Ein Bauer fährt Rad

Es ist einige Tage her und hat sich während unserer letzten Radtour von Bombay über Goa in den tiefen Süden zugetragen. Ich stehe in der bombastisch dimensionierten Empfangshalle des neuen Internationalen Flughafens der indischen Business-Metropole und checke die Ankommenden daraufhin ab, wer wohl einer meiner Gäste für die anstehende Rad-Tour sein könnte. Die meisten der ankommenden Westler sortiere ich wegen ihrer Körperfülle oder ihrer unkoordinierten Bewegungen gedanklich sofort aus.

Das sind nicht die, die mit mir in den kommenden drei Wochen etwa 1.000 Kilometer gen Süden in die Pedalen treten wollen. Denke ich zumindest, bis mir ein Typ zielbewußt entgegen kommt, der so gar nicht meinen Vorstellungen eines drahtigen Touren-Radlers entspricht. „Hallo, ich bin der Rolf!“ tönt es freundlich und geradezu gemütlich aus dem Mund dieser sich vor mir aufbauenden Erscheinung von sicher mehr als 100 kg Lebendgewicht. Ich hätte ihn sofort in ein American Football Team gesteckt oder ihm einen passablen Wrestler unterstellt, aber Radfahren? Doch, doch. Er hat die Reise bewußt gebucht und freut sich nach den anstrengenden Monaten in seinem landwirtschaftlichen Betrieb nun im November auf die bevorstehende Zeit auf dem Rad. So,so, kommt es aus meinem Unterbewußtsein. Na dann schaun wir mal…

Zunächst einmal ist er ein offener, entspannt positiver Typ, der sofort den Ton angibt im sich gerade bildenden Team für die kommenden Wochen. Gefällt mir! Und die anderen akzeptieren ihn offensichtlich. Was sollten sie bei dieser Erscheinung aber auch anderes tun? Beim Verteilen der T-Shirts an die Teilnehmer fällt das für Rolf geplante XL-Shirt um einiges zu knapp aus und ich muß mich unter dem Gelächter der anderen bei ihm entschuldigen, dass wir auf einen Typen wie ihn zumindest kleidungstechnisch nicht eingestellt sind. Er ist, das werden wir noch erfahren, in noch so mancher Beziehung einzigartig.

Beide sind wir gleichaltrig. Beide sind wir auf dem Bauernhof aufgewachsen. Er führt seit Jahrzehnten den übernommenen Betrieb erfolgreich. Ich habe mich mit 19 in die Welt aufgemacht. Im Geiste fühle ich mich ihm von Anbeginn sehr verbunden. Er weckt vieles auf, was durch mein Durch-die-Welt-ziehen in den letzten fast 40 Jahren offensichtlich verschüttet war. Er ist stolzer Opa. Da will ich erst noch hin. Er hat zwar nicht wie wir aus dem Osten der Republik einen Neuanfang in den 90ern hinter sich, aber schon schlimme persönliche Krisen im Leben durchmachen müssen, über die er offen spricht. Sehr beeindruckend! Und er fordert mich von Anfang an, ihm und allen anderen das wirkliche Leben und Arbeiten der Inder nahe zu bringen. Dafür hat er schließlich bezahlt.

Während dieser Tour machen wir Dinge, die ich in den vorhergehenden Auflagen nicht gemacht habe, weil ich es mir selbst schlichtweg nicht vorstellen konnte und weil es kein Gast wirklich eingefordert hat. Warum passiert das jetzt hier? Weil meist Rolf nicht locker lässt und auch andere Teilnehmer für seine Ideen begeistert. Beispiele?

