Die Backwaters von Kerala

Wie leben sie in „Gottes eigenem Land“?

Diese von der Natur und den Menschen geschaffene einzigartige Natur- und Kultur-landschaft im äußersten Südwesten des indischen Subkontinents ist zu meiner zweiten Heimat geworden. Grund genug also, kund zu tun, warum es so ist.
Es ist hier „flach wie Holland“. Höchste Punkte sind die Brücken über die Kanäle. Höhepunkte hat es viele andere, von denen ich hier gern einige beschreibe.
Mehrere große, dabei sehr flache Seen verfügen über einen offenen Zugang zum Arabischen Meer (z.B. Vembanad Lake bei Cochin oder Ashtamudi Lake bei Kollam), weshalb die Gezeiten bis tief in die  Backwaters hinein spürbar sind. In den trockenen Monaten, wenn der Wasserzufluss aus den Bergen der nahen Western Ghats eher gering ist, sind die Seen und das sie verbindende weit verzweigte Kanalnetz leicht salzhaltig und dienen auch zur Garnelen-, den Rest des Jahres zur Fischzucht. Während des Monsuns und danach steigt der Süßwasserzufluss erheblich. Das Salzwasser wird ins Meer zurück gedrängt und das stark sedimenthaltige Wasser der Flüsse sorgt für stets fruchtbare ausgedehnte Felder, die sich zwischen den Kanälen befinden. Diese sind Menschenwerk und werden 2x jährlich fast ausschließlich zum Reisanbau genutzt. Sie befinden sich 1-2 m unter Meeresniveau, werden je nach Wachstums-, Ernte- oder Ruhephase durch leistungsfähige Pumpensysteme trockengelegt, teilweise oder auch ganz geflutet. So verändert die Landschaft ständig ihr Bild, es bleibt immer spannend und es gibt täglich Neues zu entdecken. Ein kleines Wunder und ein gelungenes Beispiel der behutsamen Weiterentwicklung der von der Natur geschaffenen Bedingungen durch den Menschen.
An den über 900 km langen Kanälen erstrecken sich unter unzähligen Palmen malerische Dörfer, die neben den Wasserwegen noch durch kleine Straßen wie auf Dämmen miteinander verbunden sind. Hier liegen auch meine Radstrecken von weniger als 10 km bis über 100 km Länge, die ich bevorzugt für meine Erkundungen nutze. Hier – in und an den Kanälen – liegt auch das touristische Potenzial der Region, das inzwischen dabei ist,  die Landwirtschaft als Wirtschaftsfaktor Nr.1 abzulösen.

Besucher, indische wie ausländische kommen beinahe ganzjährig in Scharen, um das einmalige Flair der Seen und Kanäle zu genießen, hier einen Gang runter zu schalten und neue Kraft zu tanken für Kommendes. Neben wunderschönen Homestays und kleinen Hotels sind die Hausboote das bevorzugte Reisemittel. Sie sind im breiten Rumpf wie die kettuvalams (Reiskähne) geformt, mit immer luxuriöser werdenden Aufbauten von meist zwei (oder inzwischen auch mehr) Doppelkabinen. Gerade in unserer Region um Alleppey, der Heimat und dem Herz dieser speziellen Art des Reisens, stößt sie bereits an ihre Grenzen. Die Vielzahl der inzwischen zugelassenen Boote führt oft zu regelrechten Staus in manchen Kanälen und auch die Liegeplätze für die Nacht werden in der Hauptsaison knapp. Von der Idylle ist da oft nicht mehr viel übrig, zumal wenn die überwiegend nordindischen Urlauber zunehmend nach Partykähnen verlangen und auch auf den „normalen“ Booten lautstark Bollywood in Bild und Ton bis weit nach Mitternacht konsumieren. Neben dem Lärm belasten die Dieselmotoren und Notstrom-Aggregate auf den Booten Luft und Wasser in einem erheblichen Masse.

