Was brauche ich noch, was nehme ich bloß mit?

Die klassische Frage, wenn man vor einer Reise steht, will immer wieder neu und möglichst richtig beantwortet werden. Gerade vor einer Radtour, noch dazu nach Indien, scheint dies wichtiger denn je. Wirklich? Aber nicht um die Dinge, die ich in meine Tasche packe, soll es hier gehen. Dazu habe ich schon anderswo nach bestem Wissen alles mitgeteilt. Nein, nach den ersten geführten Touren mit Gästen aus Deutschland und den deutsch sprechenden Nachbarländern scheint es an der Zeit, das zu besprechen, was wirklich wichtig ist.

Wohin fliegen wir eigentlich, was ist das für ein Land, dieses Indien? Und vor allem, auf was für Menschen treffen wir? Auf was bin ich bereit, mich einzulassen? Nun sind Radfahrer ja per se schon um des eigenen Wohlbefindens willen einmal Leute, die sich mit geschärften Sinnen durch die Lande bewegen, die Augen und Ohren stets offen halten. Und trotzdem prallen natürlich zwei unterschiedliche Welten mit völlig unterschiedlichen kulturellen Identitäten aufeinander. Darauf etwas vorzubereiten, darum geht es hier und nicht darum, die Liste dessen, was man dabei haben sollte, bis ins letzte Detail akribisch zu vervollständigen. Dazu nur kurz, dass weniger auch und gerade in diesem Fall eindeutig mehr ist, zumal man Fehlendes problemlos und günstig nachkaufen kann. Es gibt alles, und noch viel mehr. Nicht nur die in Europa medial omnipräsente Armut. Die auch, aber zuvorderst ein unfassbar überbordend reiches Leben, für das die uns gegebenen Sinne oft nicht ausreichen.

Zunächst interessieren uns Radfahrer natürlich – die Fahrräder. Diese braucht keiner mit nach Indien zu nehmen. Die sind schon da. Unsere sind, um höchsten Qualitätsansprüchen zu genügen, leider nicht aus Indien. Wir haben sie, wie fast alle Händler in Deutschland auch, in Taiwan eingekauft und stellen sie unseren Gästen gern zur intensiven Nutzung zur Verfügung. Nur schweren Herzens haben wir nach den selbst gemachten Erfahrungen die Entscheidung getroffen, auf das eigene Gefährt zu verzichten. Warum? Weil Einfuhr und Transport trotz größter eigener Sorgfalt mit nicht vorhersehbaren Erfahrungen verbunden sein können. Die schmerzhaftesten sind wohl die unsachgemäße Behandlung und die sich daraus ergebenden, vor Ort meist nicht reparablen Beschädigungen. Oder die Kollegen vom Zoll benötigen für die Herausgabe der Räder statt der einkalkulierten zwei Stunden mal eben zwei Wochen. In beiden Fällen ist die ursprüngliche Reiseplanung hinfällig. Wer sich an solchen Widerständen nicht stört und auch über ein genügend großes Zeitpolster verfügt, dem sei dieses Erlebnis dringend empfohlen. Da taucht man in die andere Welt mitunter schon vor der tatsächlichen Einreise so tief ein, dass es einer sehr gefestigten Persönlichkeit bedarf, um nicht gleich komplett unter zu gehen.

Daher und weil die meisten unserer „Weltenbummler“ nur über ein begrenztes Zeitfenster verfügen, treffen sie dann hier auf unsere Leihfahrräder. Diese sind bewährte und robuste Markenprodukte (Giant, Trek) mit erstklassigen Komponenten, was Schaltung, Bremsen und Bereifung angeht. Kein Wunder, dass sie bei den Einheimischen am Wegesrand immer für großes Interesse sorgen und wir auch oft der Bitte um eine kurze Probefahrt nachgeben. Die leuchtenden Augen der Probanden sind dann der schönste Dank.

Nach einer meist kurzen Phase der Anpassung haben sich die Gastbiker mit unseren rollenden Untersätzen noch immer – meist bestens – verstanden. Wenn sie von ihrem privaten PKW mal auf einen anderen umsteigen, so müssen sie sich ja dort auch erst auf die individuell durchaus unterschiedlichen Reaktionspunkte bei Kupplung und Bremse einstellen, ohne dabei die Funktionstüchtigkeit in Frage zu stellen. Ähnlich ist es hier. Dafür machen wir ja auch die anfängliche Ausfahrt zur Gewöhnung aneinander.

