Eine Zugfahrt…

…ist meist langweilig, eintönig etc. Unsere ist das mit Sicherheit nicht! Zumal der von uns gebuchte Shatabi Express 12051 nach Margao/Goa ohne jede weitere Vorwarnung jeden Morgen pünktlich ab 05:25 Uhr vom zwar nüchternen, aber ob seiner steten und lauten Reisenden-Frequenz  doch beeindruckenden Dadar Terminus  seinen Weg von Bombay gen Süden aufnimmt.Los geht es für uns viel früher in Colaba in Bombays Süden im Garden Hotel, je nach funktionierendem Wecker ab 3:30 Uhr! Ab diesem Zeitpunkt schaffen es die sonst oft müden Kollegen vom Service – im Gegensatz zu ihrer oft faden Tagesleistung – tatsächlich, richtig guten Kaffee und Tee in die Tassen zu bringen! Ist es das in Aussicht stehende exorbitante Trinkgeld oder funktionieren unsere Sinne nur noch nicht so ganz richtig – oder beides?

Egal, die seit dem Vorabend sicherheitshalber einbestellten und nun tatsächlich bereiten Taxifahrer teilen kurz den ersten Tee des Tages und bringen uns sodann in vergleichsweise entspannter Fahrt zum Startpunkt unserer weiteren Reise. Leider geht es nicht mehr zum architektonisch einmaligen, von der Unesco mit dem Titel des Weltkulturerbes geadelten pulsierendsten Bahnhof Asiens Victoria Terminus (oder neu Chhatrapati Shivaji Terminus), sondern etwas weiter nördlich „nur“ noch zum vergleichsweise gesichtslosen Dadar Terminus, etwas weiter nördlich gelegen.

Noch im Taxi sitzend wird der Gast aber von den „hilfsbereiten“ Trägern aus der persönlichen Dämmerung, so sie denn noch andauert, in den neuen Tag befördert. Wir sind mit einem Mal im hier stets  pulsierenden Bombay und müssen sofort klären, zu welchen Konditionen wir gewillt sind, uns und unser Gepäck zum vermeintlich nicht erreichbaren, jedoch – wie wir nach zwei Minuten und um das kleine Vermögen von mehreren Hundert Rupien erleichtert erfahren – nur gut 100 Meter entfernten Bahnsteig zu bringen.

Im Zug, da er hier eingesetzt wird, ist es noch erstaunlich übersichtlich. Wir haben keine Mühe, unsere gebuchten Sitzplätze zu finden und auch unser Gepäck für die nächsten mehr als acht Stunden „sturmsicher“ zu verstauen. Wir haben, wie die Mehrzahl der Reisenden unsere Sitzplätze im Wagen 2. Klasse ohne Klimaanlage gebucht, da die frische Brise durch die stets geöffneten Fenster völlig zureichend ist. Unsere Sitze in den 3er-Reihen zu beiden Seiten des Ganges sind für unsere Körpermaße als aktive Radfahrer beinahe maßgeschneidert. Andere Gäste mögen das schwitzend anders sehen und ihre gewichtigen Gründe dafür ins Feld, resp. auf den Sitz führen. Pech gehabt, oder eben nicht!

Die Ventilatoren laufen bereits auf Volllast, was jetzt noch völlig unnötig, später aber mitunter unzureichend ist. Die leuchtend blauen Kunststoffbezüge der Sitze lassen bereits erahnen, welche Erlebnisse den frisch geduschten Mitteleuropäer später am Tage noch erwarten werden. Im Moment jedoch bleibt sogar für einen weiteren süßen Tee und einige Snacks auf dem Bahnsteig Zeit, ehe es zunächst gen Norden durch den Ballungsraum von Groß-Bombay auf den Weg nach Goa geht.

Bereits mit dem ersten Halt füllt sich unser Abteil in einer Form, die man zu Hause höchstens mal zu besondere Feiertagen erlebt. Aber wer nicht gerade wie ich am Gang sitzt, kommt vergleichsweise ungeschoren davon, wenn sich die Einheimischen zu ihren doch angeblich vorgebuchten Plätzen durchkämpfen. Obwohl fast alle zusteigenden Mitreisenden über Platzkarten verfügen, dauert es nach jedem Stopp jeweils 15 -20 Minuten, ehe alle zu ihren jeweiligen Abteilen und Plätzen gefunden haben. Sowohl die Wagen-, und auch Sitzplatzanordnungen sind bereits auf den Bahnsteigen ausgewiesen. Daran hält sich aber kaum eine(r) und das nicht immer nur lustige und völlig vermeidbare Geschubse beginnt meist schon vor der Abfahrt des Zuges.