Leider kann ich ein Lied von dieser wachsenden „Verballermannung“ singen, da keine 10 m von meinem Bett jede Nacht zwei dieser Boote ihren Liegeplatz haben….
Alternative Formen, wie die aktive Erkundung der noch idyllischen und dabei sehr authentischen kleinen Kanäle in Kanus oder auf Fahrrädern führen eher ein Stief-mütterchen-Dasein. Ganz zu schweigen von einem Vorschlag, den ich den hiesigen Verantwortlichen gemacht habe, die Größe der Boote zu beschränken auf max. 2 Kabinen und idealer Weise die Dieselmotoren zu verbieten und wieder, wie auch bei uns in Deutschland im Spreewald auf die klassische Form des Stakens zurück zu greifen. Das würde die Umweltbelastungen drastisch reduzieren, viele neue (alte) Arbeitsplätze schaffen und auch die verschwundene Idylle wieder aufleben lassen. Aber dafür ist die Zeit in den Köpfen aller, die hier damit zu tun haben, leider noch nicht reif. Vielleicht sollten auch deutsche Reiseveranstalter einmal von ihrer durchaus vorhandenen Macht Gebrauch machen und gewisse Prozesse etwas beschleunigen?

Unabhängig davon haben wir bei unseren Radtouren immer viel Spaß und erfreuen uns mal an der vielfältigen Vogelwelt, die ganz aus der Nähe beobachtet werden kann, mal staunen wir über überfüllte Kirchen schon morgens kurz nach 6:00 Uhr und immer gibt es einen Pflichtstopp an einem der ungezählten Tee-Shops, wo wir stets die Attraktion sind und Gesprächsstoff für das ganze Dorf abgeben. Gerne doch!

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In einem der Dörfer in den Backwaters, Kainakary nahe der Stadt Alleppey, leben wir  im fast 100-jährigen Hause unseres Freundes Josey im Kreise seiner Familie. Dazu gehören seine Frau Lisa, seine beiden Töchter Achsah und Sarah sowie seine noch sehr agilen Eltern und diverse Haustiere.

Das Wohnhaus selbst fügt sich harmonisch in die Landschaft ein und kommt auch in der derzeit heißen Phase so kurz vor der Regenzeit ohne Klimaanlage aus. Wie geht das?

Zunächst die Fußböden. Sie bestanden bis vor wenigen Jahren aus einem Gemisch aus Lehm und Kuhdung und sorgten für ein angenehm kühles Mikroklima. Inzwischen sind sie in vielen Häusern aber gefließt. Die Wände sind zwar gemauert und verputzt, aber in den Fenstern sind anstelle der uns bekannten Scheiben mal dünnere, mal stabilere Stäbe eingesetzt. Diese „schwedischen“ Gardinen werden von innen durch sehr geschmackvolle echte Gardinen und Vorhänge verdeckt. Außen sind attraktive Teakholz-Fensterläden angebracht. In den Außentüren ist oben jeweils ein ca. 10-20 cm hoher Freiraum ebenfalls wieder nur mit Stäben gesichert.

Im Haus selbst sind die Türen meist permanent zu beiden Seiten aufgeklappt. Oft gibt es anstelle der bei uns üblichen Türen aber nur Durchgänge, die nur einen Vorhang als Sichtschutz besitzen. Dem Haus ist rundherum ein mindestens einen Meter über die Mauern hinausragendes, schatten spendendes Dach aufgesetzt. Es sitzt jedoch nicht direkt auf dem Mauerwerk auf, sondern die gesamte hölzerne Konstruktion des Dachstuhles ermöglicht  erneut eine ständige Luftzirkulation zwischen den Zimmerdecken und dem Dach selbst. Die Böden wurden früher, wie bei uns auch, als Vorratsspeicher, hier besonders für Reis, genutzt. Heute werden die Böden fast nur noch von den sehr zahlreichen Fledermäusen als Schlaf- und Ruheplätze genutzt, nicht immer zur Freude der Hausbewohner, da es durch ihren Kot mitunter zu erheblichen Belästigungen kommt. Inzwischen verhindern ausgediente Fischernetze in vielen Häusern an den Ein- und Ausflugpunkten das Eindringen und damit auch die Geruchsbelästigung durch den bei den Farmern allerdings als Dünger sehr geschätzten Kot.