Bei der Stadtrundfahrt in Bombay stoppen wir wie üblich bei den „Dhobi Ghats“, der wohl größten Waschmaschine der Welt in Form von ca. 5.000 hier auf engstem Raum lebenden und arbeitenden Tagelöhnern. Wir schauen uns das wie alle Touristen von einer Brücke aus sicherer Distanz an. Das allein schon ist beeindruckend und erschütternd. Den allermeisten reicht das und auch der Reiseführer vermerkt, dass ein Betreten des Geländes nicht möglich, weil von den Betreibern und dort Arbeitenden nicht erwünscht sei. Das klingt plausibel. Plausibel wohl, nicht jedoch akzeptabel für einen wie Rolf, der alles, was mit Arbeit und den Lebensbedingungen der Leute zu tun hat, ganz genau wissen möchte.

So finden wir uns denn, nachdem wir ein kleines Geld mit einem Vertreter der Wäscher vereinbart haben, direkt unter ihnen wieder. Wir können mit ihnen reden, sehen archaische, aber auch sehr moderne Arbeitsgeräte. Wir sehen die Kojen, in denen sie mehr vegetieren als leben, direkt neben den Waschplätzen. Dort kochen sie selbst ihr Essen und laden uns zum Tee ein. Es ist erschreckend und doch irgendwie normal, selbstverständlich fast. Wir werden offen und freundlich empfangen und gebeten wiederzukommen. Das verspreche ich. Künftige Gruppen werden es mir danken und ich werde ihnen berichten, wer an diesem Erlebnis ursächlich schuld ist.

Bei unserer folgenden Radtour geht es nach einigen Tagen am Meer dann hoch in die Berge der Western Ghats. Bisherigen Gruppen hatten wir empfohlen, die ca. 10 Kilometer lange Auffahrt aufgrund der extremen Temperatur und Luftfeuchtigkeit besser im Begleitbus zu absolvieren und erst auf dem Plateau auf’s Rad zu steigen. Alle folgten sie bisher unserer gut gemeinten und wohl begründeten Empfehlung. Nicht so Rolf und Mitstreiter. Man habe schließlich eine Rad- und keine Bustour gebucht, erfahre ich lakonisch beim vorabendlichen Besprechen dessen, was ich der Gruppe für den kommenden Tag so zumuten möchte.

Also führt unser morgendlicher Transfer nicht wie bisher auf den Berg, sondern lediglich bis an dessen Fuss. Wir machen uns fertig und starten voller Respekt langsam in das Abenteuer. Obwohl weite Teile des Aufstieges im Schatten liegen, schwitzen wir alle bei der 11 km langen Strecke mit zu überwindenden gut 600 Höhenmetern mindestens so wie unsere Fußballer bei der letzten WM. Alle kommen wir ohne fremde Hilfe oben an und sind froh, es genau so gemacht zu haben. So schwer war es dann gar nicht, aber was für ein Erlebnis mit tollen Ausblicken.  Rolf sei Dank!

Einige Tage weiter machen wir Rast im zum Projekt Tiger gehörenden Wildreservat von Mudumalai in Tamil Nadu mit Blick auf die Kette der Nilgiris, der „Blauen Berge“. Laut Tourenbeschreibung können wir den quasi Ruhetag für Wildbeobachtungen oder schlicht zum Entspannen in traumhafter Umgebung nutzen. Leichtsinniger Weise habe ich erwähnt, dass die ganz Harten auch den Aufstieg in die ehemalige britische Sommerfrische Ooty wagen können. Der Ort liegt 29 km entfernt von unserem Hotel und 1.550 m höher. Kein Teilnehmer aus früheren Reisen kam auf die Idee, dies ernsthaft zu erwägen, geschweige denn zu tun. Nicht so Rolf und einige, im Gegensatz zu ihm Leichtgewichtige aus der Gruppe.

Nach der morgendlichen erfolgreichen Pirsch machen sich nach dem Frühstück tatsächlich fünf Teilnehmer fertig für die Klettertour und zwingen mich, sie zu begleiten. Unter ihnen ist natürlich Rolf, der unverdrossen auch die steilsten Passagen meistert. Alle leiden wir auf dem Weg durch die 36 Haarnadelkurven. Die Pausen werden länger und hin und wieder schieben wir auch mal ein kleines Stück, wenn es denn gar zu giftig wird. Aber alle, die sich in die Wand gewagt haben, erreichen mit eigener Kraft die Passhöhe und werden mit einer grandiosen Abfahrt belohnt!

