Prakash

So lautet der Namen des Bus-Fahrers auf unserer Tour „Zauberhafter Süden“ unlängst auf dem Wege von Goa gen Süden nach Kerala. Er stammt wie mein Partner Josey aus der Gemeinde Kainakary nahe Alleppey in den wunderschönen Backwaters von Zentralkerala, dem sogenannten Kuttanad. Oft schon bin ich an seinem Haus vorbei geradelt, ohne zu wissen, dass er da wohnt.

In Goa also lernen wir uns dann Anfang März 2014 endlich persönlich kennen. Er ist es, der Josey die duftenden Jasmin-Blumenketten zur Begrüßung unserer Gäste am Bahnhof von Margao in Goas Süden zureicht. Für mich bleibt – wie berechnet – keine. Er lächelt scheu und freundlich. Die vier km vom Bahnhof zum Strandhotel meistert er problemlos, aber irgendwie angestrengt. Er ist, obwohl inzwischen über 40 Jahre alt und Vater eines 18-jährigen Sohnes, erstmals außerhalb Keralas unterwegs. Für uns Europäer ist das alles Indien. Für ihn aber ist es eine echte Herausforderung, so als wenn z.B. ein bodenstämmiger Westfale sich erstmals im Auto auf den Weg nach Russland oder Nordafrika machen würde. Die Entfernungen und auch die gefühlten oder tatsächlichen kulturellen und sprachlichen Unendlichkeiten dazwischen stimmen allemal. Dies nur als Orientierung für uns weit gereiste Westler, um eine Idee von seiner aktuellen Befindlichkeit zu erhalten. Wir sind zwar noch immer in Südindien,  geografisch, kulturell und sprachlich, aber für einen wie ihn offensichtlich in einer anderen Welt.

Wie von Josey eingewiesen, macht er sich von Beginn an nützlich bei der Herrichtung und später bei der täglichen Pflege der Fahrräder und bei der Versorgung von uns Radlern mit Wasser, Obst, Snacks etc. Welch ein wohltuender Unterschied zu vielen seiner indischen Berufskollegen, die ich in der Vergangenheit erleben durfte, die sich ausschließlich um das ihnen gehörende oder anvertraute Fahrzeug kümmerten und keinerlei Zugang zu uns verrückten Radfahrern hatten, ja sich auch nicht darum bemühten – obwohl auch sie den gleichen Auftrag wie Prakash hatten. Nur den persönlichen Kontakt scheut er wie der Teufel das Weihwasser.

Von Beginn an bemerken wir alle, meine Gäste, oft Selbständige oder Akademiker mit entsprechender Personalverantwortung, wie auch ich, dass er uns gegenüber sehr zurückhaltend auftritt. Einladungen, einmal mit uns gemeinsam zu Abend zu essen weicht er mit wechselnden Begründungen aus. Warum nur? Hier sind wir unvermittelt im Herzen der uralten, heute aber nicht weniger aktuellen Strukturen der indischen Gesellschaft. Auch Josey windet sich, auf meine klaren Fragen klare Antworten zu geben. Ich beginne zu verstehen, dass wir hier an Grundsätzliches geraten und übe mich in Geduld.

Wenige Tage später feiert einer unserer Gäste seinen Geburtstag. So gibt es kein „Entrinnen“ für Prakash, und er ist unser Gast beim Abendessen. Endlich sind wir nach unserem westlichen Verständnis einmal alle gemeinsam am Tisch. Er teilt alle bestellten Gerichte mit uns, jedoch anstelle des von uns georderten Biers wünscht er sich den einheimischen, auch von mir früher geschätzten Rum namens „Old Monk“, und dies in der Summe in beachtlichen Mengen. Keiner sagt etwas, aber alle nehmen es, wie auch ich, zumindest staunend zur Kenntnis. Später erklärt mir Josey, dass dies sein allabendliches Ritual sei. Da er morgens aber stets fit und freundlich sei, könne er damit leben.

