Familientreffen

Bei einer unserer Samstag morgen-Radrunden machen wir Halt bei Joseys Bruder auf eine Tasse Tee. Seine Schwägerin Reena ist schon ganz aufgeregt wegen der am Abend stattfindenden Taufe eines weiteren Sprosses im für mich nicht  annähernd überschaubaren Familienverbund. Es handelt sich um einen kleinen Jungen, der noch dazu heute seinen Jahrestag hat. Das Taufergeignis hat sich etwas verzögert, da sein Vater als Ingenieur in Dubai arbeitet und nicht eher freigestellt wurde. Ohne mich groß zu fragen wird beschlossen, auch mich auf das abendliche Familientreffen mitzunehmen.

Ich benötige mehrere Anläufe, um den eifrigen Erklärungsversuchen von Reena und Josey zu folgen, wer denn eigentlich der Täufling ist und in welchem verwandschaftlichen Verhältnis sie zueinander stehen. Um dies möglichst einfach darzustellen, fange ich am besten mit Joseys Mutter an. Sie und der Großvater des Täuflings sind Cousine und Cousin. Der Vater des Jungen und Josey sind Cousins zweiten Grades und der Täufling selbst und Joseys Töchter sind also Cousins und Cousinen dritten Grades. Das wird hier im südlichen Indien – ernsthaft – zur engeren Verwandschaft gezählt, die sich auch mehrmals im Jahr bei Familienfeiern trifft.

Erst ab dem vierten Grad sind es dann etwas entferntere Verwandte, die man aber natürlich kennt und hin und wieder auch trifft. Bis in die Generation von Joseys Eltern, der heutigen Großelterngeneration, hatten alle Paare 4-5 Kinder. In der heutigen Elterngeneration sind es noch immer 2-3. So wird auch nachvollziehbar, dass bei Treffen des „Clans“ schnell mehrere Hundert Mitglieder zusammenkommen. Hand auf’s Herz, wer von uns in Deutschland hat denn heute noch Kontakt über die Ebene von Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen des ersten Grades hinaus? Bei mir selbst tut sich da eine riesige Wissens- und Kontaktlücke auf. Vielleicht ist diese aber nur meinen ganz persönlichen Umständen geschuldet, dass es mich immer mehr in die Welt hinaus gezogen hat, als in den Schoss der erweiterten Familie? Dafür bin ich aber auch ein zunehmend von allen anerkanntes Mitglied der hiesigen großen Familie. Ein Vorteil, den ich sehr zu schätzen weiß und den ich nicht mehr eintauschen werde.

Da wir tagsüber mit dem Vorbereiten des Saatgutes fuer die unmittelbar bevorstehende Aussaat auf Joseys Reisfeld beschäftigt waren, kamen wir erst bei der Feier an, als die Taufe schon Geschichte war und alle sich gerade über das wie immer übervolle Buffet hermachten. Wir taten es den anderen gleich und genossen wie meist viel zu viele der angebotenen Köstlichkeiten. Zum Glück sitze ich täglich zwei oder mehrere Stunden auf dem Fahrrad und habe daher einen entsprechenden Kalorienbedarf. Auch bevorzuge ich Vegetarisches und halte mich von den ultra-süsßen Verlockungen meist fern, so dass es halbwegs passt.

Apropos Saatvorbereitung. Konkret ging es um das Wässern von etwa einer Tonne Reis in einem Kahn im Kanal direkt vor Joseys Haus. Die Arbeiten haben zwei von Josey saisonal beschäftigte Landarbeiter gemacht. Er selbst und sein Verwalter haben die Arbeiten beaufsichtigt und hin und wieder Anweisungen gegeben. Ich selbst habe mich bemüht, zumindest nicht im Wege zu stehen und, wenn denn gewünscht , Wasser oder Tee aus der Küche zu holen, was dankbar von Arbeitenden und Beaufsichtigenden gleichermaßen honoriert wurde.

