Flut 2018 in den Kerala Backwaters

Den ganzen heißen deutschen Sommer über sind die Nachrichten meines Partners Josey und seiner Frau Lisa aus dem teilweise unter dem Meeresspiegel liegenden Kuttanad, der Reiskammer des südindischen Staates Kerala, zum Verlauf des Monsuns irgendwo zwischen besorgt und nahe der Verzweiflung angesiedelt. Der Garten seines Hauses ist seit Mitte Juni permanent mehr oder weniger unter Wasser, die Bäume leiden, viele sterben ab. Das Haus selbst sei eine Insel, innen (noch) trocken, aber in der Substanz schwer geschädigt.

Als ich dann Mitte August ans Vorbereiten für meine anstehende Erkundungs-Tour nach Karnataka gehe, ist die Situation dramatisch eskaliert und Kerala tagelang Thema der weltweiten Medien. Hunderttausende müssen ihre Häuser verlassen, es gibt Menschenopfer in noch unbekannter Höhe, viele verlieren all ihr Hab und Gut. Gleichzeitig setzt eine solidarische Hilfswelle ungekannten Ausmaßes ein, für die die Betroffenen sehr dankbar sind. Auch einige meiner ehemaligen Gäste und natürlich ich selbst sind sofort mit finanzieller Hilfe dabei, die nicht irgendwo kleben bleibt, sondern zu 100% auf den Konten unserer Freunde eintrifft.

Natürlich kann Josey mich nicht wie beabsichtigt bei der Tour begleiten. In seiner Heimatgemeinde Kainakary ist er einer der Organisatoren der Hilfsaktionen und mit all seinem Wissen und seinem Organisationstalent natürlich unabkömmlich. So treffe ich denn nach getaner Arbeit erst am 4. September in Allepey ein. Anders als sonst holt mich Josey nicht selbst vom Flughafen Kochi, der seit dem 27. August wieder Flüge abwickelt, ab, sondern er schickt einen Fahrer. Am östlichen Rand von Alleppey endet die Fahrt und ich steige in ein Boot, welches in einem kleinen Kanal auf mich wartet. Wir laden noch Trinkwasser, Sperrholzplatten und weitere dringend benötigte Dinge und schon befinde ich mich auf dem kurzen Weg hinüber ins Dorf.

Hunderte Male bin ich in all den Jahren zwischen der Stadt und dem in der Kanallandschaft weit verzweigten Dorf hin und her gefahren, meist mit dem Rad. Erst zum zweiten Mal sitze ich in einem Boot, erstmals in einem mit Hilfsgütern beladenen. Am Ufer auf den Deichen sind alle fleißig dabei, ihren verbliebenen Besitz zu säubern und zu trocknen. An den Häusern zeichnen sich teilweise unglaubliche Linien der höchsten Wasserstände ab, die bei einigen wohl bis an die Decke des Erdgeschosses reichen. Mir wird zunehmend mulmig, als wir uns Joseys wunderschönem, nun 104-jährigen Haus nähern.

Es steht so da am Kanal wie immer. Allerdings sind die gelb gestrichenen Begrenzungsmauern des Grundstückes total durchfeuchtet und alles schimmert eher von dunkelgrün bis schwarz. Dann höre ich schon seine Stimme, er lacht als er mich sieht und wir umarmen uns zur Begrüßung herzlich. Dem Gras im Garten ist die wochenlange Überflutung prächtig bekommen. Da nicht geschnitten, aber hervorragend gedüngt, ist es üppig gewachsen, allerdings wie alles hier schlammgetränkt. Rund ums Haus sind auch hier nicht zerstörte Möbel, Matratzen, Hausrat, Textilien aller Art und, und, und zum Trocknen in die Sonne gestellt oder gehangen.

Alle sind wohlauf, auch seine betagten Eltern sind mit dem Boot schon wieder aus ihrem “Exil” bei ihrem anderen Sohn zurück und alle begrüßen Sie mich überaus herzlich. Das Haus immerhin ist schon mehrfach innen gereinigt und relativ trocken, sogar “mein” Raum ist schon für mich hergerichtet. Alles funktioniert, nur beim zweiten Bett hat es die Sperrholzunterlage zerlegt. Die muß der Tischler erneuern, aber da ich allein bin ist das heute kein Problem. An den Wänden kann ich nur ungläubig die Linien der Flut ablesen. Selbst die höher gelegen Schlafräume waren wochenlang bis zu einem halben Meter unter Wasser, in Küche und Essbereich sind es weit über ein Meter – unglaublich!