Mein Partner ist nicht ohne Grund stolz auf seine in Indien extrem seltenen Fahrräder. Er lernt beständig von westlichen Teilnehmern, da diese in der Heimat oft das modernste Equipment nutzen, von dem in Indien noch nicht einmal die Fachhändler etwas gehört haben. So wird er immer mehr für letztere zum wichtigen Ratgeber und Trendsetter. Auch wenn wir die oft beschriebene Perfektion der heimatlichen Räder wohl auf absehbare Zeit nicht erreichen werden…sei es drum! Wir sind noch immer sicher und ohne ernste technische Probleme ans Ziel gekommen und hatten unterwegs oft beeindruckende Erlebnisse. Es versteht sich, dass wir auch künftig alles von uns Abhängende tun werden, damit dies so bleibt. Versprochen!

Nach dem beinahe täglichen, hier immer schweißtreibenden Radfahren freuen sich alle auf ein schönes Bett in einem sauberen Zimmer und auf eine funktionierende Dusche. Dafür tragen wir Sorge, keine Bange. Mitunter aber weicht die Umsetzung vor Ort doch erheblich von den gewohnten europäischen Standards ab, was überhaupt kein Nachteil sein muss. Die Betten in Indien sind nicht nur für mich die wohl härtesten, im Ergebnis jedoch wohltuendsten auf dem Planeten. Viele Inder lieben es, auf einem Brett oder dem gefliesten Fußboden zu schlafen, oft ohne jede Polsterung. Krank werden sie davon nicht. Im Gegensatz zu vielen von uns haben hier selbst die Alten selten Schmerzen im Rücken oder den Gelenken. Auf Nachfrage führen sie dies auch auf die Art und Weise zurück, wie sie ruhen.

Unsere stets sauberen Zimmer sind meist relativ einfach eingerichtet. Da wir wenig mit uns führen, was zu verstauen wäre, passt dies. Leider nimmt in Indien die Sucht nach TV-Serien und immer neuen Bollywood-Schinken eher noch zu, was dazu führt, dass man überall und jederzeit auf einen Flachbildschirm trifft, so auch in allen Unterkünften, egal wo. Da in den Tropen, sind wir in fast allen Räumen nie wirklich ganz allein. Manche Reisende haben für alle Fälle ein Moskitonetz dabei. Gekkos an der Decke oder an den Wänden und mitunter kleine Kröten im Bad sollte man immer als Insekten vertilgende Freunde willkommen heißen.

Wo auch immer wir absteigen, die Eigentümer freuen sich auf uns, da sie von uns lernen wollen, besonders um die für sie nicht immer nachvollziehbaren westlichen Gewohnheiten besser zu verstehen. Vor kurzem eher noch die Ausnahme, gibt es nun fast überall die in den Tropen neben den Klimaanlagen auch völlig überflüssigen, noch dazu extrem energiefressenden warmen Duschen. Wir nutzen zur Erfrischung ausschließlich das meist überhaupt nicht kalte „Kaltwasser“, was wir auch allen Gästen wärmstens ans Herz legen. Wir treffen fast immer auf Handtücher im Bad und finden neben dem westliche WC meist Toilettenpapier, auch wenn sich keiner der Einheimischen vorstellen kann, wofür das sinnvoll sein soll in Anbetracht der daneben befindlichen traditionellen Dusche…

So sind wir denn beim entscheidenden Faktor einer jeden Reise – den beteiligten Menschen. Da sind zunächst die einheimischen, die uns so überwältigend offen, entspannt und freundlich gegenüber treten, dass dies oft den ersten wirklichen Schock für viele unter uns verursacht. Nach der für mich selten nachvollziehbaren, selektiven Indien-Berichterstattung in den westlichen Medien benötigen dann selbst meine temporären Begleiter – durchweg gebildete, weltoffene und tolerante Bürger – ihre Zeit, um sich mit der Realität anzufreunden.

Beginnen wir in Bombay, heute offiziell Mumbai genannt. Bereits auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel und besonders bei unserer Tour durch einige Viertel der Stadt kommen wir in Bereiche, die bei uns abwertend  – warum eigentlich? – Slums genannt werden. Hier geraten wir immer wieder in Situationen, die für uns offensichtlich schwieriger zu meistern sind, als für die, die dort – gerne – leben. Ganz selbstverständlich dürfen wir in geradezu intime Bereiche vordringen, nehmen staunend zur Kenntnis, auf welch engem Raum sich das Leben hier abspielt und wie sauber die privaten Räume sind. Das hätte von außen wohl keiner von uns erwartet. Aber haben nicht selbst oft unsere Großeltern, oder zumindest deren Eltern vor nicht langer Zeit hier in Deutschland unter ähnlichen Bedingungen ein würdevolles Leben gelebt?