Seit der Abfahrt sitze ich neben einem Einheimischen und seiner betagten Mutter. Beide sprechen – nicht gerade üblich –  ein sehr gutes Englisch und lesen auch die entsprechenden Morgenzeitungen. So kommen wir schnell ins Gespräch und vertiefen uns alsbald in den innenpolitischen Sumpf, was dazu führt, dass ich in eine eher unangenehme Lage gerate. Denn mein Gegenüber erklärt mir recht ungestüm, dass er als eigentlich rechtschaffener Bürger verzweifelt sei ob des Auftretens der lokal wie im übrigen auch national verantwortlichen Politiker. Wenn er nur simpelste Anliegen voranbringen möchte, so gehe dies nicht, ohne die Verantwortlichen zu  bestechen, Ihnen mehr oder weniger erhebliche Summen zukommen zu lassen. Er finde dies beschämend und wünsche sich statt der unfähigen indischen Politiker wieder solche vom Schlage der einstigen britischen Kolonialverwaltung, oder  besser noch deutsche Beamte! Ich schweige lieber. Wohl weiß ich, dass er so Unrecht nicht hat. Aber ich möchte mir doch besser nicht vorstellen, dass hier wieder koloniale Zustände einziehen. Selbst wenn es tatsächlich von vielen Einheimischen gewünscht sein sollte und es ihnen unter diesen Voraussetzungen wohl möglich so schlecht nicht gehen würde. Aber das steht zum Glück politisch nicht auf der Agenda…, auch wenn es sich mehr Menschen in der ehemaligen Kron-Kolonie wünschen, als man sich das im „reichen“ Westen vorstellen mag.

Toll, denke ich und vielen Dank denn auch! Bei der von mir hier leider nicht so einfach zu wiederlegenden Schwarz-Weiß-Malerei komme ich langsam ins Schwitzen. Meinem Sitznachbarn, einem Bahn-Ingenieur aus der einzig größeren Stadt auf dem Weg nach Süden, Ratnagiri, platzt zum Glück wegen des robusten Verhaltens einiger seiner Landsleute im Gang kurzzeitig mal der Kragen. Er entschuldigt sich nochmals bei mir, legt sich aber umso lautstärker mit den Dränglern im Gang an. Die jeweilige Phase des sich Einfindens auf den gebuchten Plätzen beschleunigt er damit nicht. Da wir beide schon mal mit dem japanischen Shinkansen Express gefahren sind, bedauert er nun die indische Mentalität und wünscht sich mir gegenüber derartig geordnete Verhältnisse. Ich, obwohl ich die japanische Erfahrung stets in bester Erinnerung behalten werde, bedaure es überhaupt nicht, denn nach wenigen Minuten ist alles immer wieder erstaunlich entspannt. Sogar der Europäern chaotisch anmutende Bordservice kommt vergleichsweise schnell zu den Gästen vor und versorgt uns mit Tee, Kaffee und Snacks von keiner schlechten Qualität.

Auf dem weiteren Weg nach Süden erhalte ich ungefragt, aber durchaus dankenswerter Weise Einblick in die indische Ingenieurskunst und die Geschichte der Strecke, die wir soeben befahren. Anders als von mir zunächst vermutet, fahren wir nicht auf alten Gleisen aus der Zeit des britischen Empire, sondern auf der wohl prestigeträchtigsten Strecke der indischen Eisenbahn nach der Erringung der Unabhängigkeit. Mein Nachbar war nach eigener Aussage hieran von 1989 – 1994 maßgeblich beteiligt, als diese ingenieurtechnisch höchst anspruchsvolle Strecke entlang der Konkan-Küste über 570 km von Bombay nach Goa gebaut wurde. Keine andere Strecke in Indien verfügt über so viele Brücken und Tunnel. Auch der damals längste Eisenbahntunnel Asiens mit ca. 6,8 km Länge gehört zu dieser Strecke.