Ich höre kein Jammern, im Gegenteil sind alle mit ihren Gedanken in der Zukunft. Den großen Esstisch der Familie, an dem wir Dutzende Essen mit unseren Radfahrergruppen genossen haben, ihn hat die Flut irreparabel beschädigt. Gut so, höre ich, man wollte sich seit langem schon von ihm trennen, hat es aber nie getan. Nun sorgt die Flut dafür, dass Altes entsorgt wird und lange hinausgeschobene Investitionen stattfinden müssen. Zusätzlich können für gewisse Zeit, von einem Jahr ist die Rede, auch Hilfsprogramme und günstige Kredite in Anspruch genommen werden. Alles wird gut und die nächste derartige Flut, so sagen – oder hoffen – sie es hier zumindest, wird es erst in hundert Jahren wieder geben. Ich wünsche es Ihnen, hege aber meine Zweifel ob der weltweiten Klimaveränderungen und der damit zusammenhängenden Wetterkapriolen.

Nach einem kurzen erfrischenden Spaziergang in den heute einen dramatischen Himmel kreierenden Sonnenuntergang durch die schon trockenen Bereiche in der Nachbarschaft und unzähligen Gesprächen Joseys mit den Anwohnern lerne ich dann am Abend die Sichtweise der hiesigen Betroffenen zu Ursachen und Management der Flut in einer angeregten Unterhaltung kennen. Seit Aufzeichnung der Wetterdaten gab es lediglich 1924 eine vergleichbare Niederschlagsmenge. Über mögliche Opfer und andere Auswirkungen seinerzeit ist selbst den Alten nichts bekannt.

Natürlich könne man Menge und Zeitpunkt des Regens und die Orte, wo er niedergeht nicht beeinflussen. Einig sind sich jedoch alle, dass die Auswirkungen entlang der Flüsse unterhalb der Dämme sowie hier im tief gelegenen Kuttand nicht so schlimm hätten sein müssen, wenn einige Verantwortliche auch entsprechend gehandelt hätten. Zwei Hauptpunkte erregen die Gemüter; erstens das Management der vielen Staudämme des Staates in den Bergen der Western Ghats und zweitens die Informationspolitik der Verantwortlichen.

Wenn meine Gesprächspartner denn recht haben, so gibt es in den Bergen Keralas neben vielen kleineren 32 wichtige Staudämme, meist noch von den Briten konzipiert und errichtet, um die dort vorkommenden überreichlichen Niederschläge aufzufangen, das Wasser für Bewässerungsprojekte in den heutigen Staaten Tamil Nadu und Karnataka sowie zunehmend zur Gewinnung elektrischer Energie in Kerlala zu verwenden. Gleichzeitig sollen sie dem Hochwasserschutz in den flachen westlichen Landesteilen besonders während der Monsunzeit dienen.

Da der Strombedarf auch in Kerala in den letzten Jahrzehnten rasant gestiegen sei ist diese Thematik immer mehr in den Vordergrund gerückt. Keiner der Verantwortlichen wolle sich schließlich nachsagen lassen, dass man nicht das Maximum der dringend benötigten Energie bereitstelle. Konsequenz dessen seien stets maximale Füllstände der Dämme, um besonders in den trockenen Monaten vor dem Monsun dieser Verpflichtung nachzukommen. Wenn jedoch der Monsun einsetzt verschlafe man regelmäßig eine rechtzeitige angemessene Pegelführung, um auch dem Thema des Hochwasserschutzes gerecht zu werden. In jedem Jahr komme es daher, erst wenn die Pegel im Zenit des Monsuns bedrohlich werden zur Öffnung vieler Dämme. Aufgrund der ungewöhnlich großen Niederschlagsmengen seit Anfang August sei das überforderte Management der Dämme dann quasi im letzten Moment gezwungen gewesen, alle wichtigen Dämme fast gleichzeitig zu öffnen, um noch Schlimmeres zu vermeiden – mit den inzwischen bekannten traurigen Konsequenzen.

