Radfahren – gibt es eine bessere Fortbewegungsart?

Wir veranstalten mit großer Freude Radtouren auf dem indischen Subkontinent. Voranstellen muss ich jedoch einige jüngste Erfahrungen als Verkehrsteilnehmer in Deutschland.

Nachdem ich vor einem Jahr meinen letzten Dienstwagen abgegeben habe, erledige ich seit dem fast alle Wege nur noch mit dem Fahrrad. Auch habe ich den ungewöhnlichen Winter am Rande Kölns ausschließlich auf dem Rad verbracht, was bei aller gegenseitigen Rücksichtnahme doch zu einigen Beinahe-Konfrontationen mit Fußgängern wie Autofahrern führte. Warum? Weil trotz allen Klagens in unserem Autofahrer-Land die Straßen doch sehr schnell geräumt werden und auch der rechtschaffene Bürger in aller Regel seiner Räumpflicht für die Bürgersteige emsig nachkommt. Meist landet der Schnee komplett auf dem Radweg, sodass das Häuflein Aufrechter entweder auf die Straße oder den Fußgängerweg ausweichen muss. Damit werden aber bei einigen Zeitgenossen, für die Toleranz und gegenseitige Rücksichtnahme noch immer schwer vermittelbar sind, Hoheitsrechte in Frage gestellt. Entsprechend aggressiv reagieren sie dann. Geschenkt, es sind zum Glück eher Ausnahmen.

Womit ich aber zunehmend ein Problem bekomme, ist die Einstellung unserer überakkuraten Gesetzeshüter in ihren silberblauen rollenden Festungen, für die wir Radfahrer offenbar die neuen Lieblingsfeinde sind. So wurde mir kurz vor meinem Abflug von zwei selbstherrlichen jungen Beamten eine Straßenquerung bei roter Ampel unterstellt, die sie im Rückspiegel gesehen haben wollten. Tatsächlich habe ich die Grünphase für die Nebenstraße, aus der auch sie kamen, zum gefahrlosen Queren der „roten“ Hauptstraße benutzt. Nach Konsultation meines Anwaltes – „Hast zwar Recht, wirst es aber nie kriegen!“ – habe ich meine Wut runtergeschluckt, den gewünschten Betrag überwiesen und erfreue mich darüber hinaus eines Punktes in Flensburg. Wie schizophren ist das denn, dass einer, der nicht Auto fährt, dort angezählt wird, nur weil er einen gültigen Führerschein hat, den er in der Praxis nicht benötigt. Was ist eigentlich, wenn mein Konto dort voll ist? Darf ich dann kein Rad mehr fahren? Konfiszieren sie es? Oder welche schikanösen Kontrollmechanismen warten dann auf mich?

Vergessen wir es. Ich will die Antworten gar nicht wissen. Vielleicht arbeiten sogar schon einige der Alles-Regulierer an derartigen Projekten? Radfahrer abzukassieren ist ja um einiges einfacher, als tatsächlich Kriminellen das Handwerk zu legen. Mein unvermeidliches Asyl in Indien rückt wohl doch näher…

Womit wir angekommen wären im vermeintlichen oder tatsächlichen Chaos des auf der linken Seite rollenden indischen Straßenverkehrs, wo ohne gesunden Menschenverstand, Toleranz und gegenseitige Rücksichtnahme gar nichts ginge, wo aber alles viel entspannter abläuft, als es sich dem ungeübten westlichen Auge zunächst darstellt. Trotzdem stellt sich zuerst zwingend die Frage, wie viele der Verkehrsteilnehmer wohl jemals eine Fahrschule besucht und was sie da außer der exzessiven Betätigung der Hupe gelernt haben? Keralische Freunde, unter ihnen Bus- und Rikscha-Fahrer, und auch von mir befragte staatliche Fahrlehrer und Polizisten schwören förmlich, dass jeder Fahrzeugführer über einen gültigen „Lappen“ verfügt. Zudem sei die praktische und theoretische Ausbildung in den letzten Jahren stark verbessert worden, orientiere sich am Vorbild der Industrienationen und die Durchfallquote sei beachtlich, teilweise bis zu 50%. Wow! Ich glaub ja vieles…

Vorhin kamen mir bei meiner morgendlichen Radfahrrunde auf dem flachen Land zwei ca. 10-Jährige lachend auf Papas 125ccm Bajaj-Motorrad entgegen. Die „Männer“, die derzeit auf den Mähdreschern und Traktoren die Reisernte einbringen, wollen in einigen Jahren mal welche werden. Zumindest brauchen sie dann hoffentlich nicht zu viele praktische Fahrstunden. Aber auf den ständig besser werdenden größeren Straßen und in den Städten wird es sicher stimmen, was behauptet wird. Da wird auch immer mehr kontrolliert, neuerdings haben sie sogar kleine Röhrchen für Sofort-Tests auf Alkohol.