Wir fahren weiter. Unser Kontakt zu Prakash ist herzlich. Alles wunderbar. An einem eigentlich als Ruhetag für ihn und uns vorgesehenen schönen Morgen in den Nilgiri Hills frage ich ihn, ob er uns nicht mit dem Bus ein kleines Stück hinauf in den Berg, da wo der Tee wächst, fahren könne. Freundlich stimmt er zu. Da ahnt er noch nicht, dass es wegen der bereits beschriebenen Unnachgiebigkeit eines tamilischen Polizisten ein für uns alle sehr langer Tag wird, er seine Bergfahrfähigkeiten testen und an diesem Tage erheblich verbessern darf. Er tut es mit Bravour, opfert lächelnd seinen Tag, lernt sicher einiges und erarbeitet sich ein veritables Trinkgeld. Seine leuchtenden Augen berichten jedenfalls, dass er schon unerfreulichere Tage hatte.

Auf der Etappe nach Cochin geht es Josey nicht wirklich gut und er steigt nach ca. 20 km zu Prakash in den Bus. Als wir dann am übernächsten Tag nach Alleppey aufbrechen wollen, bemerken beide, dass das Vorderrad von Joseys Fahrrad fehlt. Beide haben es offensichtlich an dem Ort, als Josey aufgab und in den Bus stieg, nicht mit dem Rad zusammen in den Begleitbus getan. Josey macht Prakash Vorwürfe und bittet ihn schließlich, zurück zu fahren und nach dem fehlenden Rad zu suchen. Es knistert förmlich zwischen beiden. Ich werfe ein, dass Josey, auch wenn er sich nicht so gut gefühlt haben mag, Mitschuld am Versäumnis trage. Das entspannt die Situation nicht wirklich. Immerhin gestattet er seinem Landsmann, uns weiterhin im Bus zu begleiten und will selbst nach dem fehlenden Vorderrad fahnden. Wir anderen nehmen den Tag trotzdem wie gewohnt in Angriff. Irgendwie schafft es Prakash aber heute nicht, der zuverlässige Begleiter der bisherigen Wochen zu sein. Trotz wiederholter telefonischer Aufforderung treffen wir uns erst nach mehreren Stunden kurz vor dem Tagesziel.

Egal, es ist weder für mich, noch die Gäste dramatisch. Wir erreichen – mit Prakash und unserem Gepäck im von ihm gelenkten Bus – zu einer relativ frühen Zeit unser Hausboot, trinken noch das etwas zu warme Abschiedsbier und ab geht es. Für die Gäste auf den entspannenden Boots-Trip durch die Backwaters. Für mich auf dem Rad zurück nach Kainakary und dann am nächsten Morgen auf zum Flieger zurück nach Europa. Auch Prakash macht sich zeitgleich auf den Weg nach Hause, nicht ohne mir vorher zu bestätigen, dass er mich kurz nach Mitternacht abholen und zum Flughafen nach Cochin bringen wird.

Daheim bei Josey wartet schon die Familie. Alle wollen sie ganz genau informiert werden über unsere Erlebnisse der vergangenen drei Wochen. Ich komme dem gerne nach und werde im Gegenzug mit Geschenken überhäuft. Neben frisch zubereiteten Mango Pickles darf ich auch – unerlaubter Weise – Unmengen fast reifer Mangos mit nach Europa entführen…

Gegen Mitternacht klopft Josey an meine Tür, reicht mir einen starken Kaffee und flucht gewaltig. Prakash habe nach Auskunft seiner Frau einen erheblichen Teil des gerade erhaltenen Lohnes mit einigen Freunden in Rum und andere hochprozentige Drinks umgesetzt und sei weder ansprechbar und schon gar nicht fahrtüchtig.

So ist es an Josey, mich wieder einmal nach Cochin zu chauffieren. Wird ein harter Tag für ihn, weil er ja im Anschluss den letzten Tag mit den Gästen quasi im Alleingang zu bestreiten hat. Aber noch ist es nicht so weit. Ich bitte ihn, mir zu erklären, wie er die Sache mit Prakash bewertet. Da er just in diesem Moment an einer Strassensperre von einem Verkehrspolizisten zu einer – im Ergebnis natürlich negativen – Alkoholsofort-Kontrolle gebeten wird, muss er zunächst lachen. Mit Prakash an seiner Stelle wäre die Fahrt hier wohl schon zu Ende gewesen und ich hätte ein ernsthaftes Problem gehabt, meinen Flieger nach Deutschland zu erreichen. Soweit zum Positiven in der jetzigen Situation. Dann aber wird er grundsätzlich.

