Das bedrohte Paradies – wohin nur mit dem Müll?

Nach einem mehrstündigen Spaziergang am Strand von Kollam und danach durch viele Straßen, die wohl kaum mal ein Tourist betritt, sitze ich mit einem einheimischen Freund im „Indian Coffee House“ der Stadt und bin doch sehr nachdenklich. Kerala, das mir so ans Herz gewachsene „eigene Land Gottes“, wird genauso von einem der wichtigsten Probleme unserer ach so zivilisierten Welt – wohin nur mit den immer größeren Müllmengen? – heimgesucht, wie andere Regionen unseres Planten auch.

Ich sehe vor meinem geistigen Auge die riesigen Müllhalden von Lima vor mir, in denen Tausende von Menschen nicht nur den Müll trennen, d.h. nach Verwertbarem durchsuchen, sondern samt ihren Familien auch leben (müssen). Als begeisterter Taucher sehe ich in Ägypten auf der Fahrt zu den besten Tauchplätzen des Roten Meeres die wunderbaren Wadis und dahinterliegenden zerklüfteten Bergmassive von einer wahren Schicht aus vom Winde zerrissenen Plastiktüten und anderem Zivilisationsmüll bedeckt. Im Meer verenden viele Schildkröten und andere Lebewesen jämmerlich an diesem Müll, weil sie ihn mit ihrer eigentlichen Nahrung verwechselt haben. Auch bei der gerade hinter mir liegenden Radtour durch das im April sehr heiße Tamil Nadu quollen die ausgetrockneten Flussläufe förmlich über von den menschengemachten, von der Natur nicht zu verarbeitenden Abfällen. Aber Kerala, was hat das mit Kerala zu tun?

Die ganzjährige üppig grüne tropische Pracht ist seit Menschengedenken das, was Kerala ausmacht. Sie zieht, wie mich auch, Menschen aus der ganzen Welt an. Aber sie verdeckt auch vieles, was einem anderen Ortes sofort ins Auge springt. Hier muss man etwas genauer hinschauen. Aber dann findet man in den Kanälen, an den Stränden, den Straßen und Höfen dieselben Probleme, wie anderswo auch.

So sitzen wir beiden Weltverbessern-Woller nun also bei einem wunderbaren Strong Kerala Coffee, serviert in einer hier gar nicht üblichen Porzellantasse (!), und überlegen, woher das kommt, wohin das führen soll und wie jeder Einzelne mithelfen kann und muss, damit das Paradies nicht weiter belastet wird.

Die moderne Konsumgesellschaft, die mit ihrem Verpackungswahnsinn auch Indien erreicht hat, werden wir beide bei allem vorhandenen Selbstbewusstsein und gutem Willen nicht aufhalten. Dafür lässt sich der Mensch doch zu gern von bunten Versprechen der Werbung verführen. Beide, Industrie und Werbung werden die bestehenden Probleme eher noch verschärfen und damit, was gut ist, auch den Handlungsdruck auf die politisch Verantwortlichen.

Das ist nach Meinung nicht nur meines aktuellen Gegenübers auch bitter nötig, denn aus deren Lebenserfahrung geht es indischen Abgeordneten – egal auf welcher Ebene -, einmal gewählt, nur um die Absicherung ihrer Wiederwahl und die Mehrung der Pfründe für sich und ihre Familien. Darüber hinaus, an die Lebensbedingungen für die nächste Generation etwa, denke hier keiner. Im Großen wie im Kleinen gehe es jedem nur um sein eigenes Ich im Hier und Heute.