Hinzu komme der zweite Punkt, dass weder die fachlichen Behörden noch die politisch Verantwortlichen trotz der vorhandenen meteorologischen Hinweise die Bevölkerung rechtzeitig über die Öffnung der Dämme, die herannahende Flut und deren Ausmaß gewarnt hätten. Sie hätten damit ihre Kommunikationspflicht gröblichst verletzt oder überhaupt nicht wahrgenommen. Informiert wurden die Menschen hier unten angeblich nur von Familienmitgliedern und Freunden in den höher gelegenen Orten, nachdem diese schon zu Opfern geworden waren. Quasi zum Beweis werden mir traurige persönliche Schicksale von der Rettung von Menschen in letzter Minute und unnötigen materiellen Verlusten berichtet, da die Hauptflutwelle hier die Menschen in der Nacht mitten im Schlaf traf. Viele Verluste wären vermeidbar oder die Sicherungs – und Rettungsarbeiten zumindest besser organisierbar gewesen, wenn die Flut zeitlich gestreckter und damit in ihrer absoluten Höhe geringer angekommen wäre. Und, wenn man den Betroffenen durch eine verantwortungsvolle Informationspolitik etwas mehr zeitlichem Vorlauf ermöglicht hätte. Wieder einmal denke ich so bei mir – Incredible India.

Gut ausgeschlafen machen wir am kommenden Morgen mit Josey zunächst unsere länger nicht genutzten Räder startklar und dann geht es auf Erkundungstour. Bereits nach dem Überqueren der ersten Brücke direkt an seinem Haus rollen wir ins Wasser. Unser Ziel ist der von Allepey nach Chaganassery führende State Highway, die wichtigste angeblich noch immer nur teilweise befahrbare Straße der Region. Wir wählen die östliche Variante Richtung Pooppally-Kreuzung, da die schon teilweise trocken sein soll. Zunächst jedoch mache ich eine auch für mich neue Erfahrung, nämlich die des Radelns auf einer unzählige Male befahrenen Straße, die man jedoch in der braunen Brühe über weite Stücke erahnen muss. Das klappt ganz gut, erfordert aber neben der Ortskenntnis, guter technischer Radbeherrschung auch Überwindung, quasi im Blindflug langsam voranzustrampeln. Natürlich werden wir bis zu den Knien nass, aber das ist hier in den Tropen geschenkt. Einheimische warnen uns vor Schlangen, die derzeit massiv unterwegs sein sollen. Wir treffen zum Glück nur auf Schwärme kleiner Fische und die ganze Vielfalt der fischfressenden Vogelwelt.

Der Highway selbst ist dann überraschend trocken, trägt aber wie die Straßen bei uns in Deutschland nach dem Winter zahlreiche Spuren vorangegangener Belastungen und schreit förmlich nach sofortiger Ausbesserung an vielen Abschnitten. Immerhin ist er mit dem Rad gut befahrbar, selbst dort wo Josey noch massive Überflutungen vermutet hat. Grund dafür sind überdimensionierte Pumpen, die das Wasser von den Reisfeldern zurück in die inzwischen Normalpegel führenden Kanäle pressen. Wir erfahren, dass in der Region drei dieser Monster durch die Zentralregierung zur Verfügung gestellt wurden, die sehr effizient nach durch die regionale Verwaltung festgelegten Prioritäten ihre Arbeit verrichten.

Da Josey für die Verteilung weiterer Hilfsgüter zurück muß entschließe ich mich kurzfristig, eine längere Runde durch das betroffene Gebiet zu fahren, die nahe Thiruvalla einen wichtigen Hindutempel und in Edathua und Champakulam wichtige Kirchen einschließt. Überall sind die Straßen trocken und der Belag weit weniger in Mitleidenschaft gezogen als auf dem Highway. Auch sind die Bewohner am Rande mit ihren Aufräumarbeiten schon wesentlich weiter als bei Josey zu Hause. Alles strahlt schon wieder Normalität aus.

Natürlich stoppe ich auch bei Joseph Pooppally, Lisa’s Vater, meinem inzwischen 89-jährigen Freund. Inzwischen körperlich etwas gebrechlich zeichnet er sich als ehemaliger Dozent der politischen Wissenschaften an der Universität Bombay noch immer durch eine scharfe Analyse der indischen, besonders keralischen Zustände aus, welche er in brillantem Englisch zu formulieren weiß. Jedes Gespräch mit ihm ist noch immer ein Gewinn. Erstmals in seinem langen Leben stand auch sein wunderschönes altes Haus, Lieblings-Urlaubsstätte auch von Sir Edmund Hillary, Erstbesteiger des Mount Everest in dessen Zeit als neuseeländischer High Commissioner in Indien, komplett unter Wasser.