Die nötige Zeit und Ruhe dazu haben wir danach, da in der dunklen Jungfräulichkeit des gerade anbrechenden neuen Tages außer einigen Trucks niemand unser Nachdenken und den einhergehenden Gedankenaustausch stört. Warum passiert das immer wieder, dass einheimische Angestellte so unzuverlässig sind? Wo anfangen und wo enden, da hier zumindest zwei Themen berührt werden, die in der öffentlichen Debatte Indiens lieber klein gehalten, am liebsten komplett verleugnet werden, obwohl sie doch das alltägliche Leben maßgeblich bestimmen?

Erstens und vor allem geht es um die nach wie vor existierende, ja sich scheinbar vertiefende Teilung der Gesellschaft in die oft nur den Einheimischen erkennbaren und auch nur für sie wichtigen sozialen und wirtschaftlichen Abstufungen. Diese prägen aber das alltägliche Leben mehr als alles andere, auch wenn laut Verfassung seit der Staatsgründung 1947 keine Kasten oder andere wie auch immer auszulegende Unterscheidungen mehr eine Rolle spielen dürfen.

Da das Thema zu komplex ist, bescheide ich mich an dieser Stelle nur auf den konkreten Fall mit Prakash, der wie die meisten hier im dörflichen Verband im Kuttanad ein Christ ist. In der Gemeinde spielt Joseys Familie als Erben seines 1957 von der ersten kommunistischen Regierung weitgehend enteigneten Großvaters – damals einer von wenigen das regionale Leben bestimmenden Großgrundbesitzern – unverändert eine herausgehobene Rolle. Dies hat Bestand, obwohl durch die Politik der kommunistischen Regierung über mehr als 50 Jahre auch viele ehemals arme Landarbeiter zu einem bescheidenen Wohlstand kamen und in vielen Familien heute aufgrund der exzellenten Ausbildung mindestens ein Mitglied ein gutes Einkommen, sei es aus den Golfstaaten, Nordamerika oder dem Vereinigten Königreich beisteuert. Neben der Nivellierung des Einkommesgefälles ist es aber der verantwortliche Umgang mit dem verfügbaren Einkommen, der viele Menschen auch hier unterscheidet, der sie oft schlichtweg überfordert.

In den „alteingesessenen“ Familien wird – soweit ich das beurteilen kann – bei weitem verantwortlicher mit den verfügbaren Mitteln umgegangen. Wie vernünftiger Weise alle anderen auch investieren sie zuvorderst in die Ausbildung ihrer Kinder, diversifizieren dann aber ihr Kapital in nachhaltige Geschäftsmodelle und sind sich nicht zuletzt ihrer Verantwortung für die dörfliche Gemeinschaft bewusst. Sie unterstützen diese oft zielgerichtet, sei es in der Kirchengemeinde und besonders durch die Vergabe von Einkommen generierenden Jobs für weniger Bemittelte.

Hierin unterscheiden sie sich maßgeblich von vielen anderen in der Gemeinde, die z.B. den verantwortungsbewussten Umgang mit dem verfügbaren Einkommen oft noch erlernen. Zunächst steht da, durchaus nachvollziehbar, wie in den Jahren des Wirtschaftswunders bei uns auch, die Befriedigung von der Werbewirtschaft geschickt inszenierter Wünsche nach Mobilität, Konsum und wenn möglich dem eigenen Haus an. Dies führt leider auch hier zu den aus der westlichen Zivilisation uns nur zu gut bekannten Entwicklungen wie Entsolidarisierung der Gesellschaft, Überbetonung des Ichs, Häufung der typischen Zivilisationserkrankungen und zu einem gerade in Kerala nicht mehr zu ignorierenden Alkoholproblem, dem zweiten großen, uns beschäftigenden Thema.

Damit schließt sich der Kreis und wir sind wieder bei Prakash. Wie Zehntausende anderer Männer und Familienväter gelingt ihm leider nicht immer der verantwortliche Umgang mit diesem Teufelszeug. Und in der Konsequenz ist er dann gefangen in den Kraken der Droge und nur bedingt zuverlässig, sowohl als Familienvater, als auch als angestellter Busfahrer. Seine Frau und die Familie leiden stumm, die dörfliche Gemeinschaft, in der er weiterhin zu den weniger Vermögenden und auch weniger Einflussreichen gehört, nimmt es zur Kenntnis, tut aber (noch) nichts.