Alle fühlen wir uns wie erfolgreiche Gipfelstürmer. Spätestens heute hat Rolf einige Koordinaten in meinem Kopf endgültig verschoben. Es war auch für mich Zwerg eine echte Quälerei. Wie muß er da gearbeitet und sicher auch gelitten haben? Trotzdem sehe ich ihn an jedem Halt lächelnd sein „Tut, Tut, Lummerland Haupt-Bahnhof!“ rufen. Unglaublich, was eine positive Einstellung, gepaart mit einer realistischen Selbsteinschätzung und dem vernünftigen Einsatz der eigenen Kräfte für Berge – im wahrsten Sinne des Wortes! – zu versetzen vermag!  Mein Respekt vor dem Berg ist ungebrochen, aber künftige Teilnehmer werde ich im Zweifel immer ermutigen, es zu versuchen. Ich habe da einen im Auge, dem ich das wohl schuldig bin.

Tribut zollen muß er seiner Leistung aber dann am späten Nachmittag doch noch. Wir setzen uns gegenüber einer Trinkstelle am Fluss ganz in der Nähe des Dorfes erneut zur Wildbeobachtung nieder. Gestern haben wir dort tatsächlich einen Tiger und später einen kapitalen Elefantenbullen aus nächster Nähe in freier Wildbahn beobachten können. Heute legt sich Rolf in stabile Seitenlage und erfreut uns nach wenigen Momenten mit einem gleichmäßigen Schnarchen. Wilde Tiere sehen wir keine, aber eine neue Stilblüte ist geboren. Wann immer sich jemand im weiteren Verlauf der Tour mal zu einem Nickerchen oder zur Nachtruhe zurück ziehen will, so begibt er sich natürlich auf die Pirsch…

In Mysore lassen wir die Fahrräder planmäßig unangetastet. Dafür gönnen wir uns einen anderen Spass. Wir fahren in den allgegenwärtigen dreirädrigen Auto-Rikschahs (TukTuks) hoch auf den Stadtberg, den Chamundi-Hill, und noch zu weiteren Sehenswürdigkeiten, um die Halbtags-Tour vor dem spektakulären Palast des letzten Maharaja zu beenden. Da jedoch sein Fahrer ebenso offen und geschäftstüchtig wie er selbst ist, wird schnell eine weitere Attraktion entdeckt, ein Schlangenfänger mit einer Art Schlangen-Farm. Dank Rolf werden künftig alle Teilnehmer am Nachnittag zu dieser aufbrechen können.

Zum Gesamtkunstwerk Rolf gehört aber auch, dass er sich mit einer Reihe von Programmpunkten, die für andere absolute Highlights der Reise sind, schwer tut. An den klassischen keralischen Kathakkali-Tanz, von dem andere nicht genug bekommen können, kommt er nicht ran. Konsequenter Weise verlässt er die Vorführung kurz nach Beginn, oder war es noch beim Anschminken? Auch mit der angebotenen ayurvedischen Massage hat er so seine lieben Probleme. Ein Genuss ist es zumindest für ihn im Gegensatz zu vielen anderen nicht. Und das sagt er mir auch.

