Radfahren in Indien 2018

Indien ist und bleibt mit seinem reichhaltigen kulturellen Erbe, seinen faszinierenden Menschen beim Aufbruch ins neue Jahrtausend, seinen grandiosen Naturlandschaften und vielem mehr ein Land, das es mit allen Sinnen zu entdecken gilt. Am besten gelingt das radfahrend. Allerdings.

Bald werden es 1,3 Mrd. Inder auf dem Subkontinent sein, in keinem Land leben dann mehr Menschen. Dort, wo es besonders angenehm zu leben ist, trifft man besonders viele von ihnen, z. B. an der traumhaft schönen Küstenlandschaft des südindischen Kerala, der so genannten Malabarküste und dem bergigen Vorland zwischen der Küste und dem Höhenzug der Western Ghats. In kaum einem indischen Flächenstaat ist die Bevölkerungsdichte höher.

Hinzu kommt aufgrund des hohen Bildungsniveaus ein zunehmender Wohlstand eines großen Teils der hier Lebenden, der sich überall bemerkbar macht in einer rasanten Zunahme des individuellen Fortbewegens in privaten Autos, Motorrädern etc., aber auch im wachsenden Gütertransport auf der Straße. Die Infrastruktur dafür hinkt der beschriebenen Entwicklung oft weit hinterher, oder der gesamte Verkehr, einschließlich des öffentlichen und privaten Busverkehrs, Verkaufsfahrzeuge jeder Art, Fußgänger und Tiere jeder Größe, alle quälen sie sich durch oft zu enge Straßen oder Baustellen jeder Art.

Radwege gibt es mit Ausnahme einiger nicht benutzter Teststrecken z.B. In Bangalore keine, es sind auch keine geplant. Warum? Vielleicht gibt das Motto des Verbandes indischer Radfahrer (Cycling Federation of India) darauf eine vielsagende Antwort. Es lautet sinngemäß: “Radfahren ist das Fortbewegungsmittel der Armen, Hobby der Reichen und gesundheitsfördernde Aktivität der Älteren”.

Jeder “normale” Inder, der es sich leisten kann, kauft sich zumindest einen motorisierten Roller, ein Motorrad und am besten einen Kleinwagen, auch wenn er damit immer öfter im Stau steht, in den Städten schwer Parkplätze findet und der Spritpreis für viele in besorgniserregende Höhen gestiegen ist (vergleichsweise deutlich über 1 €).

Die wenigen präsenten, meist westlichen Radfahrer werden oft ungläubig gefragt, ob sie sich denn kein anderes Fortbewegungsmittel als gerade das Fahrrad leisten könnten. Wir rufen also stets Kopfschütteln hervor, werden andererseits ob unseres Mutes, uns unter den hiesigen klimatischen, Verkehrs- und Umweltbedingungen aufs Rad zu setzten, bewundert, respektiert und auch angefeuert. Kaum ein Inder versteht, wie man sich freiwillig eine derartige körperliche und zuweilen auch mentale Anstrengung zumuten kann.

Der Verkehr, in den wir uns begeben mutet aus westlicher Sicht zunächst chaotisch an. Oberste Regel ist der gesunde Menschenverstand, der gebietet nur das zu tun, was einen selbst nicht gefährdet, dies jedoch mit Entschlossenheit gegenüber den anderen Verkehrsteilnehmern. Sie stellen sich nämlich dem Prinzip der gegenseitigen Rücksichtnahme folgend darauf ein, auch und gerade Bus- und Truckfahrer gegenüber uns Radfahrern. Wenn man sich z.B. entschieden hat eine Straße zu passieren, dann sollte man dies konsequent tun. Damit rechnet der “Rest” und stellt sein eigenes Fahrverhalten darauf ein. Zögert man oder schreckt zurück kann es problematisch werde. Wir üben das gleich zu Beginn als Fußgänger in Bombay.

Für alle gilt: “Wo ich bin, kann kein anderer sein”. Auch wenn er mir dabei sehr nahe kommt, so wird er mich respektieren und nicht berühren. Nie wird jemand auf sein vermeintliches Vorfahrt-Recht pochen, aggressiv reagieren oder anderen den Vogel oder Stinkefinger zeigen. Man besetzt jeden möglichen Freiraum und wurstelt sich so durch. Auch ist bei all der oft vorhandenen Enge die Durchschnittsgeschwindigkeit des fließenden Verkehrs deutlich geringer als im Westen. Als Radfahrer kann man meist gut mitrollen, innerhalb von geschlossenen Ortschaften ist man bei der Passage oft schneller als der übrige Verkehr.