Und wenn man sich mal umschaut? Er hat Recht. Wie seit Generationen gelernt, so wird auch heute mindestens einmal am Tage das eigene Haus, der Garten oder das kleine Geschäft gefegt. Die Fürsorge endet auf dem Bürgersteig, da wo so etwas wie der öffentliche Raum beginnt. Dorthin wird alles abgeladen und da bleibt es, bis der Wind es wieder zurück oder sonst wohin bläst. Ist der Haufen aus organischem, Plaste- und anderem Müll groß genug, wird er angezündet und unter erheblicher Geruchs-, Ruß- und sonstiger Schadstoffentwicklung mehr oder weniger abgefackelt. Dieses Vorgehen ist traditionell und findet  täglich millionenfach am Rande indischer Straßen statt. Was früher relativ unbedenklich war, wird heute gedankenlos fortgeführt. Was nicht verbrannte, wird mit neuem Müll angereichert, erneut abgefackelt usw. usf. Und einmal im Jahr kommt der Monsun und spült alles weg! Dafür, dass sie die kommenden Regenmassen auch aufnehmen und abtransportieren können, werden im April und Mai dann seit den Zeiten der Maharajas die total verdreckten Monsunkanäle in den Orten gereinigt. Und über die Flüsse landet die Brühe dann irgendwann im Meer. So war es immer, sagt resigniert mein Gegenüber. So darf es aber nicht bleiben, stellen wir beide entschieden fest.

Er war erst vor kurzem in Singapore und von der dortigen Sauberkeit schwer beeindruckt, fand sie fast schon übertrieben und unter keinen Umständen auf Indien übertragbar. Wieso eigentlich? Weil dort zwei Dinge funktionierten, die mit der indischen Mentalität nicht in Übereinstimmung gebracht werden können, zumindest noch nicht, ist er traurig überzeugt. Erstens eine akkurat funktionierende kommunale Müllentsorgung und zweitens hohe Geldstrafen für diejenigen, die den Reinheitsgeboten zu wider handeln.

Für den heutigen Tag, da muss ich ihm Recht geben, scheint das eine Utopie. Ich erinnere mich nur an die Selbstverständlichkeit, mit der Köche an den Garküchen und Teeständen die leeren Plastik-Milchtüten und – Verpackungen ins Feuer gleiten lassen oder Straßenhändler, bei denen ich eine neue Wasserflasche kaufte, auf meine Frage, wohin denn mit der leeren, mit lässiger Handbewegung auf das Irgendwo des öffentlichen Raumes verwiesen…

Gefragt, wie wir es denn in Deutschland machten, fällt mir neben der funktionierenden Müllabfuhr, Mülltrennung und Recycling noch unser Pfandsystem auf Getränkeverpackungen aller Art ein. Als ich ihm das erkläre und er sich die Umsetzung dieses als Bestrafung empfundenen Vorgehens unter den indischen Kleinsthändlern vorstellt, schüttelt er nur ungläubig den Kopf und ich höre so etwas wie „Eher haben wir eine eigene indische bemannte Marsmission!“ Soviel zur emotionalen Hürde, die noch vor der praktischen zu nehmen ist.

Auch wenn die Herausforderung gewaltig erscheint, so bin ich mir sicher, dass die heran-wachsende Generation dafür Lösungen finden wird und dass „Gottes eigenes Land“ auch künftig mit seiner Schönheit Einheimische und Gäste betören wird. Der hierzu nötige Bewusstseinswandel sowohl bei jedem Einzelnen als auch der Gesellschaft als Ganzes wird in Zeiten zunehmender internationaler Verflechtungen und Abhängigkeiten schneller passieren, als sich das heute noch viele hier vorstellen können. Sie werden gar nicht anders können – im besten wohlverstandenen Eigeninteresse.

Indiens wunderschöne Strände sind bisher nur zu einem sehr kleinen Teil touristisch erschlossen, jedoch in ihrer gesamten Länge von 7.500 km gerade durch die globale Vermüllung der Meere bedroht. Die Eroberung dieses schönen Teiles ihrer Heimat durch die Inder beginnt gerade erst. In dem Masse, wie sie den Erholungswert gerade auch der Strände erkennen, wird sich auch das Bewusstsein und die Verantwortung für ihren Schutz entwickeln. Man wird nach den Ursachen fragen, die Eigenverantwortung erkennen und die richtigen Maßnahmen einleiten. Und diese werden weit entfernt in jedem indischen Haushalt, jeder Gemeinde beginnen.

Zum Nutzen aller, sowohl der Menschen, der bedrohten Tiere als auch zum Schutz ihrer Lebensräume.

Wetten dass?

Leave a Reply