorletzten Tag unserer Tour bieten wir traditionell einen Kochkurs an, den Lisa, die Gattin meines Partners durchführt. Aufgrund von Modernisierungsmassnahmen in seinem Haus sollte er in Lisa’s Elternhaus stattfinden. Josey fand Gründe, dies zu verhindern, wie er auch oft ohne jeden Grund verhindert, dass sie ihre Eltern im nahe gelegenen Nachbarort besucht. Lisa ist, obwohl mit einem exzellenten Studienabschluss ausgestattet, seit dem Tage ihrer arrangierten Eheschließung zu einer ganz durchschnittlichen indischen Ehefrau geworden. Wann immer diese das Haus ihres Mannes und ihrer Schwiegereltern auch nur kurzzeitig für Besorgungen, Arztbesuche etc. verlassen möchte, so hat sie ihn um Erlaubnis zu bitten. Diese wird bei weitem nicht immer gewährt.

Meist verfügt sie über kein eigenes Einkommen. Erwirtschaftet sie wie Lisa durch ihre Kochkurse Einkommen, so fließt dieses in das vom Mann verwaltete Familienbudget. Außer der nicht aufgebrauchten Mitgift verfügt sie meist über kein Kapital und muß selbst bei kleinsten Ausgaben für den Haushalt ihren Mann um Geld bitten.Ihre Aufgaben sind sehr klar. Sie hat zu kochen, sich um die Erziehung der Kinder zu kümmern, das Haus und die Wäsche in Ordnung zu halten. Sie hat ihrem Mann widerspruchslos zu folgen. Bei Nichtgefallen wird sie kritisiert, oft angebrüllt, sicher wird sie mitunter auch geschlagen.

Es handelt sich hier nicht nur um bildungsferne Schichten, sondern genauso um bestens ausgebildete Angehörige der wohlhabenden Oberschicht im südlichen Indien. In weiten Teilen des Nordens, besonders in den weitläufigen ländlichen Gebieten sieht es wohl eher noch düsterer aus. Insofern bestätigen die Aussagen aus der Umfrage exakt meine eigenen Erfahrungen als immer willkommener, da erheblich zum Einkommen beitragender Gast der Familie, dem aufgrund seiner Nähe leider auch die Abgründe des familiären und ehelichen Zusammenlebens nicht entgehen können.

Meine Gäste, denen ich diese Erfahrungen ungefiltert zumute, sind schockiert und wollen dies zunächst nicht glauben, zumal diese Seite des Alltages für Besucher aus dem Westen hinter einer freundlichen Fassade des Lächelns verborgen wird. Aber Lisa’s und Joseys Töchter werden – wie die Mehrheit der heranwachsenden Frauen – den alten Traditionen nicht mehr so ohne weiteres folgen. Es mag noch ein bis zwei Generationen dauern, aber auch auf dem Subkontinent sind die zunehmend bestens ausgebildeten Frauen selbstbewusst dabei, das Patriarchat zu brechen und gleichberechtigt ihre Rolle im Leben wahrzunehmen.

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