Ein weiteres Prinzip lautet sehr einfach, Groß (Trucks, Busse, Elefanten, Kühe) vor Schnell (PKW, Motorräder, Scooter) und vor dem Rest (Fahrräder, Rikschas, Verkaufswagen, Fußgänger). Der indische Verkehrsteilnehmer orientiert sich grundsätzlich nur nach vorn und trägt dafür Verantwortung. Der schnellere von Hinten oder von der Seite kommende Verkehr hat daher mittels Hupe/Klingel darauf hinzuweisen, dass er sich annähert. Dies trifft auch auf uns Radfahrer gegenüber Fußgängern zu. Wir müssen immer proaktiv klingeln, wenn wir uns von hinten nähern. Andernfalls kann es passieren, dass uns ein Fußgänger ohne nach hinten zu schauen ins Rad läuft und wir sind nach indischer Rechtslage schuldig!

Dies ist auch die Basis für das ständige Gehupe auf Indiens Straßen. Oft begrüßen uns zudem andere Verkehrsteilnehmer überschwänglich durch den exzessiven Gebrauch dieses bei uns eher sparsam zu gebrauchenden Instruments. Darauf muss und kann man sich nur einstellen, ändern kann man es nicht. Der proaktive Einsatz der Hupe wird in der indischen Fahrschule als erstes gelehrt. Wer sie nicht einsetzt fällt bei der Prüfung durch.

Auf welchen Straßen fahren wir?

In Goa starten wir zur Eingewöhnung bei Ebbe direkt auf dem betonharten Strand und auf kleinen Straßen durch die Dörfer direkt hinter den Dünen. Später geht es durch den Wald des Cortigao Wildreservates teilweise auf Single Trails hinein in den Unionsstaat Karnataka. Wir bewältigen den im Ausbau befindlichen 4-spurigen Highway mittels Transfer im Begleitfahrzeug. Auch später passieren wir derartige Abschnitte ausschließlich im Bus.

In Karnataka fahren wir auf einer relativ verkehrsarmen Landstraße durch den Wald und danach durch Plantagen hinauf in die Berge der Western Ghats und über das Deccanplateau nach Hassan. Wer möchte, kann in Hassan schon einmal den Verkehr in einer mittelgroßen indischen Stadt testen. Von dort führt der Weg auf einem gut ausgebauten State Highway mit mäßigem Verkehr auf einem breiten Seitenstreifen vor die Tore von Mysore. Dies war in der Vergangenheit eine bei allen Teilnehmern beliebte Option, da viel Platz zum entspannten Radeln da ist, fast wie auf einem separaten Radweg. Gleiches trifft inzwischen auf die Passage südlich von Mysore ins Bandipur Wildreservat zu. Im Reservat selbst ist das Radfahren inzwischen untersagt.

Danach schließt sich eine wunderbare 20 km lange Abfahrt durch Wälder der Ghats in die Ebene nach Kerala an.

Kerala empfängt uns in der 3. Woche der Tour mit Hitze, Lärm, urbanem Leben und einem deutlich höheren Verkehrsaufkommen. Die ersten 20 km bis Nilambur und die meisten der gut 50 km am nächsten Tag nach Kottakkal sind auf der belebten Straße für manchen Teilnehmer eine mentale Herausforderung, radfahrerisch und unter Sicherheitsaspekten jedoch unproblematisch, da der Verkehr bei den Ortsdurchfahrten eher zäh ist und wir als Radfahrer oft schneller als die anderen sein können. Belastend sind neben dem Lärm mitunter auch die Abgase. Auf den weiteren Etappen nach Guruvayur, Cochin und Alleppey sind wir dann überwiegend auf verkehrsärmeren Nebenstraßen unterwegs. Jedem Teilnehmer ist es freigestellt, bei den notwendigen Ortsdurchfahrten ins Begleitfahrzeug zu steigen.

In den Backwaters rollen wir abschließend entspannt über die Deiche und hinter den Dünen, teils auf Asphalt, teils offroad entlang.

Fazit: Das Radfahren in Indien ist für alle Teilnehmer mit Sicherheit eine intensive körperliche und mentale Herausforderung, die alle mit Respekt, aber auch mit Vorfreude angehen sollten. Wir fahren grundsätzlich mit 2 Guides, einer vorn und einer hinten, dazwischen meist das immer verfügbare Begleitfahrzeug.

Wer sich die beschriebenen Bedingungen zutraut wird in seiner Persönlichkeit bereichert, in seinem Weltbild erweitert und sicher auch nachdenklich nach Deutschland zurückkehren. Es geht nämlich auch anders, wenn auch mitunter scheinbar chaotisch und man kann dabei richtig Spaß haben.

Wer es sich nicht zutraut und nur unter geregelten Bedingungen wie in Deutschland entspannt Radfahren kann, der sollte diese Tour besser nicht buchen.

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