Einziges seit Jahrzehnten unverzichtbares Mittel gegen allzu große Hitze sind die in allen Räumen an den Decken befindlichen Ventilatoren. Rund um das Haus finden sich oft überdachte schattige Gänge und Veranden für die mittägliche Siesta, die obligatorischen Teepausen und für mich selbst als willkommener Arbeitsplatz am Laptop. Umgeben ist das Haus zudem von alten schattenspenden Mangobäumen und Kokospalmen. Klimaanlagen gehören nicht in diese Welt, obwohl Josey unlängst einen Raum, den er oft an Gäste vermietet, mit einer solchen ausgestattet hat. Das Paradies ist mithin beschädigt. Ich versuche ihn von weiterem derartigen Unfug abzuhalten…

Im großzügigen Garten wachsen wie bei allen Familien hier zudem Bananenstauden, Papaya und alle erdenklichen anderen tropischen Früchte. Neben auch den uns bekannten Gemüsesorten werden Chillies, Curryblätter und jede Menge Kräuter kultiviert. Aus seiner Gewürzplantage in den Bergen beziehen wir neben den Hauptprodukten Kardamom und Pfeffer auch Kaffee. Tee und alle anderen frischen Gewürze gibt’s von nahen Verwandten oder Freunden. Aus all diesen unverfälschten Ausgangsprodukten zaubern Lisa und Joseys Mutter dreimal täglich frisch zubereitete, vornehmlich vegetarische Speisen. Gesund und lecker! Neben dem relaxten Leben in den dörflichen Backwaters sind es gerade diese Speisen, die uns förmlich an Kerala ketten – im besten aller Sinne.

Dann aber kommt die Integration in die in meinem Fall christliche Familie und die dörfliche Gemeinschaft. Josey und Lisa haben jeweils vier erwachsene verheiratete Geschwister, meist mit 2-3 Kindern und den Familien, in die sie hineingeheiratet haben. Außerdem hält man engen Kontakt zu Cousins und Cousinen, Onkeln und Tanten, Schwager und Schwägerinnen, Neffen und Nichten, und zwar nicht nur des 1. Grades, sondern mindestens auch des 2. und 3. und oft noch darüber hinaus. So entsteht schnell ein Netzwerk von vielen Hundert, ja weit über tausend Verwandten über ganz Südindien, in die Golfstaaten, die USA und Großbritannien. Wann immer möglich stattet man sich gegenseitig Besuche ab. Ist man in der Gegend, sucht man unbedingt seinen Verwandten auf. Bei vielen dieser Besuche war ich immer wieder zugegen. Mit Fug und Recht kann ich mich inzwischen integriert fühlen und werde auch bei so mancher für die Familie zur Entscheidung stehenden Frage gern als „relativierendes Element“ in die Debatte einbezogen.

Als Besitzer verschiedener landwirtschaftlich genutzter Flächen ist Josey saisonal auch ein gesuchter Arbeitgeber, und in der Regenzeit immer wieder als langjähriger Captain des siegreichen Bootes bei den in den Backwaters immens prestigeträchtigen Schlangenbootrennen um die Nehru-Trophy eine Institution. Aus all dem resultieren in Dorf- und Kirchengemeinde besondere Verantwortlichkeiten und Pflichten.

Am deutlichsten sichtbar wird all dies, wenn z.B. eine Hochzeit oder eine vergleichbare Feier begangen wird. Erst Anfang Mai war ich wieder Gast einer solchen, als einer von Joseys vielen Cousins seinen Sohn verheiratete. Da kommt man dann schnell auf einen Kreis von mehreren Hundert, meist aber weit über 1.000 einzuladenden Gästen. Nachdem ich anfangs ob der exorbitanten Kosten nur ein Kopfschütteln für diese Ausmaße übrig hatte, muss ich inzwischen eingestehen, dass damit wichtige soziale Funktionen wahrgenommen und Traditionen weitergeführt werden, irgendwie das Gleichgewicht in der gesamten Gesellschaft zementiert wird.

Wenn ich im Gegensatz dazu überlege, wofür in der westlichen Konsumgesellschaft Geld verpulvert wird – vielleicht sind die hiesigen Kosten als höchst sinnvolle Investitionen in soziale Netzwerke sogar weit besser angelegt, als wir es in unserer auseinander brechenden Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten je vermocht haben?

Was läuft nun ab bei einer Hochzeit in einer hiesigen christlichen Gemeinde?