Auch wenn die körperliche Arbeit hier in den Tropen immer mit intensivem Schwitzen verbunden ist, so habe ich den Eindruck, dass Josey durchaus ein geschätzter Arbeitgeber ist und die Landarbeiter gern bei ihm arbeiten. Im Gegensatz zu anderen ist er oft persönlich vor Ort und  kümmert sich um das Wohl seiner Arbeiter. So holt er sie, da oft Analphabeten, aus anderen Unionsstaaten, wenn nötig über hunderte Kilometer persönlich ab. Nach allem, was ich beurteilen kann, scheinen sie mit Bezahlung, Unterbringung und Verpflegung durchaus zufrieden zu sein. Dies bestätigen sogar die lokalen Vertreter der hier sehr (laut)starken, klassenkämpferischen Linken aus den beiden kommunistischen Parteien KPI und KPI(M), die über 50 Jahre den Unionsstaat regiert haben, seit 3 Jahren aber die Oppositionsbank drücken. So wie hier stelle ich mir gelebte Sozialpartnerschaft zum Vorteil für beide Seiten vor.

Dabei muss ich mich daran erinnern, wie schwer es mir als in der DDR sozialisiertem Menschen am Anfang fiel, zu akzeptieren, dass es gut ist, wenn mir in meinem Haus in Neu Delhi eine ganze einheimische Familie als Haushaltshilfe zur Verfügung steht, ich quasi als Arbeitgeber Verantwortung für das Schicksal einer einheimischen Familie trage und die Reinigungs-, Besorgungs- und anderen Arbeiten nicht, wie von zu Hause gewohnt, selbst machen darf. Da brach zunächst langsam und etwas schmerzhaft, dann aber endgültig das gelernte klassenkämpferische Modell vom bösen Ausbeuter und den armen ausgebeuteten Arbeitern zusammen. Wie dankbar war Mr. James, dass er bei uns arbeiten durfte und wie oft haben wir, wenn die Arbeit getan war, ein Bier oder einen Whisky geteilt. Die Welt ist eben nicht Schwarz-Weiss, sonder will in ihren tausenden Grautönen dazwischen erlernt, erlebt und gemeistert werden.

Zurueck zur Feier. Nach dem Fressen das grosse Palaver, geteilt in Männer (unter sich), Frauen (unter sich, die ganz Kleinen auf dem Arm, die etwas Älteren argwöhnisch verfolgend) und Kindern (ständig genervt und kommandiert durch besorgte Mütter, Tanten etc.). Es ist also wie immer, oder doch nicht ganz. Unter der Woche haben Joseys anwesende Eltern das in Indien eher seltene Fest der Goldenen Hochzeit im engsten Familienkreis (75 Teilnehmer) begangen und empfangen heute von allen anderen Angereisten in ausufernden Reden die besten Wünsche. Sie sind die eigentlichen Hauptpersonen des Abends, da der kleine frisch getaufte Einjährige längst trotz all des Lärms entspannt schläft. Ehe alles besprochen ist und die unverzichtbaren Fotos geschossen sind wird es fast Mitternacht. Eine kleine Nebenrolle kam wieder mal mir zu als einzigem erkennbaren Nicht-Inder, noch dazu jetzt mit einem kleinen Pferdeschwanz. Geht das denn? Das war für viele echt ein Thema. Einige der Jungen, kurz vor oder schon in der Pubertät, werden demnächst ihre armen Mütter sicher gewaltig nerven mit dem Versuch, sich die Haare wachsen zu lassen. Auweia und sorry, liebe Mamas, aber der Jesus über Euren Eingangstüren fällt mir zumindest frisurtechnisch nicht in den Rücken…

Wir brechen auf in der Gewissheit, uns in nicht allzu ferner Zeit alle wieder zu sehen. Schön war es und schön wird es wieder werden.

Und morgen geht es weiter mit der Saatgutvorbereitung…

 

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