Nicht nur ein Aufschrei in den Medien

Ende 2012 und kurz darauf Anfang 2013 wurde Nordindien von brutalen Vergewaltigungen junger Frauen, auch einer Schweizer Touristin, erschüttert, deren Presse-Echo ungeahnte Dimensionen erreichte und auch in Europa zur intensiven Auseinandersetzung damit führte. Auf Radmessen und in sozialen Netzwerken wurde ich in bisher nicht gekannter Form mit diesem uns alle belastenden Thema konfrontiert. Dies reichte hin bis zu besorgten Ankündigungen durchaus sehr ernsthafter und gebildeter Rad- und Indienfreunde, von einer Reise mit uns in dieses wohl aktuell nicht so sichere Land abzusehen.

Die Thematik der Vergewaltigung Schwächerer begleitet unsere Zivilisation leider seit ihrer Entstehung. Und sie betrifft ja bei weitem nicht nur Indien. Nur hat sie gerade hier und gerade in jüngster Zeit, was das bekannt gewordene Ausmaß an Gewalt, die zunehmende Jugend der Täter und auch die Häufigkeit angeht, zu einer veränderten Situation geführt. Die Opfer schweigen nicht länger. Die Medien nehmen ihre Verantwortung zur Offenlegung der bestehenden Missstände aktiver wahr. So sind Polizei und weitere zuständige Stellen viel stärker als in der Vergangenheit gezwungen, die potenziellen Täter zu verfolgen, sie zu bestrafen, sich vor allem mit den Ursachen dieser Vergewaltigungen zu beschäftigen und Wege zu finden zur Bekämpfung dieses gesamtgesellschaftlichen Problems.

Worum geht es? Wohlwissend, dass ich nicht über das Rezept zur Beseitigung von Gewalt in den zwischenmenschlichen Beziehungen verfüge, möchte ich dennoch als einer, der in seinem Leben in der Welt herumgekommen ist, der die verschiedensten Kulturkreise kennengelernt hat, der immer wieder über längere Zeiträume in Südindien lebt, sich mit den Einheimischen austauscht und deren Medien (zu einem gewissen, ob der sprachlichen Barrieren zugänglichen Teil) konsumiert, einige Gedanken in diese vielschichtige Thematik einbringen.

Als langjähriger Radler auf den Straßen Asiens fallen mir sofort dutzende Situationen ein, wo ich z. B. eine mit eingezogenem Schwanz davon hetzende Hündin beobachtete. Sie hatte nie eine Chance gegen die sie jagenden meist 3 -5 jungen Hunde… Oft kommt es an indischen Straßen zum Zusammentreffen mit Großfamilien von Pavianen und anderen uns nahen Verwandten. Der Pascha geht dabei alles andere als zimperlich mit seinen Haremsdamen um. Oft sind die Kopulationen regelrechte Gewaltexzesse, in denen sich der physisch Stärkere durchsetzt. Und wir, die vermeintliche oder tatsächliche Krone der bisherigen Schöpfung? In wie vielen Gesprächen unter lebenserfahrenen Frauen gibt es das übereinstimmende Fazit: „Am Ende sind die Kerle doch alle nur schwanzgesteuert!“ Und das unabhängig von Alter, konfessioneller Bindung, vom Bildungsniveau oder sonst etwas – sagen sie und nicht nur sie. Da ist also etwas in uns Männern, mit dem zivilisiert und kultiviert zum Vorteil beider betroffenen Geschlechter umzugehen offenbar nicht jedem und nicht immer gelingt. In Indien und in jedem anderen Flecken auf dieser Erde. Fast immer gelingt es, aber eben nicht immer, und genau darum geht es.