Im Ergebnis war die Strecke für Geschwindigkeiten bis zu 170 km/h ausgelegt, was inzwischen aber von der Betreibergesellschaft auf 120 km/h reduziert wurde. Trotzdem erreicht man auch heute hier Durchschnittsgeschwindigkeiten von knapp 100 km/h, was für Indien geradezu unglaublich klingt, sind es doch bei vielen so genannten Express-Zügen oft kaum mehr als 50 km/h…

Neben der Geschwindigkeit bleibt ein weiteres Erlebnis. Die verwendeten Diesel-Loks und die in der 2. Klasse immer offenen Fenster sorgen in jedem der zu passierenden Tunnel nach wenigen Momenten dafür, dass die typische, von Staus auf deutschen Autobahnen nur zu bekannte Abgasnote die Abteile erfüllt. Jeder Gast wird darüber hinaus bei seiner abendlichen Wäsche am Zielort erstaunt feststellen, dass er über eine ungewohnte Patina, allerdings leicht abwaschbar, verfügt.

Nach Ratnagiri etwa auf halbem Wege, wenn der Trip so langsam stressig zu werden droht, lichten sich ganz langsam die Abteile. Übermütige europäische Gäste versuchen es nun, den Indern gleich, in den offenen Türen zwischen den Wagen die unglaubliche Aussicht und die herrliche Luft zu genießen. Es ist keinem etwas passiert, wie auch nicht bei der unvermeidlichen Benutzung der Toiletten, die allen Vorurteilen zum Trotz jeden Vergleich mit europäischen Modellen nicht nur  entspannt standhalten, sondern durch ihre Sauberkeit echt überraschen. Da habe ich, auch in Deutschland, schon ganz anderes erleben dürfen.

Höchste Zeit, der überwältigenden Natur am Wegesrand einige Worte zu widmen. Als passionierter Radfahrer möchte ich sofort immer wieder aussteigen und mich in den sanften Hügeln der hier noch vergleichsweise harmlosen Western Ghats vergnügen. Es wird zunehmend grüner, Reis auf den Feldern und Kokospalmen an den Wegen dominieren dort, wo der Mensch schon den Urwald beseitigt hat. Aber auch vom Letzteren gibt es noch schöne Stücke. Die Idee für eine künftige Radtour ist geboren. Die derzeit noch nicht vorhandenen Unterkünfte entstehen sicher schneller, als einem wie mir lieb ist. Wie ich überhaupt wohl nicht zuviel sagen sollte über das, was wir hier (noch) verpasst haben.

Wenn man sich Goa als „Westler“ nähert, dann bemerkt man dies neben einer zunehmend südeuropäisch anmutenden Architektur, den Kirchen und einigen schönen alten Herrenhäusern auch an den Typen, die noch im Abteil verweilen. Ich bin sehr, sehr dankbar dafür, dass ich hier unverhofft Alfonso wieder treffen durfte. Er ist ein eher schmächtiger Typ, trotz der Hitze mit Hut und Sakko gekleidet, etwas wie Udo Lindenberg, aber ganz anders, ein Unikat wie Udo eben. Und dann bittet er mich zum Foto, sagt mir, dass er jetzt 86 Jahre alt ist, seit über 40 Jahren Rasta trägt und alles(!!!) seit dem Einzug der Europäer in den 1970er mitgemacht hätte. Da ich erst seit den 1980ern dabei war und mich auch dann bewusst von so manchem, was hier seinerzeit abging, ferngehalten habe, finden wir viel Gesprächsstoff für die letzte Fahrstunde. So finden wir heraus, dass wir uns wohl zu Weihnachten 1988 am Baga Beach bei einer „For Friends only“ Mitternachts-Party erstmals begegneten. Ich habe daran eher ungute Erinnerungen… Einige der Mitreisenden machen Fotos von uns.  Wir werden uns zu Ostern 2014 zu seinem 87. im südgoanischen Dörfchen Benaulim treffen. Versprochen, wenn wir beide es denn bei guter Gesundheit erleben!

Endlich sind wir in Goa, genauer in der „Metropole“ des Südens, in Margao. Wir laufen mit all der Bagage bis auf den verschlafenen Bahnhofsvorplatz. Wer nicht da ist, ist mein Partner Josey! Unbemerkt – hoffentlich! – von meinen Gästen telefoniere ich etwas hektisch mit seiner Frau  Lisa und frage nach ihm, der uns hier erwarten sollte. Dann erscheint er strahlend aus dem Nichts und begrüßt uns alle mit den typisch indischen Blumenketten. Er verfrachtet uns und unser Gepäck in eher rustikale Gefährte und schon geht es auf in Richtung Strandhotel, keine 4 km vom Bahnhof entfernt.

Nun, nachdem ich frotzelnd schon hören musste, man hätte keine Zug-, sondern eine Radreise gebucht, kann es also losgehen mit unserer Radtour!

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