Hört der Monsun denn gar nicht auf?

Beim morgendlichen Landeanflug auf den Internationalen Flughafen von Cochin tauchen wir zuerst in eine beängstigende grau-schwarze Wolkenwand. Kurz darauf beschlagen die Scheiben. Es ist eine gespenstische Landung, zumindest sind alle um mich herum selten still und in sich gekehrt. Draußen, wo normalerweise ein sonniger Morgen einen heißen Tag einläutet,  ist es unwirklich dunkel. Heftige Schauer werden nur von kurzen trockenen Momenten unterbrochen.

Als ich Ende Mai wieder gen Deutschland aufbrach, habe ich noch den ersten vollen Monsuntag miterlebt. Er wurde nach all der vorangegangenen Hitze mit großer Vorfreude erwartet und besonders von den Kindern, die aus dem heftigen warmen Regen und den sich augenblicklich bildenden kleinen Seen gar nicht mehr heraus wollten, geradezu stürmisch begrüßt. Das Bild hat sich nun, Ende Oktober, gründlich gedreht. Die sonst so entspannten, oft lachenden Keraliten haben eine von mir vorher so noch nicht beobachtete Schwere im Blick. Klar sind sie wie immer freundlich, auch wird weiterhin viel gelacht, aber über allem schwebt eine bisher unbekannte Ernsthaftigkeit, ja Anspannung. Die Kinder, die sich sonst wie überall über den Unterrichtsausfall gefreut haben, sind nach dem wochenlangen Not-frei sehr ernsthaft bei der Sache, sich den Lehrstoff anzueignen, denn die nächsten Prüfungen wollen sie doch meistern hier im Vorzeige-Bildungsstaat.

Auf dem Weg nach Cochin kommen wir nur langsam voran, da überall gebaut wird. Die Umgehungsstraße erkenne ich kaum wieder. Sonst das erste Stück modern 4-spurig ausgebauter Straße in Kerala, weist es nun kraterhafte Schlaglöcher aus. Besonders die Zu- und Abfahrten zu den Brücken über den Vembanad See sind mit normalen PKW eigentlich nicht zu meistern. Und das geht besonders auf den kleinen Straßen zu den Dörfern so weiter. Viele standen über mehrere Wochen mehr oder weniger unter Wasser. Die auch unter diesen Bedingungen (fast) immer verkehrenden öffentlichen Busse – sonst ein Segen – erwiesen sich nun als große Zerstörer. Die Instandsetzung hat punktuell begonnen, aber es wird lange dauern, um nur die schlimmsten Schäden zu beseitigen. Andere geplante Projekte zum Ausbau der Straßen-Infrastruktur müssen warten.

Die von den Menschen über Jahrhunderte geschaffene Kulturlandschaft prosperiert vor allem wegen des ausgeklügelten Kanal- und Deichsystems zur Be- und Entwässerung der unter dem Meeresspiegel liegenden ausgedehnten Reisfelder. Die oft nicht mehr neuesten Deiche konnten an vielen Stellen den seit Menschengedenken größten Fluten in den Kanälen nicht standhalten, brachen an vielen Stellen und vernichteten erhebliche Teile einer vorher vielversprechenden Reisernte. So wie meinem Partner Josey erging es vielen Bauern, die einen großen Teil ihrer Jahreseinkünfte, manche einen Komplettausfall hinnehmen mussten. Von staatlichen Hilfen, wie sie für die Bauern in der EU in vergleichbaren Situationen üblich sind, träumt man hier nicht einmal. Man hilft sich so gut es geht gegenseitig. Eine von einigen Farmern angeregte Versicherung gegen diese Form des Ernteausfalles konnte noch immer nicht auf den Weg gebracht werden, da dazu alle beteiligten Farmer zuzustimmen haben. Nicht wenige verweigern dies, da sie die dazu notwendigen Summen einfach nicht besitzen.

