Die Abreise

 (Kommt Ihnen das bekannt vor?)

Lange drauf gefreut auf diese Reise, schließlich ein ganzes Jahr daraufhin gearbeitet, alles gründlich geplant, alle Sachen rechtzeitig rausgelegt. Und dann komme ich doch nicht vom PC los, muss noch dies und jenes unbedingt erledigt werden, kann einfach nicht warten. Schließlich bin ich über zwei Monate weg und bei allen Fortschritten in Indien bleibt die Verfügbarkeit von schnellen Internetzugängen noch immer mehr Wunsch als Wirklichkeit.

Also sehen wir die S-Bahn zum ICE nach Köln-Deutz gerade noch abfahren und mein Schatz muss mich im beginnenden Feierabendverkehr selbst dorthin chauffieren, was selbstredend in einer so langjährigen Beziehung wie der unseren zum einen oder anderen nicht druckreifen Dialog führt, unterbrochen nur von eisigem Schweigen zwischendurch.

Wir erreichen den gerade in umfangreichen Renovierungen und daher mit unbekannten (Aha!)Teilabsperrungen belasteteten Bahnhofsvorplatz zwei Minuten vor der geplanten Abfahrtszeit des Zuges. An eine Verabschiedung ist nicht zu denken. Ich hetze mit meinem nicht unerheblichen, nicht mit Rollen ausgestatteten Gepäck – ich bin Radfahrer, oder doch mehr Transportesel für meinen indischen Partner? -zum Bahnsteig. Und ich höre die vertraute Ansage „Die geplante Abfahrtzeit des ICE…nach München mit Halt in Frankfurt-Flughafen verzögert sich um ca. 10 min…“ Auf die Bahn ist eben Verlass!

Dann geht es in schier unglaublichen 41 Minuten von Köln-Deutz in einem rasanten Ritt durch Westerwald und Taunus Nonstop zum Frankfurter Flughafen.

Auf die Bahn ist eben doch Verlass!

Wieder schultere ich mein Gepäck und merke an den zunehmenden Schmerzen mal rechts, mal links die von mir unterschätzte Länge des Überganges bis zur Rolltreppe. Nach kurzem Verschnaufen auf selbiger gehe ich nur wenige Schritte bis zum komplett leeren Air India Check-In und halte nach weniger als einer Minute in den nun freien Händen meine Bordkarten für den Flug nach Delhi, als auch für den Weiterflug nach Chennai/Madras.

Seit der „Flucht“ aus Köln und dem Nichtabschied von meinem Schatz ist noch nicht mal eine Stunde vergangen. Ich melde mich kurz bei ihr. Sie ist noch immer auf dem Heimweg, aber inzwischen wieder entspannter und wünscht mir zumindest einen guten Flug und eine schöne Zeit.

Diese beginne ich sogleich mit einem mir über die Jahre lieb gewordenen Ritual. In einem der viel zu wenigen Restaurants im Abflugbereich gönne ich mir ein vorerst letztes Weißbier, obwohl ich stets rätsele, wie die beeindruckende Höhe des Preises mit der Aufforderung, diesen in Euro zu begleichen, korrespondieren kann? Vielleicht liegt es auch am geringen Wettbewerb hier?

Egal, ich kann’s nicht ändern – die Kellner auch nicht – und ich beginne ein weiteres Ritual: Leute beobachten.

Zunächst ein nicht mehr ganz frisches italienisches Paar. Angesichts des Speisenangebotes scheinen sie ziemlich ratlos, welches die aus ihrer Sicht am wenigsten miserable Wahl sein könnte und benötigen bis zur Entscheidung gefühlte 10 Minuten, ausgefüllt mit einer leidenschaftlichen, teilweise alles andere als leisen Debatte. Schließlich teilen sich beide eine Pizza. Sie nimmt dazu ein Glas Roten, er eine Cola light. Ihre Mimik beim versuchten Genuss der gewählten Highlights deutscher Flughafengastronomie lässt nur zu gut erahnen, wie sehr sie sich schon wünschten, endlich in bella Italia zu sein.

Alsdann setzen sich zwei junge Inder an den Nachbartisch, Studenten scheint es. So werde ich wohl trotz des leeren Check-In-Schalters doch nicht ganz allein fliegen.

Ihre Getränkewahl ist mit der meinen identisch. Dazu gönnen sie sich jeder ein Paar Weißwürste mit einer pappigen Brezel. Kurz nach 19:00 Uhr würde diese Wahl bei jedem bodenständigen Bajuwaren nur das kalte Grausen hervorrufen, aber meine potenziellen Mitflieger haben sichtlich Spaß an ihrer Wahl. Es bleibt auch nicht bei nur einem Weißbier… Erheiternd für den Beobachter gestaltet sich der Umgang eines der beiden Männer, offensichtlich aus dem Süden Indiens stammend, mit den bereit gestellten Esswerkzeugen. Er ist schlichtweg überfordert beim „Zutzeln“ mit Messer und Gabel, bricht unter dem Gelächter seines Freundes den x-ten Versuch endlich ab und nimmt die Wurst in die rechte (reine) Hand und verspeist sie komplett mit der Haut und, was wichtiger und letztlich entscheidend ist, mit offensichtlichem Genuss. Genauso, wie er es in der Heimat auch macht, nur dass die Wurst auf dem Teller dort durch eine Dosa auf dem Bananenblatt ersetzt wird.

Ich will schon aufbrechen, da füllt lautstark eine Gruppe männlicher, offensichtlich chinesischer Geschäftsreisender den Raum. Hocherfreut nehmen sie das Tagesangebot einer Nudelsuppe an und vertilgen, da die Portionen eher dem Bedarf eines Vorschulkindes entsprechen, wohl jeder mindestens zwei und leeren dabei den Kessel komplett – sicher zur Freude des Kochs und der Geschäftsführung.  Sie machen sich, auch für mich verständlich, über das Fehlen der gewohnten Stäbchen lustig, kommen aber gut mit den auch aus der Heimat vertrauten Löffeln zurecht. Unter genussvollem lautem Schlürfen erledigen sie in Windeseile ihre Nahrungsaufnahme. Die Blicke westlicher Gäste an den Nachbartischen lassen sich irgendwo zwischen Unverständnis, Empörung bis hin zum Ekel ob des gerade Erlebten einordnen. Die Chinesen schert es nicht. Mich auch nicht.
Schön, denke ich, war das Bier doch wieder mal das ganze Geld wert!

Beim Flug nach Delhi gelingt es dann Air India in seltener Meisterschaft, die ca. 50 Gäste in der Touristenklasse mit der schnellen Verabreichung des einzig verfügbaren vegetarischen Gerichts (himmlisch lecker, zumindest für mich!) und eines westliche Gäste eher abschreckenden Unterhaltungsprogrammes zum Schlaf zu bewegen. Für ausnahmslos jeden Gast kann eine 3er-Reihe von Sitzen zur horizontalen Nutzung angeboten werden. Selten bin ich so entspannt und ausgeschlafen am Morgen in Indien gelandet. Und alles nur, weil der kinderkranke versprochene Dreamliner B-787, erst am nächsten Tage wieder fliegen durfte…

Danke  Air India!

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