Nach der Verlobung im unmittelbaren Vorfeld findet am Vorabend im engeren Familien- und Freundeskreis ein sehr entspanntes und lustiges Zusammentreffen im Elternhaus des Bräutigams statt, wo nochmals so richtig „die Sau rausgelassen wird“, noch am ehesten mit den nicht mehr so in Mode befindlichen, aber von meiner Generation noch sehr geschätzten Polterabenden bei uns vergleichbar. Jüngere können das unter gewissen Abstrichen mit den inzwischen in Mode befindlichen Jungesellinnen-Abschieden vergleichen, wobei das hier noch familiärer und generationenübergreifender abläuft – noch…

Die  Zeremonie am nächsten Tag in der Kirche ähnelt von Ihren Abläufen stark dem, was wir in Europa kennen. Es geht jedoch bei aller Feierlichkeit sehr entspannt und fröhlich zu. Der Mittelgang des Kirchenschiffes teilt die männliche Gemeinde (links) von der weiblichen Gemeinde (rechts). Da aufgrund der heißen Temperaturen sowohl das Hauptportal als auch alle Seitentüren ständig offen sind, herrscht stets eine reges Kommen und Gehen während des gesamten Gottesdienstes. Stühle sind meistens sporadisch und eher in den Seitenschiffen für die Älteren und Mütter mit Kleinkindern verfügbar. So steht man also oder macht es sich auf dem mit Kokosmatten ausgelegten Fußboden bequem. Durch die Geschlechtertrennung wird besonders auffällig, dass eine Seite total überfüllt, die andere fast verwaist ist. Die Herren der Schöpfung sind rund um die Kirche oder bereits in den vorbereiteten Hallen und Zelten in kleinen Gruppen in teils entspannte, teils sehr intensive, an richtiggehende Verhandlungen erinnernde Gespräche vertieft. Hier wird die bereits beschriebene Bedeutung für den Zusammenhalt der Sippe, sozial und noch mehr wirtschaftlich geradezu spürbar. Oft werden neue Geschäfte eingefädelt bis hin zur Absprache künftiger Eheschließungen.

Ein Beispiel. Josey hat in den Bergen ein Stück Land gekauft, auf dem er im letzten Jahr eine neue Kardamom- Pflanzung angelegt hat. Er kann sich, solange es dort noch an Vielem fehlt, auf die Unterstützung eines Mannes verlassen, der dort in unmittelbarer Nachbarschaft wohnt, seit fast 30 Jahren das Geschäft versteht und vor allem ist er ein für indische
Verhältnisse naher Verwandter – der Schwager seines Schwagers. Er ist also derjenige, dessen Frau die Schwester des Mannes ist, der Joseys jüngste Schwester einmal geheiratet hat und der nun ein Stück weit den Erfolg seiner künftigen Unternehmungen im für ihn neuen Geschäft mit dem Kardamom gewährleistet. Noch Fragen?

Und das Brautpaar? Nach Ja-Wort, Ringtausch und Eintragung ins Eheregister erhalten sie die hier üblichen Blumengirlanden und beide je einen Blumenstrauß. Dann folgt der Ausmarsch und der meist kurze Fußweg in die benachbarte Halle. Dorthin geleiten den Zug die Blumenmädchen und Brautjungfern. Auf einer feierlich geschmückten Bühne werden zunächst in verschiedenen Konstellationen Fotos der Familie produziert. Es werden Kerzen entzündet, unter großem Jubel die Hochzeitstorte angeschnitten und ein bereit stehender Saft einer Ananas von Braut und Bräutigam gemeinsam aus dieser getrunken. Alles Symbole, die dem jungen Paar Glück und Fruchtbarkeit auf ihrem künftigen Weg bringen sollen.

Danach beginnt das große Fressen, unterteilt in die vegetarische und nicht-vegetarische Zunft. Möglich wird diese trotz der anwesenden Massen logistische, aber auch kulinarische Spitzenleistung deshalb, weil die Gäste nur einen gut gefüllten Teller benötigen, um sich stehend, oder wieder in den Stuhlreihen Platz nehmend, geübt mit der rechten Hand all die Köstlichkeiten in Rekordzeit einzuverleiben. Die großzügigen Handwaschbecken, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den Massenurinalen auf dem Münchener Oktoberfest nicht leugnen können, sind kurzzeitig ein Engpass. Dann holt man sich noch fix ein super süßes Dessert auf Pappschale mit Plastiklöffel und noch einen Schluck Wasser oder Juice im Pappbecher und auf in den familiären Small Talk!