Der Volksmund sagt: „Gelegenheit macht Diebe!“ und in so manchem erhitzten Gespräch der letzten Monate mit indischen Vätern und Großvätern wiesen die auf die bekannt gewordenen Umstände von Vergewaltigungen hin. Oft finden diese im familiären, nachbarschaftlichen Umfeld oder im vermeintlichen Freundeskreis statt. Immer wird dabei ein bestimmtes Vertrauensverhältnis oder zumindest die Bekanntschaft zwischen Täter und Opfer zu dessen Nachteil ausgenutzt. Auch in den in den Medien präsenten Fällen der Studentin aus Delhi und der Schweizer Touristin könne man ein die Tat begünstigendes Eigenverschulden der Opfer nicht ignorieren, obwohl sich beide sogar in Begleitung eines Partners befanden. Die Studentin befand sich mit ihrem Freund angeblich weit nach Mitternacht in dunklen, unübersichtlichen Straßen auf dem Heimweg von einer Party und das Schweizer Paar hatte sein Zelt für die Nacht weitab jeder bewohnten Ortschaft aufgeschlagen, wo sie hätten um Hilfe rufen können. (Wenn beides denn so stimmt?)

Ähnliche Umstände führen fast täglich irgendwo auf der Welt zu auch ähnlichen verabscheuungswürdigen Delikten. Wenn ich da nur an die nicht abreißenden Berichte im heimischen Kölner Stadtanzeiger über die versuchten und passierten Vergewaltigungen auf dem Heimweg von Partys, Schichtarbeit etc. denke…  
      
Tenor der Diskussionen mit den Herren, die hierbei vehement von den Müttern und Großmüttern unterstützt werden, ist zunächst die Eigenverantwortung, die jeder trägt, um mögliche begünstigende Situationen für Übergriffe auszuschließen. Ganz besonders gelte dies für die Verantwortung der Familien für ihre Heranwachsenden.

Kritischer als von mir geglaubt, bewerten viele Inder die Rolle ihrer Medien, zumindest wenn es um die Aufklärung oder mögliche Prävention von Verbrechen geht. Warum? Weil es in Indien neben einer sehr überschaubaren Anzahl seriöser gedruckter und elektronischer Medien mehr als 400 private TV-Kanäle, über 1.000 Radiostationen und ungezählte Printmedien  in den vielen Sprachen des Landes gibt, die sich oft über alle Regeln des Anstandes hinweg setzen, teilweise bewusst Geschichten erfinden, nur um irgendwie am Markt zu bestehen. Aus den genannten Verbrechen und um sie herum werden oft regelrechte soaps gedreht, die dann sicher bei einem Teil der mehr oder weniger Gebildeten auch zu zweifelhaften Schlüssen führten.
 
Folgendes Beispiel wurde mir genannt. Als vor Jahren die Bilder um die Welt gingen, in denen der damalige US-Präsident George Bush jr. mit einem Schuh beworfen wurde, seien am darauffolgenden Tage bei Parlamentsdebatten in drei indischen Unionsstaaten verantwortliche Regierungspolitiker mehrfach von oppositionellen Schuhen getroffen worden. Und dort sitzen ja wohl die besten, meist männlichen, gewählten Vertreter des Volkes, oder? Über ähnliche Aktionen in anderen Staaten bin ich leider nicht im Bilde, schließe sie aber eingedenk der Berichterstattung von z.B. ukrainischen „Parlamentsdebatten“ alles andere denn aus.

Männer sind es auch, die weltweit (bis auf wenige Ausnahmen) für die Vergewaltigungen als Täter zur Verantwortung zu  ziehen sind. In Indien sind sie zunehmend jung, weshalb sie im Rahmen der bestehenden Gesetze weder angeklagt, noch verurteilt werden können. So geschehen auch im Falle des besonders brutalen Haupttäters der Vergewaltigung von Delhi. Dies beschert der indischen Justiz zudem gerade eine Grundsatzdebatte über die Herabsetzung des Alters der Schuldfähigkeit für besonders schwere Delikte von 18 auf 16 Jahren mit allen sich daraus verfassungsrechtlich ergebenden Implikationen. Aber das ist ein Seitenaspekt, dessen Verfolgung nur vom Thema wegführt.