Es ist unübersehbar, dass im kunterbunten Mix der Verkehrsteilnehmer der Anteil indischer und anderer asiatischer Kleinwagen rapide zunimmt und auch deutsche Markenautos gar nicht mehr so selten sind. Trotzdem ist die Verkehrsdichte gerade dort, wo wir fast ausschließlich unterwegs sind, nämlich auf den kleinen Landstraßen nicht annähernd mit zu Hause vergleichbar. Es ist oft weiterhin geradezu gemütlich, um sich dann in den Städten ins Gegenteil zu verkehren. Aber die meiden wir ja, soweit es irgend geht.

So ist es gerade dieser Mix, zu dem neben hoffnungslos überladenen, sehr langsamen Trucks selbst auf National Highways Ochsenkarren, schwer beladene Lasten-Rikschas und –Fahrräder, ja sogar Fußgänger und natürlich freilaufende Kühe und anderes Getier gehören, der die Durchschnittsgeschwindigkeit im Vergleich zum Westen fast auf „Schneckentempo“ reduziert. In den Städten, aber auch kleineren Orten kommt hinzu, dass die Straßen für die schiere Masse des Verkehrs einfach nicht ausgelegt sind. Ganz zu schweigen davon, dass seit alters her, so auch heute, ein großer Teil des Handels dort stattfindet, respektive der notwendigen Belieferung und neuerdings auch kurz parkender Autos der Kunden. Im Ergebnis ist man – anders als in Deutschland – in den Ortschaften mit dem Fahrrad meist deutlich schneller als die Masse der Motorisierten. Auch außerhalb sind wir bei weitem nicht die Langsamsten.

Die Reduzierung der Geschwindigkeit des laufenden Verkehrs besonders innerhalb der Ortschaften, aber auch darüber hinaus, wofür meine Freunde vom ADFC in Deutschland auf allen Ebenen einen schwierigen Kampf fechten – hier haben wir sie. Soweit zu den Voraussetzungen für die Teilnahme am indischen Straßenverkehr.

Wir stellen dazu extrem robuste Trekkingbikes der Marke GIANT mit bewährt belastbaren Komponenten bereit, wichtig vor allem die Scheibenbremsen vorn und hinten. Einziger Schwachpunkt sind die etwas schüchtern daherkommenden Klingeln. Wir erwägen, sie durch lautstarke Hupen mit einem Gummiknauf als „Antrieb“ auszustatten.

Bleibt der Rad fahrende Mensch. Er ist es, der sich idealer Weise, wie der Motorisierte auch, vorausschauend und rücksichtsvoll, dabei durchaus auch selbstbewusst in den laufenden Verkehr einordnet. Oder eben nicht. Da es in dem hiesigen, meist sehr langsamen Verkehr oft nur sehr kleine oder scheinbar gar keine Lücken gibt, in die man sich als Radfahrer gefahrlos trauen könnte, kommen viele Europäer anfangs nur sehr schwer ins Rollen. Sie unterschätzen die Kooperationsbereitschaft der Inder. Wenn man durch eine kleine Bewegung oder einen Blick nur andeutet, wohin man will, entsteht die gewünschte Lücke meist sofort. Da hilft einfach nur Probieren. Man wird überrascht sein, wie einfach es geht und wie hellwach und kooperativ die Inder sind, auch Trucker und Busfahrer, wenn man klar signalisiert, was man und wohin man will.

Jeder Verkehrsteilnehmer rechnet hier immer grundsätzlich mit allem, was er aus seinem Gesichtsfeld wahrnehmen kann. Er hat also den entgegen kommenden, den seitlich ein- oder abbiegenden und natürlich den vor ihm fließenden Verkehr im Auge, die eine Hand stets an der Hupe und ein Bein auf der Bremse. Wobei entgegenkommender Verkehr gerade vor und nach Einmündungen regelmäßig auch als eine Art „Geisterfahrer“ auf unserer eigenen Fahrspur extrem links stattfindet.

Keiner, ob Express-Busfahrer oder Fußgänger oder alles, was dazwischen liegt, keiner schaut im fließenden Verkehr nach hinten, obwohl speziell die neueren Fahrzeuge mit Rückspiegeln, wie bei uns auch, ausgestattet sind. Als schnellerer von hinten Kommender weise ich diejenigen, die ich überholen möchte, durch lautes Hupen oder Klingeln auf mein Kommen hin. Anderenfalls kann es mir passieren, dass mir z.B. ein Fußgänger abrupt ins Rad läuft. Schuld hätte dann nicht er, sondern ich. Bitte unbedingt da
nach handeln!