In der Heimat der vegetarischen Küche sind es an Tagen wie diesen Dutzende von Hühnern und Enten, einige Schafe und oft mindestens ein Rind, die auf die Hüften der alles andere als schlanken christlichen Gemeinde wandern. Lachend bekomme ich ob meines ungläubigen Blickes zu hören, dass es ja meine europäischen Vorfahren gewesen seien, die sie nicht nur zum christlichen Glauben gebracht hätten, sondern – scheinbar wichtiger noch – sie auch zum Fleischessen verführt hätten. Ich bin sprachlos und lächele!

Nichts kann mich aber abhalten, meiner geliebten vegetarischen Küche gerade auch an diesem Tage und diesem Ort der ungehemmten Völlerei den Vorrang zu geben. Dazu darf ich mich mit einem Häuflein Gleichgesinnter (meist befreundete Hindus aus der Nachbarschaft der Eltern des Paares) über eine scheinbar selten benutzte und daher nicht sehr einladende Treppe auf eine Empore begeben. Wir (weniger als 20 von 1.200) haben hier zumindest den Luxus von schmalen Tischen, auf denen unsere Bananenblätter als Unterlage für Reis, Curries, Pickles, Pappaddam und Süßes platziert werden. Die Qualität der Speisen ist einfach umwerfend und im Gegensatz zu unten kann ich sie auch ganz entspannt genießen. Meine indischen Tischpartnerinnen sind schon lange verschwunden, da freue ich mich immer noch auf mein Dessert, einem dickflüssigen Reispudding mit ganz viel jaggery (eingedickter Melasse aus Rohrzucker).

Einzig das Brautpaar muss warten. Sie hat inzwischen ihr goldfarbenes westliches Brautkleid gegen einen klassischen Hochzeits-Sari ebenfalls mit vielen eingewebten Goldfäden  getauscht. Dazu trägt sie scheinbar unbeeindruckt eine sicher 2 – 5 kg schwere Meisterleistung der indischen Goldschmiedekunst an Hals, Armen und wer weiß, wo sonst noch… Er hat seinen dunklen westlichen Maßanzug ebenfalls gegen einen ganz in weiß gehaltenen indischen Klassiker – die Kurta – getauscht. Sie sehen beide bestechend aus, wie den Geschichten aus 1001 Nacht entsprungen. Nun nehmen sie geduldig die Glückwünsche der teilweise weit angereisten Verwandtschaft entgegen. Da von jeder dieser Begegnungen auch Beweise für die Nachwelt gefertigt werden, zieht sich die Veranstaltung bis in den späten Nachmittag. Beide halten tapfer lächelnd durch. Und morgen früh sitzen sie wieder im Flieger „nach Hause“ nach Dubai. Beide haben dort bereits eine luxuriöse Eigentumswohnung und gut dotierte Manager-Jobs. Er bei einer weltweit agierenden Versicherung, sie bei einer auch in Europa gut bekannten riesigen Hotelkette.

Eine typische südindische Hochzeit Anfang Mai 2013. Sie führt Traditionen fort und macht auch Neues sichtbar. Es handelt sich um eine echte Liebesheirat von zwei selbstbewussten, gut ausgebildeten jungen Menschen, die ihr Leben schon vor der Trauung in die eigenen Hände genommen haben. Nichts ist hier mehr durch die Eltern arrangiert. Der Bräutigam hat durchgesetzt, dass die im ländlichen Indien noch immer wichtige Mitgift der Braut nicht zur Anwendung kommt. Dies hätte die seit einigen Jahren verwittwete Brautmutter wirtschaftlich ruiniert. Ein hoffnungsvoll stimmendes Zeichen, denn damit gehören sie in Indien noch immer einer – zum Glück stark wachsenden – Minderheit an.

