Kulturschock garantiert!

Morgendliche Radeltour durch das erwachende Alt-Delhi

 

Alt Delhi – wie oft war ich wohl hier? Ungezählte Male sicher in den 1980er Jahren, aber nie früh am Morgen und schon gar nicht mit dem Fahrrad. Da sind wir in der mondänen Diplomaten-Vorstadt Chanakyapuri sanft in den Tag geglitten oder ich war mit dem frühen Zeitungs-Studium beschäftigt. Im August 2017, heftig vom Monsun geschwängert, habe ich  einige deutsche Radel-Enthusiasten dabei, die vor dem Abenteuer des Weges vom alpinen Manali ins ladakhische Leh auch noch die alte nordindischen Metropole aus dem Sattel heraus erkunden wollen. Das geht, wie ich inzwischen weiß, dank der überaus freundlichen und professionellen Unterstützung eines Start-Ups namens „Delhi-by-Cycle“. Diese Radfreaks bringen den in- und ausländischen Gästen, die sich trauen, morgens von 06:30 Uhr bis ca. 10:00 Uhr verschiedene Seiten der erwachenden indischen Metropole, sei es Alt- oder auch Neu-Delhi nahe.

Wir treffen uns also am für die meisten gerade einmal zweiten Tag weg von der Heimat morgens um 06:00 Uhr in der Lobby unseres im Stadteil Pahar Ganj zentral gelegenen Hotels Godwin Deluxe nahe der Bahn-Station Neu-Delhi. Tatsächlich ist es zu dieser frühen Stunde so, wie von den freundlichen Herren am Empfang am Vorabend exakt beschrieben. Nicht nur, dass wir auf ihren Rat hin kein Taxi für den Transfer vorbestellt haben. Vor dem Eingang entbrennt unter den Tuk-Tuk-Fahrern ein wahrer Wettstreit, wer uns denn zum Startpunkt nahe des berühmten Delite Cinemas in der Asaf Ali Road in Alt Delhi kutschieren sollte. Jedoch zu für mich nicht akzeptablen Preisen. Also wandern wir zunächst einige Meter in Richtung Bahnhof. Binnen weniger als zwei Minuten haben sich auf wundersame Weise die geforderten und letztlich von mir akzeptierten Preise für die kurze Passage mehr als halbiert. Wir steigen also ein und sind pünktlich vor Ort. Ein Einheimischer, der sofort weiß, was wir hier wollen, geleitet uns per Gesten zu dem etwas versteckten Sammelpunkt der auffällig orange lackierten Fahrräder.

Schon stellt sich mir eine über das gesamte Gesicht strahlende junge Frau vor. Sie heiße Tulsi und freue sich, uns heute morgen auf unserer Tour durch Alt-Delhi führen zu dürfen. Sie empfiehlt uns, zunächst noch einen Chai, den hier so typischen starken, oft übersüßen Milchtee hinter der Taxi-Garage einzunehmen. Dann soll es auch losgehen. Wir machen, wie von ihr empfohlen. Die meisten von uns holen sich in den riesigen Monsun-Pfützen nasse Füße. Der Tee schmeckt dafür himmlisch, außerdem wird es bereits jetzt langsam schwül warm – unglaublich.

Dann übernehmen wir die echt robusten Fahrräder. Die sind tipptopp in Schuss, herausragendes Merkmal ist die überdimensionierte Klingel. Wir lernen von Beginn unserer Tour zu schätzen, warum das so ist. Noch vor der Bremse ist sie, die laute Klingel es, die uns sicher den Weg durch das Gewimmel Alt-Delhis bahnt.

Nach der Querung der Asaf Ali Road erleben wir einen ersten Test. Es geht direkt durch die zu dieser Zeit unter Strömen frischen Blutes stehende Butchers Lane, die Fleischer- o. Metzger-Gasse also. Scheue oder auch interessierte Blicke in die Kojen gleichenden kleinen Geschäfte links und rechts des Weges bieten alles, was wir heute in der westlichen Gesellschaft vom Übergang der lebenden Bestie zum portioniert in Plasteschalen und mit Folie sauber verpackten Fleischstücken nicht mehr kennen. Die irgendwo hängenden ausgenommenen halben Rinder oder ganzen Ziegen weichen nicht von dem ab, was ich von meinem türkischen Metzger in Bergisch Gladbach kenne. Außer, dass die Temperatur hier auch in dieser frühen Morgenstunde schon langsam die 30 Grad anvisiert. Spannender ist der Blick in die bluttriefenden großen Metall-Pfannen, die auf kleinen Rädern unter lautem Geschrei von jeweils mehreren blut- und fettverschmierten, übel riechenden Kerlen durch die Gasse geschoben werden. In manchen schwimmen die noch warmen Felle, in anderen sind die wertvollsten Teile der Schlachtung, die Innereien, separiert. Ich als Liebhaber letzterer genieße die Passage. Ich glaube, dass nicht alle in unserer Gruppe meine Gefühle teilen.