Josey wird oft von mir bedrängt, doch auch mal aus dem bewährten verlässlichen Familiennetzwerk auszubrechen und anderen eine Chance zu geben. So habe ich nun auch Prakash kennen gelernt. Leider muss ich ihm, Josey recht geben, dass alle mir bekannten Versuche immer kritisch verlaufen sind und auch mir schon das eine oder andere weitere graue Haar beschert haben. Prakash hat seine Chance zunächst toll genutzt, um auf der Zielgeraden dann alles Positive wieder, zumindest teilweise, in Frage zu stellen.

Wobei… Wobei ich auch einen wie Josey in seiner ganzen Widersprüchlichkeit hier einzuordnen habe. Lange scheute ich mich, seine seltsamen Komplettverkleidungen bei den gemeinsamen Radtouren als das wahrzunehmen, was sie offensichtlich sind. Im Gegensatz zu dem von ihm meist proklamierten Sonnenschutz geht es ihm wohl doch viel mehr darum, seine sichtbar hellere Hautfarbe gegenüber seinen südindischen Landsleuten nicht zu gefährden und damit auch den von ihm immer wieder betonten (höheren) sozial-ökonomischen Status klar herauszustellen. Offensichtlich leidet er weit mehr, als von ihm zugegeben und von mir in der Vergangenheit registriert, auch daran, dass die von ihm als Kunden so gewünschten weißen, meist auch noch älteren Westeuropäer, offensichtlich nicht nur radfahrerisch deutlich leistungsfähiger als er sind. Sein gewohntes Selbstbildnis als einer derer, die in seiner Kultur das Sagen haben, wird durch die von ihm selbst gewünschte Kooperation mit uns und unsere Leistungsfähigkeit auf eine harte Probe gestellt. Dies entlädt sich mitunter trotz unserer herzlichen Freundschaft in einem auch für unsere Gäste erlebbaren, jedoch nicht sofort nachvollziehbaren, „Gewitter“ zwischen ihm und mir.

Wie anders ist er dann, wenn er wieder im Umfeld der Familie die gewohnte Liebe und Wertschätzung genießt und auch gibt. Da ist die Welt für ihn dann wieder in Ordnung. Noch. Für Lisa, seine Frau, ist sie das nur bedingt. Sie sagt es nur (noch) nicht laut. Auch seine an der Schwelle zur Pubertät stehenden Töchter werden noch neue Herausforderungen für ihn bringen.

Aber. Je tiefer ich in den indischen Alltag eindringe, umso mehr akzeptiere ich – widerstrebend allemal – das Festhalten an vielen althergebrachten und im Leben bewährten Verhaltensweisen und Normen, auch wenn sie scheinbar nicht mehr in unsere Zeit passen. Aber solange Eigenverantwortung und Engagement bei vielen noch nicht ausreichen, sind sie wohl das geringere Übel. Schade eigentlich.

Aber auch! In der sich unglaublich schnell verändernden Gesellschaft des Indiens unserer Tage gibt es so viel Aufbruch in die Moderene, vor allem für die Frauen und die bisher deutlich Zurückgestuften, dass ich viel Anlass für Hoffnung sehe. Egal, lasst uns nicht müde werden, alle mitzunehmen und die noch immer existierenden unsichtbaren Schranken zwischen sozialen, ethnischen und anderen Gruppen schrittweise zu überwinden. Auch wenn es natürlich vor allem die Betroffenen selbst sind, die das tun werden – mit aller uns möglichen Unterstützung.

So versprechen wir es uns denn zum Abschluss unserer nächtlichen Fahrt, offen zu sein für die kommenden Herausforderungen und jeden dabei mitzunehmen. Auch wenn ich da bei meinem Freund so einige Zweifel habe und es wohl noch einige Zeit dauern wird, bis er selbst dies nicht nur sagt, sondern ernsthaft dafür eintritt. Vielleicht helfen ihm dabei in naher Zukunft schon seine selbstbewussten Töchter.

Wir sind am Flughafen in Cochin, umarmen uns herzlich und freuen uns schon auf die neuen Erlebnisse mit Prakash, seinen Kollegen, aber vor allem mit uns selbst.

Und ich bedanke mich bei Ulrich und den anderen Mitfahrern für eine tolle Tour, vielmehr aber noch für die gemeinsam gewonnenen Einsichten. Auf ein Neues!

 

 

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