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Gerade in Kerala, zunehmend aber auch in den anderen Unionsstaaten Indiens gehören bestens ausgebildete junge Frauen mit Chancen auf vielfältige berufliche Karrieren heute schon fast zur Normalität. Wie auch im Westen erweist sich die Gründung einer Familie dann als die eigentliche Herausforderung. Beispiel gefällig?

Joseys Frau Lisa, heute 40 und Mutter zweier Töchter, 12 und 10 Jahre alt, mag hier exemplarisch dafür dienen. Sie hat sowohl Schule als auch Studium stets mit exzellenten Noten abgeschlossen und ist als post graduierte Oecotrophologin eine ausgewiesene Kapazität in Ernährungsfragen. Nach Ihrer Eheschließung im Jahre 2000 zog sie traditionell ins Haus ihres Mannes. Schnell kamen die beiden Mädchen zur Welt. Deren Erziehung und Ausbildung sowie der Haushalt, den sie sich mit ihrer Schwiegermutter teilt, bestimmen seither ihr Leben. Sie kommt eher selten mal aus dem Haus und wenn, dann zum Kirchgang oder zu Besorgungen in die nahegelegene Stadt, zu Feierlichkeiten oder Kurzbesuchen von Familienangehörigen.

Auch wenn sie sich große Mühe gibt, so merke ich ihr deutlich an, dass sie mit der Situation oft nicht wirklich glücklich ist. Obwohl sie ihrer Spezialisierung folgend seit längerem Kochkurse in keralischer Küche für westliche Gäste eines befreundeten Hotels anbietet, sie Josey in Marketing und Buchhaltung unterstützt, ist sie doch in ihrem Leistungsstreben und ihrer Leistungsfähigkeit weitgehend unterfordert. „Leidtragende“ sind oft ihre Töchter, die von der Mutter zu Hause durch Intensivst-Betreuung zu Bestleistungen in der Schule geführt werden. Zudem ist es ihr noch nicht gelungen, trotz ihrer hervorragenden Abschlüsse und Fähigkeiten wieder ins Berufsleben zurück zu kehren. Einen unlängst bestrittenen Test für einen Job hat sie zwar als eindeutig Beste absolviert. Genommen aber wurde dann „auf Empfehlung“ eines höheren Regierungs-Beamten die zweitplatzierte Bewerberin…

Eine nicht untypische Geschichte – sicher nicht nur für Indien, oder?

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Selbst im für das heutige Indien vergleichsweise wohlhabenden Kerala verfügt nach wie vor nur eine kleine Minderheit in der Bevölkerung über einen privaten PKW. Allerdings sieht man hier keine Ochsenkarren mehr wie im benachbarten Tamil Nadu oder Fahrrad-Rikschahs sowohl zum Lasten- als auch zum Personentransport, wie in weiten Teilen Indiens noch immer üblich. Exzellent, zumindest von der Flächenabdeckung und der Frequenz – weit weniger vom Komfort her – ist wie überall in Indien daher auch hier der örtliche Nahverkehr in Form eines unglaublich engmaschigen Busnetzes. Und wo es wirklich mal endet, da stehen die dreirädrigen „Auto-Rikschahs“ mit wahren Tausendsassas am Steuer, die einen noch in den letzten Winkel bringen. Der Besonderheit der Backwaters geschuldet, wird dieses System hier konsequent auch auf den Kanälen ergänzt. Zunächst in Form von Linienbus-Booten, die mit ihrer Geschwindigkeit eine ganz schöne Welle machen. Daran  schließen sich sowohl staatliche und jede Menge (geringfügig kostenpflichtiger) privater Fähren über die Kanäle an. Zu guter Letzt kann man sich mit privaten motorisierten Booten oder kleinen Kanus noch in die letzte Ecke der Idylle schippern lassen. Und das alles zu meist unverschämt günstigen Preisen. Da sind die 5 – 7 Rupien für einen Tee, den es ab 5:00 Uhr morgens an allen stärken frequentierten Punkten gibt, locker drin. Bei der Bestellung muss der Gast immer daran denken, „withouté“ oder „No sugar!“ deutlich herüber zu bringen. Ansonsten ist der stets frisch zubereitete Tee oder auch Kaffee so süß, dass ihn der Durchschnitts-Europäer eher nicht genießbar findet.

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