Inzwischen wird überall sichtbar an der Vorbereitung der Felder für die neue Aussaat gearbeitet. Das Leben geht scheinbar weiter, wenn da nur nicht der immer wieder einsetzende heftige Regen wäre, den der gesättigte Boden schon lange nicht mehr aufnehmen kann. Da die Kanäle weiterhin übervoll sind, kommt es  immer wieder zu zumindest temporären Überflutungen von Ackerland, Häusern und Straßen. Eigentlich sollte der Monsun in diesem Teil Indiens längst vorüber sein und so langsam stellt man sich auf der anderen Seite der Western Ghats in Tamil Nadu auf den Suedost-Monsun ein. Warum der aber auf sich warten lässt und der hiesige nun noch immer auf der „falschen“ Seite sein Unwesen treibt, darüber rätseln nicht nur die betroffenen einfachen Leute, sondern auch die scheinbar ratlosen Wissenschaftler.

Die Unbilden der Natur haben aber nicht nur im Großen und Ganzen zu teilweise katastrophalen Folgen geführt. Das wird in den Dörfern dann sehr schnell sehr konkret. Neben den erheblichen Einkommenseinbußen für meinen Partner Josey durch die Flutung seines Reisfeldes wurden auch an seinem 100-jährigen Haus massive Schäden durch die wochenlange Teilflutung angerichtet. Da er, wie alle hier, keine entsprechende Versicherung besitzt, gehen die notwendigen Instandsetzungsarbeiten voll zu seinen Lasten. Daraus wiederum ergibt sich, dass der geplante Bau zweier traditioneller Lehmhütten auf seiner Gewürzplantage warten muss. Wir werden unseren Gästen also frühestens in zwei Jahren dieses Angebot, sowie damit in Verbindung Trekkings in die Regenwälder der Western Ghats anbieten können.

Gleich in der ersten Woche nach meiner Ankunft im Dorf wurde ich zudem Zeuge eines Selbstmordes eines Kleinbauern ganz in der Nähe. Bei einer abendlichen Fahrrad-Runde in einem der Regenfenster wunderten Josey und ich uns über einen ungewöhnlichen Menschenauflauf auf der Straße. Auf Nachfrage erfuhren wir, dass sich der Hauseigentümer kurz vorher das Leben genommen hatte. Offenbar tat er dies aus Verzweiflung über die für ihn ausweglose Situation nach den Totalverlusten durch die Flut und die sich vor ihm auftürmenden Schulden. In die Stimmung allgemeiner Betroffenheit hatte sich aber auch schon so etwas wie Erleichterung gemischt, denn zumindest er hatte hinter sich, womit sich viele hier noch lange herumschlagen werden.

Am Folgetag wurde ich eher zufällig Zeuge der auf mich bizarr anmutenden Bestattungskultur in der hiesigen Hindu-Gemeinschaft. Wohl kenne ich den Brauch der Leichenverbrennung an den Ufern der heiligen Flüsse Jamuna und Ganges in Nordindien, jedoch fällt es mir schwer, das hier Gesehene einzuordnen. Da im konkreten Fall kein Geld für die Beschaffung der Mindestmenge an Brennholz verfügbar war, wurde vor dem Haus des Toten direkt am Straßenrand und gegenüber eines von mir fast täglich besuchten Tee Standes ein altes Ölfass waagerecht auf großen Steinen aufgebaut. Darin wurde die Leiche fixiert und die Hohlräume mit Reisstroh ausgefüllt. In die runden Seitenbleche waren kleine Löcher für die Luftzufuhr geschnitten und oben drauf waren drei kleine Ofenrohre gesetzt. Nach dem Anzünden hüllte sich der Bereich rund um das Fass minutenlang in weißgelblichen, süßlichen Rauch, den die versammelten Angehörigen und Freunde teils stumm, teils wehklagend ertrugen. Nach der Zeremonie wurde der erstaunlich geringe Ascherest auf seinem Feld verstreut…

Heute kamen wieder gewaltige Wassermengen vom Himmel herab. Allein bei meiner kleinen Morgenrunde auf dem Rad wurde ich zweimal komplett „geduscht“. Alle hier fragen sich, wann das wohl endlich vorbei sein wird und jeder wieder in seinen gewohnten Rhythmus wechseln kann?

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