Zurück zu den jungen Männern, den Lieblingen der indischen Gesellschaft und damit zu einem strittigen Punkt zwischen mir und meinen hiesigen Freunden. Im Vergleich zu den Frauen sind sie einfach (statistisch) zu viele. Traditionell wird bei der Geburt einer Tochter bei aller Freude immer noch sofort an die damit verbundenen Kosten für ihre Verheiratung gedacht. Seit man das Geschlecht des Kindes bereits im Mutterleib bestimmen und auch Abtreibungen für die Mutter relativ gefahrlos durchführen kann, sanken die Geburtenzahlen von Mädchen im Vergleich zu der von Jungen auffallend. Dies ist ein Fakt, noch dazu ein statistisch belegter. Bei einem Volk von über 1,2 Milliarden Menschen ergibt dies dann mal eben einen Männerüberschuss in zweistelliger Millionenhöhe. Auch ohne mathematisches Diplom kommt man darauf, dass ähnlich einer „Reise nach Jerusalem“ für viele Inder schlichtweg keine Frau für eine Heirat, Partnerschaft, ja schlichtweg den angeborenen Sexualtrieb da ist. Und das soll kein Potenzial für Konflikte sein und nicht auch den einen oder anderen in seiner Verzweiflung auf dunkle Pfade führen? Die diesbezüglichen Missbrauchs- und anderen Themen aus der hier in Kerala
besonders stark verwurzelten katholischen Kirche sind allen durchaus bekannt, kommen wohl auch hier vor. Trotzdem tuen sich meine Geschlechtsgenossen mit der Anerkenntnis dessen unendlich schwer, wie übrigens ihre Gattinnen auch – allesamt eifrige Kirchgängerinnen.

Meiner Schlussfolgerung, dass diese demografische Schieflage die latente Gruppe potenzieller sexueller Gewalttäter zumindest nicht kleiner macht, wollen sich meine Freunde nur schwer, eigentlich gar nicht anschließen. Wahrscheinlich muss ich da meine Hoffnungen wieder mal auf die heranwachsende oder noch spätere Generationen vertagen, wenn durch die gute Ausbildung und gleiche Chancen am Arbeitsmarkt eine für die Familie der Braut ruinöse Mitgift nicht mehr nötig ist, um die Tochter wirtschaftlich abzusichern, oder wenn durch ein anderes, heute von mir nicht zu erkennendes Phänomen, der Anteil von Weiblein und Männlein an der indischen Bevölkerung wieder ins Lot gebracht sein wird.

In der Zwischenzeit wird in der indischen Gesellschaft – wie  bei uns auch – heftig debattiert, wie Gewalt gegen Frauen eingeschränkt, ja möglichst verhindert werden kann. Es ist mit Sicherheit eine der Stärken dieser offenen Gesellschaft, dass sie das Thema offensiv auf die nationale Agenda setzt. Davon können Millionen Frauen in China und vielen moslemischen Ländern nicht mal träumen. Aber es gibt auch konkrete Handlungen. Das bestehende Netz von Hilfsorganisationen und Häusern für misshandelte Frauen und deren Kinder wird modernisiert und ausgebaut. Im öffentlichen Fern- und Nahverkehr gibt es verschiedene Initiativen, um die hier besonders häufigen Belästigungen von Frauen zu unterbinden. So gibt es spezielle Abteile nur für Frauen oder ganz neu in einigen Städten auffallend lila gespritzte Auto-Rikshas ausschließlich für Frauen. Lokführerinnen, Bus- und Rikschah-Fahrerinnen sind aber weiterhin die große Ausnahme.

Alles hier von mir Zusammengetragene und Dargestellte wird – leider –  nicht dazu führen, dass es in absehbarer Zeit überhaupt nicht mehr zu Gewalt und Übergriffen gegen Frauen kommen wird. Aber das gesellschaftliche Klima wandelt sich, Missstände werden öffentlich gemacht und wo immer möglich beseitigt. Und hier teile ich wieder die Meinung meiner Freunde. Sexuelle Gewalt gegenüber Frauen ist in Indien nicht stärker ausgeprägt als in anderen Staaten auch, die vermeintlich entwickelten westlichen Staaten hierbei ausdrücklich eingeschlossen. Es bleibt die Aufgabe der offenen Gesellschaft und eines jeden ihrer Mitglieder, durch engagiertes und verantwortungsvolles Handeln dieses Übel auf das absolut machbare Minimum zu reduzieren, egal wo auf der Welt wir ihm begegnen.

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