Fehlt noch das indische Essen, besonders das vegetarische. Die Mehrzahl meiner bisherigen Gäste kommt aus dem Schwärmen nicht mehr heraus und kann nicht davon lassen. Anders mein deutscher Bauer. Obwohl ein offener Mensch, stößt er hier in der Diaspora, wo keiner etwas mit seiner geliebten und so sehr vermißten Haspel anfangen kann, doch arg an seine Grenzen. In meiner alten brandenburgischen Heimat heißt es dazu drastisch klar: „Was der Bauer nicht kennt, frist er nicht.“ Obwohl. Beim letzten gemeinsamen Mittagessen in einem Tempel der ayurvedischen Heilkunst, im Chamundi Palace Hotel hoch über Kautschuk-Plantagen betrachtet er das auf einem Bananenblatt liebevoll arrangierte vegetarische Lunch mit einer gewissen Wertschätzung…

Nicht unerwähnt lassen darf ich sein natürliches Interesse als Landwirt an allem, was seine zahlreichen Berufskollegen auf dem Subkontinent oft in mühevoller, wenig mechanisierter Arbeit dem durchaus fruchtbaren Boden abringen. Abends oder in Pausen am Wegesrand, wenn wir das Gesehene zu bewerten versuchen, entnehme ich seinen Worten doch eine gewisse Ratlosigkeit. Zu weit scheint die hiesige Welt von der heimatlichen, auf Rendite und Ertrag getrimmten Wirtschaft entfernt. Oft sind die vermeintlichen Nutzpflanzen im wuchernden Unkraut schwer bis gar nicht zu finden. Die erzielten Erträge lassen ihn oft nur den Kopf schütteln.

Besonders drastisch wird ihm das wohl beim Besuch der nach Prinzipien der ökologischen Verträglichkeit und Nachhaltigkeit angelegten Gewürzplantage meines hieigen Partners bewußt. Hier prallen Welten aufeinander. Die hiesige bemüht er sich erst gar nicht mehr zu verstehen und geht unter dem Vorwand, dass es ihm hier oben zu frisch sei, schnell zum wartenden Auto zurück. Zu weit ist alles von dem weg, was in der EU praktiziert wird.

Wobei ich bar jeden aktuellen landwirtschaftlichen Fachwissens vielen Ansätzen meines Partners durchaus folgen kann. Für ihn gibt es keine „Unkräuter“, die es zu eliminieren gilt. Genau wie der Regenwald, in den er mit seinen Pflanzungen behutsam eindringt, ein geschlossenes ganzes Ökosystem darstellt, in dem jede Pflanze und jedes Lebewesen einen Sinn, eine Aufgabe haben, so möchte er unter Verzicht auf Kunstdünger und Pflanzenschutzmittel lernen, ausschließlich durch die Wirkungsweisen der verschiedenen Pflanzen und Mikroorganismen gesunde Gewürze und Kaffeepflanzen mit akzeptablen Erträgen anzubauen. Klar, dass Rolf dem nicht so einfach folgen kann. Dazu ist er wohl zu sehr in seiner Welt gefangen. Aber für mich Laien stellt sich sehr ernsthaft die Frage, ob nicht der von Josey gewählte Ansatz langfristig der verünftigere ist?

Was bleibt sonst von dieser wieder einmal gelungenen Tour bei mir hängen? Zunächst ein originelles, von Rolf mit Kennerblick initiiertes Abschiedsgeschenk von allen, das schon einen Ehrenplatz in meinem Büro sicher hat. Dann eine Rechnung von der Inspektion des von ihm genutzten Leihrades. Es ist für die kommende Tour wieder hergestellt. Das hintere Laufrad wurde komplett neu aufgebaut inkl. Speichen und Bereifung. Gewechselt wurden das Tretlager, die linke Pedale und die ausgeleierte Kette. Was doch das Zusammenkommen eines Typen wie ihm mit den indischen Straßenverhältnissen an einem durchaus robusten Marken-Fahrrad so anrichten können (Smile).

Wir haben uns abschließend alle erdenkliche Mühe gegeben, die von ihm erworbenen gewichtigen Skulpturen der göttlichen Reittiere von Shiva (Nandi, der Stier) und Ganapathi oder Ganesha (Die Ratte) gut zu verpacken. Mögen sie unbeschädigt seinen Hof erreichen, einen würdigen Platz erhalten und allzeit für ein gutes Karma sorgen!

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