Oh, Madras! Oder Willkommen in Chennai!

Die Maschine setzt gerade auf dem glutheißen tamilischen Beton auf, da wird die Luft im Flieger erfüllt von allen möglichen Klingeltönen der für die Ewigkeit von gut 2 Stunden seit Delhi nicht nutzbaren Mobiltelefone. Schon springen die ersten Gäste auf und stürmen mit ihrem Handgepäck nach vorn Richtung Ausgang. Die Flugbegleiter bemühen sich nicht mal, dies zu unterbinden. Eine Chance dazu hätten sie ohnehin nicht!

Der kurze Moment bis zum Anspringen des Gepäckbandes genügt, um trotz einer Armada geräuschvoller Ventilatoren an der Decke ein erstes Mal im eigenen Schweiß zu baden. Dabei hat es jetzt kurz nach 16:00 Uhr nur noch 38 Grad im Schatten…

Am Ausgang der Ankunftshalle des Chennai International Airports gleich links folgt eine für den ausländischen Gast sehr hilfreiche Einrichtung – der Schalter für pre-paid Taxis. Der ist an den großen internationalen Flughäfen Indiens vor Jahren installiert worden, um (neben anderen) speziell die nichtindischen Neuankömmlinge vor dem vorher verbreiteten schlimmsten Nepp zu schützen. Ich zahle also im April 2013 in Chennai 460 Rupien (knapp 7 Euro), und werde von einem der bereitstehenden Taxis gegen Vorlage des erworbenen Belegs anstandslos zum Hotel meiner Wahl kutschiert. Gäbe es diese Einrichtung nicht, könnte mich die Fahrt locker das Zehnfache kosten, oder noch viel mehr – je nach Erfahrung und Verhandlungsgeschick.

Am von meinem Freund und Partner Josey für mich gebuchten Hotel angekommen, rutscht mir erst einmal das Herz eine Etage tiefer. Die vermeintliche Unterkunft ist eine in eine riesige Staubwolke gehüllte Baustelle. Ich finde den Eigentümer irgendwie und der erklärt mir wortreich, dass er heute Morgen günstig an Handwerker gekommen sei. Und die haben mit der geplanten Renovierung sofort begonnen. Im Flur und auch in „meinem“ Zimmer liegt Millimeter hoch der Staub, die Sanitärzelle existiert im Moment nicht. Auf meinen ungläubigen Blick hin bietet er an, mir bei einem befreundeten Hotelier drei Straßen weiter ein Zimmer zu besorgen. Gesagt, getan. Einer seiner Bediensteten soll mich mit dem Taxi dorthin hinführen.

Hier aber schlägt die Stunde des Taxifahrers. Der weigert sich schlichtweg, mich nur einen weiteren Meter zu fahren. Ich ignoriere das zunächst und weise ihn deutlich an, mich die paar Meter weiter beim nächsten Hotel abzusetzen. Er fährt zwar  los, als jedoch wegen Einbahnstraßenregelungen der Weg etwas weiter als vermutet wird, bleibt er abrupt stehen und verlangt 100 Rupien extra. Als ich das ignoriere und auch auf Nachfrage deutlich ablehne, springt er von seinem Sitz, reißt meine Tür auf, nähert sich mir mit weit aufgerissenen Augen ganz bedrohlich und schreit wildes unverständliches Zeug. Im Angesicht dieses tamilischen Tigers beginnt es, ungemütlich zu werden. Ich bedeute ihm, weiter zu fahren und uns am Hotel zu einigen. Schließlich erreichen wir kurz danach wohlbehalten das gesuchte Hotel. Ich gebe ihm meine 40 Rupien Wechselgeld vom Taxischalter, die er scheinbar widerwillig annimmt. Draußen sehe ich ihn gut gelaunt ins sein Ambassador-Taxi steigen, diesen doch nur kleinen Ganoven.

Inzwischen ist es dunkel, ich habe mich frisch gemacht und Josey kommt erst morgen früh mit den Fahrrädern. Also raus auf die Straße, einen ersten Tee und eine Kleinigkeit zu essen bestellt.

Soweit meine Absicht. Deren Umsetzung gestaltet sich aber schwieriger als erwartet. Der Grund ist der in der abendlichen rush hour bedrohlich angewachsene Strom von Fahrzeugen aller Art. Zum ersten Mal in über 25 Jahren Indien wage ich es nicht, einfach da rein zu springen, um den lockenden Tee-Stand auf der anderen Straßenseite anzusteuern. Ich bin schon etwas deprimiert. Einziger Trost – die Einheimischen trauen sich auch nicht! Irgendwann erreiche ich eine Art Fußgängerüberweg, wo ein Polizist tatsächlich für Bruchteile eine Schneise in die blecherne Walze schlägt, durch die sich schlangenartig ein Strom von flinken meist Fußgängerinnen begibt. Ich stehe lange an diesem Abend am Straßenrand, beobachte Verkehr und Menschen, habe meinen Tee, die erste Dosa und weitere typische Snacks – und ich schlafe trotz des Lärms einen tiefen traumlosen Schlaf.

Früh am Morgen schaue ich aus dem Fenster runter auf die Straße. Sie hat sich in einen sehr lebendigen Markt mit frischem Obst und Gemüse, Fisch, (noch) lebenden Hühnern und weiteren Lebensmitteln verwandelt. Nun kurz nach 6:00 Uhr, da es noch angenehm frisch ist, werden alle notwendigen Gänge erledigt. Zwei Stunden später, als Josey eintrifft, ist alles verschwunden und der allgemeine Verkehrswahnsinn gewinnt langsam wieder die Oberhand. Unglaublich! Aber es ist so!

Wir montieren die mitgebrachten Gepäckträger an den Rädern, justieren die Taschen. Um 10:30 Uhr sind wir startklar und brechen auf Joseys Drängen hin zu den 65 km von hier entfernten Tempeln von Mahaballipuram auf. Zu einer Zeit, wo wir sonst bald ans Tagesziel gelangen, wo das Thermometer langsam in Richtung 40 Grad klettert und die Fahrer in den Gefährten auf Chennais Straßen zu aggressiven Bestien mutieren lässt. Als wir, um ans Meer zu gelangen, ein ca. 3 km langes offiziell 6-spuriges Teilstück einer Magistrale befahren müssen, wird mir klar, warum selbst im auch nicht gerade zahmen Rest Indiens das Fahren auf den Straßen in Chennai als teuflisch, rücksichtslos und aggressiv beschrieben wird. Zwischendurch hält uns ein Polizist kurz an und fragt, ob das nicht zu gefährlich sei, hier mit voll bepackten Rädern am beschriebenen Wahnsinn teilzuhaben??? Er hat natürlich Recht. Zum Glück meistern wir alle Situationen und kommen – außer einem mittelschweren Sonnenstich bei mir – unbeschadet durch. Aber das ist schon das Thema für eine weitere Geschichte.

Für die künftige geführte Tamil Tempel Tour versprechen wir feierlich, dass die Räder erst im ländlichen Mahaballipuram auf ruhigen Straßen an die Teilnehmer rausgegeben werden! Den Wahnsinn Chennai schauen wir uns aber trotzdem aus sicherer Entfernung vom Bürgersteig als Fußgänger oder aus dem Auto an.
 
Man muss es einfach gesehen haben, sonst glaubt man es nicht!

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