Er wollte es partout nicht verlassen, mußte dann aber in der Nacht vom 16. auf den 17. August, wie viele andere Alte auch, gegen seinen Willen aus dem überfluteten Bett gerettet werden. Inzwischen ist zumindest bei ihm zu Hause wieder scheinbare Normalität eingekehrt, jedoch ist auch er noch mitten in der Verarbeitung des Erlebten. Für ihn ist klar, dass die Flut zu einem wesentlichen Teil von uns Menschen gemacht ist und wir gut daran täten, die Zeichen als solche zu verstehen und unser Tun mehr in Einklang mit der Natur brächten.

Auf dem Rückweg entschließe ich mich (übermütig?), die näher an Aleppey gelegene Zufahrt zum Dorf zu versuchen. Zunächst ist es noch trocken, aber auf den letzten 2 Kilometern passiere ich Abschnitte, auf denen meine 29-Zoll-Laufräder komplett unter dem Wasser verschwinden. Es wird schon sehr mühsam, aber gaaanz langsam schlage ich mich durch, zumal außer mir keine weiteren Verkehrsteilnehmer unterwegs sind. Immer wieder treffe ich auf Kanus, die auch die Straße zur Orientierung nutzen. Aus den Häusern am Straßenrand erhasche ich ungläubige Blicke und an der letzten Brücke, einem kurzen trockenen Moment feuern mich gelangweilte Jungen und nicht mehr ganz nüchtere aus dem Toddy-Shop stolpernde Reisbauern an, durchzuhalten. Das mache ich. Ohne vom Rad zu müssen erreiche ich pünktlich zum Mittag Joseys Haus und erstatte der interessierten Familie bereitwillig Bericht.

Zwei Tage später lädt mich Josey ein, ihn in die Berge der Western Ghats zu begleiten, um dort auf seiner Gewürzplantage nach dem Rechten zu schauen. Noch immer sind die Straßen zu seinem Dorf überflutet, sodass wir zunächst mit dem Boot nach Alleppey übersetzen, wo sein Auto bei Angehörigen auf uns wartet. Die Hauptstraße in die Berge ist inzwischen wieder trocken und vom Treibgut befreit. Da sie jedoch über viele Wochen teilweise überflutet war, hat der lange Zeit aufrecht erhaltene Bus- und Lastverkehr punktuell erhebliche Schäden angerichtet. Neben der Abtragung der obersten Asphaltschicht geht es hier und da bis tief in den Unterbau. Eine sofortige Instandsetzung der sog. State Highways ist zur Vermeidung schlimmerer Schäden bei dem erneut einsetzenden Verkehr zwingend notwendig. Wahrscheinlich würden Straßen wie diese in Europa temporär gesperrt.

Nahezu unbeschädigt sehen die kleinen Straßen, die die Dörfer untereinander verbinden, aus, da hier kaum Schwerverkehr stattfindet. Die traumhaft schöne und für den Verkehr eminent wichtige Verbindungsstraße auf dem Kamm der Western Ghats zwischen den Städten Munnar und Kumily ist gut passierbar, auch wenn sie an erschreckend vielen Stellen teilweise unterspült und abgerutscht und damit nur einspurig befahrbar ist. Hier stehen wohl sehr aufwendige Instandsetzungsarbeiten an, die besser schnell angegangen werden, um Schlimmeres zu vermeiden und die Kosten überschaubar zu halten.

Wirklich dramatische Bilder entnehme ich nur den Zeitungen, die die Einheimischen aus den Tagen der Öffnung der Dämme am 15.08.2018 aufgehoben haben. Unterhalb des größten Damms (Idukki) hat es ein Dorf teilweise ausgelöscht. Nur die Brücke über den Fluss steht noch. Rechts und links davon fehlen Bäume, Häuser und Straßen.

Da tut es gut, dass mein Partner nach Abstimmung mit seinen örtlichen Hotel- und Transportpartner bestätigt, dass unsere Touren ab November definitiv stattfinden können.

Einige künftige Indien-Radler haben sich bereits bei mir erkundigt , wie sie/wir Hilfe leisten können. Am sinnvollsten sind direkt zufließende finanzielle Mittel, damit sich die Betroffenen die Dinge selbst kaufen können, die sie am dringendsten benötigen. Wir werden also wieder unsere Mittel zusammenlegen und ohne strukturelle Verluste den Betroffenen zu Gute kommen lassen.

Ich teile den Optimismus der Einheimischen beim Verlassen der Backwaters und freue mich auf die anstehenden Touren während des kommenden europäischen Winters.

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