Weiter geht es alsdann durch die unglaublich engen Gassen der Altstadt. Wir lernen ganz schnell, unsere Klingeln zu schätzen, sind irritiert ob der von oben bedenklich durchhängenden Stromleitungen und wagen immer mal wieder einen scheuen Blick in die noch engeren Gassen nach rechts und links. Unglaublich das alles! Im Gegensatz zu uns, die wir das alles nur mit mindestens 120 % Konzentration bewältigen, bewegen sich die Einheimischen gelassen, freundlich und mit den Nachbarn im Vorbeigehen plaudernd durch ihr Universum. Unvorstellbar für uns, dass das jetzt das entspannte Morgenerwachen ist. Keiner möchte daran denken, wie das erst später am Tage hier zugehen soll.

Zum Glück führt uns Tulsi bald erstmals aus dem Gewirr. Nur müssen wir nun eine pulsierende Hauptstraße queren, um dann ihren Ausführungen vor dem imposanten Red Fort lauschen zu können, welches gerade für die Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens am 15. August prächtig herausstaffiert wird. Auch üben die Sicherheitsleute und alle möglichen Schüler und Studenten für ihren großen Auftritt vor den Augen der Nation. Egal, wir können erst einmal durchschnaufen und einige Fotos machen. Auch erfahre ich von Tulsi, dass sie hauptberuflich als Innenarchitektin arbeitet und eigentlich aus dem nordöstlichen Unionsstaat Manipur kommt. Man sieht ihr aber auch deutlich an, dass sie keine „Inderin“ ist, zu deutlich treten ihre schönen Thai-burmesischen Züge hervor. Nicht umsonst gelten die Menschen aus dem Nordosten als die hübschesten der Nation. Sie gehört mit Sicherheit dazu.

Vom Fort geht es weiter hinunter zum Yamuna-Fluss, einem Highlight jeder Delhi-Tour, befinden sich hier doch viele heilige hinduistische Tempel und Verbrennungsstellen für ihre Verstorbenen. Auch heute vernehmen wir in der Nachbarschaft nicht abreißende religiöse Gesänge. Mehr lässt der durch die Monsunregen extrem stark angeschwollenen Fluss aber nicht zu. Die Ghats sind komplett überschwemmt. Das hat auch sein Gutes, sieht man doch nicht den sonst üblichen Dreck. Tulsi erzählt uns ungeschminkt einiges aus ihrem eigenen Erleben als Freiwillige, die schon an Reinigungsmaßnahmen der Yamuna beteiligt war. Alles sei verpufft und Delhi so dreckig wie eh und je, nur dass der Monsun nun einiges übertünche..

Weiter geht es vorbei an einer anglikanischen Kirche zurück ins Getümmel. Und das wird zunehmend dichter, nähern wir uns doch von der Rückseite dem Bahnhof von Alt-Delhi. In dieser Gegend warten Tausende von Tagelöhnern auf kleine Jobs. Dem gerade Zugereisten ist diese zunehmende Menschendichte nicht immer geheuer, zum Glück haben wir eine Klingel am Lenker und können uns so unseren Weg bahnen.

Bald sind wir auf der Hauptverkehrsader der alten Stadt, dem Chandni Chowk in unmittelbarer Nähe eines, irgendeinem wohl wichtigen Sikh-Guru geweihten, prächtigen massive mit  Gold geschmückten Tempels. Imposanter noch als der Tempel ist das , was sich auf der gegenüber liegenden Seite der Straße über mehrere Hundert Meter vollzieht, nämlich die morgendliche Speisung von Obdachlosen durch die wohlhabende Sikh-Gemeinschaft. Tausende sichtbar nicht gut Situierte sitzen geduldig an der Bordsteinkante und empfangen von einem Pick up ein durchaus kräftigendes Frühstück durch Abgesandte der Sikh-Gemeinschaft. Beide Seiten scheinen damit im Reinen zu sein, mir selbst kommen bei all dem Gutmenschentum der sichtbar reichen Sikhs gegenüber den sichtbar nicht wohlhabenden Wesen auf dem Bürgersteig nicht nur gute Gedanken. Incredible India!

Viel Zeit bleibt mir nicht. Schon sind wir an einer der angeblich angesagtesten Adressen Old Delhis, dem Restaurant  „Karim’s“, wo wir in einer von Touristen sicher nicht auffindbaren Abzweigung in ein gar nicht kleines Restaurant zu einem üppigen Frühstück stoppen. Das über Nacht g
egarte Lamm in ofenfrischen Fladenbrot ist hier der Klassiker, den wir natürlich mitnehmen. Lecker, aber maharajahaft schwer. Was haben die früher bloß nach dem Frühstück gemacht?

Wir schwingen uns, noch die Antwort suchend, wieder auf’s Rad und sind nach einigem Gebimmel gleich an der größten aller Moscheen Indiens, der Jama Masjid oder Freitagsmoschee, am Gate No. 9, um mal eine Vorstellung zu erhalten. Auch hier wird überall kräftig gefuttert. Nach dem 2. Gebet des Tages ist das wohl alle mal nötig.

Es wird zunehmend wärmer und Zeit für den Endspurt. Durch eines der alten Stadttore geht es durch ein für uns bisher nicht vorstellbares Gewühl unfallfrei zurück zum morgendlichen Ausgangspunkt der Tour. Alle sind wir begeistert, sicher auch erleichtert und ich Willens, mit künftigen Gästen diese imposante Runde unbedingt zu wiederholen. Seien Sie doch beim nächsten Mal dabei!

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