Übung, für einige auch Überwindung erfordert das Rechtsabbiegen im indischen Linksverkehr, an den man sich meist binnen Minuten gewöhnen wird. Wann immer möglich hat sich an nicht ampelgesteuerten Kreuzungen oder Einmündungen folgendes Vorgehen, zumindest für alle 2- und 3-rädrigen Fahrzeuge, mitunter aber auch für alle anderen etabliert. Man wechselt (als quasi Geisterfahrer) kurz vor dem beabsichtigten Abbiegen auf die Gegenfahrbahn, am besten ganz nach rechts auf den Standstreifen und biegt ohne Geschwindigkeitsverlust rechts ab. Dort taucht man dann erneut als Geisterfahrer für den laufenden Verkehr ganz links auf. Der rechnet aber damit, hupt kurz und weicht, wenn nötig etwas aus, fährt jedoch ansonsten unbeeindruckt weiter. Wir selbst fahren ganz rechts weiter und warten dabei auf eine Lücke im entgegenkommenden Verkehr, nutzen diese ohne Zögern und reihen uns alsdann in den laufenden Verkehr unserer linken Spur ein. Ist einfacher, als es sich hier liest, fordert jedoch den deutschen Ordnungsbürger in uns zur Kapitulation auf. Natürlich kann man beim Abbiegen auch, wie zu Hause gelernt, auf die entsprechende Lücke warten. Das kann in Ortschaften zum einen recht lange dauern und man wird mit Sicherheit vom folgenden Verkehr lautstark attackiert. Das aber sollte man dann entspannt aushalten und sich nicht zu waghalsigen Manövern drängen lassen!

Die auf Indiens Straßen sehr häufigen Busse halten nicht nur an den ausgewiesen Haltestellen, sondern mitunter sehr abrupt auf ein entsprechendes Handzeichen eines Wartenden am Straßenrand. Hierbei fühlt man sich als Radfahrer manchmal regelrecht von der Straße gefegt bzw. geblasen. Da sie offensichtlich die Stärkeren sind gebietet es der gesunde Menschenverstand, ihnen aus dem Wege zu gehen, wie es jeder Einheimische anstandslos auch tut. Auf keinen Fall sollte man einen haltenden Bus links überholen wollen. Hierbei liefe man große Gefahr, von einer aufschlagenden Tür – falls überhaupt vorhanden – oder einem herausspringenden Fahrgast einfach umgehauen zu werden! Entweder überholen wir normal rechts oder warten besser hinter dem Bus, bis er sich wieder in Bewegung setzt und radeln dann entspannt weiter.

Gewöhnungsbedürftig bis kurios ist auch das Verhalten der Inder an beschrankten Bahnübergängen und einseitig durch Ampeln geregelten Sperrungen an Baustellen. Da die Verkehrsunterbrechung in beiden Fällen oft von mehreren Minuten bis zu einer halben Stunde oder länger dauern kann, kommt es garantiert zu einem veritablen Stau. Hierbei wird neben der eigenen dann auch die Gegenspur inklusive vorhandener Standstreifen, ergo der gesamte zur Verfügung stehende Verkehrsraum genutzt. Bei der Grünschaltung kommt es dann zu abenteuerlich anmutenden Manövern des millimetergenauen Aneinander-vorbei-Arbeitens speziell der größeren Fahrzeuge. In beiden Situationen sind wir als Radfahrer die Gewinner, können wir uns doch meist irgendwie bis an die Spitze der Sperrung durchmogeln. Und dann gilt, dass ein geschlossener Bahnübergang nur dann geschlossen ist, wenn gerade der Zug durchfährt. Ist dies noch nicht der Fall, ist selbst der Schrankenwärter dabei behilflich, das Rad über  Hindernisse zu bugsieren. Man folge nur den Einheimischen. Und bei der einseitigen Straßensperrung ist garantiert so viel Platz, dass man als Radler gefahrlos am sich dahin quälenden Gegenverkehr vorbei fahren kann.   

Überall und immer wird auffallend viel gelächelt und wo nötig, mit Handzeichen klargemacht, in welcher Reihenfolge gefahren wird. Angst ist genauso fehl am Platze wie Aggressivität oder Übermut. Auch wenn es immer viel zu sehen gibt, während der Fahrt sollten wir uns, wie zu Hause gelernt,19 bitte immer und voll auf den Verkehr fokussieren! Zum Fotos machen halten wir in jedem Fall an und steigen am besten auch vom Rad.
Ein tolles Gefühl, dieses Radfahren in Indien!

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