Auch wenn wir die Sprache Marathi meist nicht verstehen, so spüren wir doch das intensive familiäre und nachbarschaftliche Miteinander, ohne welches das Leben hier sicher nicht machbar wäre. Und wir begreifen so ganz, ganz langsam und doch nur sehr bruchstückhaft, warum die hier Lebenden so gar nicht begeistert sind von den überall sichtbaren und mehr und mehr um sich greifenden Modernisierungen, gerade auch in Mumbai. Überall werden die Slums abgerissen und es entstehen zum vermeintlich Besseren der Bürger – für viele unbezahlbare – nette gesichtslose neue Appartment-Komplexe. Diese jedoch bedrohen, ja sie zerstören oft die gewachsenen sozialen Strukturen, die für viele die Heimat nicht nur bedeuten, sondern diese auch sind. Was soll all der Komfort, so fragen sie, wenn er unbezahlbar ist und vor allem, wenn man nicht mehr über den Gang mit den Nachbarn reden, streiten, feiern oder trauern kann?

Dem Charakter unserer Tour geschuldet machen wir immer wieder am Wegesrand kurze und zum Mittag definitiv längere Pausen. Unvermittelt kommen wir dabei in Kontakt auch mit denen, die in direkter Nachbarschaft zu den vielen Baustellen des aufstrebenden Indiens kampieren, meist nur in Zelten, oder noch deutlich ärmlicher. Fast immer werden die auf dem Bau schuftenden jungen Leute, Männer wie Frauen von einer für uns die Grenzen des Vorstellbaren sprengenden Kinderschar begleitet. Letztere sind zunächst oft schüchtern, aber schnell immer begeistert, wenn sie mit uns Fremdlingen und unseren Fahrrädern, für sie ein unerreichbarer Luxus, ja ein Traum, zusammentreffen. Auch wenn sie im Auge des westlichen Reisenden wohl eher arm erscheinen, so betteln sie doch nicht. Im Gegenteil, sie scheinen in ihrer Gruppe einen glücklichen Tag zu verleben und tun sich sichtbar schwer, als wir ihnen Teile unseres zu üppig ausgefallenen Mittagessens anbieten. Reiche Inder tun dies niemals. So amüsieren sie sich sichtlich über uns seltsame radfahrende Typen und spielen weiter. Unterernährte Kinder haben wir hier im Süden Indiens übrigens nicht getroffen. Dafür immer ausgelassen spielende, wissbegierig lernende und offensichtlich glückliche!

In welchem Gegensatz  zum beschriebenen Erlebten stehen dann immer wieder die Äußerungen einiger zugereisten Radler. Da gibt es durchaus ehrlich besorgt stets die Fragen, ob denn das Begleitfahrzeug bei jedem Stopp wegen der darin befindlichen Wertsachen und Gepäckstücke auch immer abgeschlossen sei oder ob wir am Abend die Fahrräder nicht ordentlich sichern wollten. Das tun wir natürlich unterwegs immer, auch weil wir so hilfreiche Sekundanten haben. Bisher ist uns bei unseren Touren in Indien noch nichts abhanden gekommen. Mir persönlich sind Fahrräder leider, obwohl gut gesichert, bisher nur in Deutschland geklaut worden…

Unlängst beschloss mein Partner Josey, kurzfristig seine Pläne ändernd, zum Abschluss einer Tour für die letzte Nacht in seinem Haus einem Gast ein Zimmer anzubieten. Dazu musste eine seiner Töchter ihr eigenes frei machen und bei den Großeltern schlafen. Als der Teilnehmer sich ob der aus seiner Sicht sehr großzügigen Geste überschwänglich bedankte, winkte sie nur trocken ab mit dem Hinweis „Unser Haus ist so groß. Da gibt es soviel Platz zu Schlafen, kein Problem!“. Das war durchaus ehrlich gemeint. Es hat den Europäer sichtlich beeindruckt, zumal er das, offensichtlich die eigenen Verhältnisse reflektierend, bis dahin so wohl nicht gesehen hatte. Für die kleine Inderin war es eine Selbstverständlichkeit. Sie hat mich danach nur verwundert gefragt, warum der Gast so viel „Wind“ um diesen Fakt mache?

Warum schildere ich all dies so ausführlich? Weil es erlebte Realität ist und beispielhaft steht für die aus unserer Sicht wichtigste Komponente im Reisegepäck eines jeden für eine gelungene Tour. Es geht um das Loslassen von den gewohnten Abläufen, das Sich-Einlassen auf Neues und Anderes, sei es bewusst oder situativ. Lassen Sie Ihren seelischen und anderen Ballast am besten schon zu Hause oder streifen Sie ihn jeden Tag während des Radfahrens Stück für Stück ab.

Neugier, Offenheit und Toleranz jedoch sind die Dinge, von denen man einfach nicht genug im Gepäck haben kann! Also freuen Sie sich bei jeder Ihrer bevorstehenden Reisen darauf, dass vieles  garantiert nicht so, wie in Deutschland ablaufen wird. Der gewohnte Trott hat Sie dann sicher schneller wieder eingeholt, als es Ihnen lieb sein wird.

Vielleicht, nein ganz bestimmt gehen sie dann auf andere, wohl deutlich entspanntere Weise mit ihm um!

 

 

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