Weniges in Indien ist indischer als das in die Millionen gehende Heer derjenigen, die für ihre unmittelbare Nachbarschaft oder Laufkundschaft das Nationalgetränk „Chai“ meist mit großer Hingabe in oft ganz eigentümlichen Konstruktionen, dem Tea Stall eben, zubereiten. Was heißt zubereiten, sie zelebrieren, sie leben die Zubereitung und den sich anschließenden Verkauf dieses für uns oft viel zu starken oder viel zu süßen, meist beides und vielleicht gerade deswegen so beliebten Getränkes.
Trotz der Uniformität ihrer eigentlichen Aufgabe, Tee zu brühen und zu verkaufen, hat sich quer über den Subkontinent eine unerschöpflichen Vielfalt an Teeverkäufern und Teeständen entwickelt. Da ich mich mehrheitlich in den Backwaters von Kerala aufhalte und zu den Stammkunden einiger dieser Zentren des lokalen Lebens in und nahe der Stadt Alleppey zähle, ist es mir ein Herzensanliegen, meine hiesigen Favoriten meinen europäischen Radfahrfreunden näher zu bringen.
Alle liegen sie an gut frequentierten Punkten, zumindest an Straßenrändern, besser noch an Kreuzungen oder Haltestellen von Bus- oder anderen Verkehrsverbindungen an einer meist schrägen Böschung zwischen der Straße und dem deutlich tiefer dahinter befindlichen Reisfeld. Da es – wie meist in Indien – keine wirklichen Vorschriften für deren Einrichtung gibt, oder sich wie üblich niemand an selbige hält, ist jeder Tea Stall garantiert immer ein Unikat mit ungewisser Lebensdauer. Es genügen meist mehrere grob behauene Baumstämme oder es finden sich einige Betonpfeiler, um das kleine Reich mit Brettern, Wellblech, Plastikfolien, gern auch mit den Rückseiten omnipräsenter nicht mehr benötigter Wahlplakate gegen äußere Unbill zu sichern. Hinzu kommen ein mehr, meist weniger solider Boden und ein wie auch immer geartetes Dach gegen die in der Region gleichermaßen erbarmungslosen Gesellen Sonne und sintflutartige Regenschauer. Meist ist zumindest ein schattenspendender Baum in der Nachbarschaft, um welchen ganz unkonventionell Sitzmöglichkeiten geschaffen werden.
Aufgehübscht werden die nicht wirklich ansehnlichen Buden durch kunterbunte Werbebanner verschiedenster Firmen, deren Produkte selten oder gar nicht im Laden zu finden sind. Hier im Kuttanad, der Reiskammer Keralas tut sich der regionale Ableger von Bayer aus Leverkusen mit Werbung für seine Schädlingsbekämpfungsmittel hervor, welche die Teetrinker fleißig in die Felder sprühen, um die Erträge zu steigern und das Volkswohl zu mehren. Zunächst mehren sie wohl das des deutschen Chemiegiganten. Irgendwie erinnert mich diese bizarre Ausstaffierung an die Flut bunter Werbung, die 1990 seitens der Lebensmittelindustrie den sterbenden ostdeutschen Lebensmittelhandel überzog. Den gibt es nicht mehr und die allermeisten der damals plakatierten Aussagen sind inzwischen verboten. Hoffentlich kein böses Omen für die sympathischen Tee-Basis-Versorger!
Geschäftsgrundlage eines jeden dieser Lädchen sind zumindest einflammige Gaskocher, um die Hauptausgangsstoffe Milch und Wasser zu erhitzen. Wer sich einen weiteren leisten kann, der steigt sofort in die nächsthöhere Kategorie der sog. Hotels auf. Hier geht es mitnichten um Übernachtungsmäglichkeiten, sondern neben dem Tee um das frische Herstellen der beliebten südindischen Snacks wie Veg. pakoras, Vadas und wenn man denn über eine flache Eisenplatte verfügt, vom Klassiker Dosa und dem beliebten Parotha-Fladenbroten. Aber das ist schon wieder eine eigene Geschichte. Der einfache Tea Stall hat meist auch einige dieser Snacks vorrätig, bezieht sie aber von Partnern aus der genannten höheren Liga.
Was braucht es noch neben dem oder der Meister/in, um den ersehnten Tee im Glas zu haben? Zunächst das Ausgangsprodukt, in unserem Fall eine Tea Dust genannte dunkelbraune grob pulverige Masse, die optisch eher an Kaffee erinnert. Erzeugt wird sie in den Bergen der Western Ghats. Neben den für die Premiumqualitäten üblichen Blattspitzen werden für diesen Massentee die oberen drei Blätter inklusive von Teilen des Zweiges mittels einer Schere geerntet und nach dem gesamten klassischen Prozess der Teeherstellung noch zusätzlich zum Endprodukt vermahlen. Beim Brühen entsteht neben dem kräftigen Teearoma auch die sonst vor allem bei Assam Tees bekannte dunkle Färbung. Es sind robuste Sorten. Eine Grundvoraussetzung, um sich geschmacklich gegen die Milch, in welcher sie gekocht werden bzw. in die der essenzartige Sud gegeben wird, und gegen die Zuckerbombe in jedem Glas auch durchsetzen zu können. Wird der Chai in der Masala-Variante angeboten, so erweitert sich das Geschmackserlebnis noch um eine Komponente aus frisch im Mörser gestoßenen Gewürzen wie Ingwer, Kardamom, Zimt und Nelken in unterschiedlichsten Zusammensetzungen. Der Gast erlebt hier garantiert immer eine Überraschung, in den allermeisten Fällen eine sehr angenehme dazu.
Damit alles perfekt gemischt wird und im Glas auch gut zur Geltung kommt, gehört es zur Ehre des Ladeninhabers, dass er das Gemisch vor den Augen des Gastes im hohen Bogen mehrfach aus dem Topf ins Trinkglas und wieder zurück schüttet, bis sich auf dem Tee selbst eine kleine Schaumkrone bildet. Der Meister tut all dies, ohne direkt hinzuschauen und ohne einen Tropfen zu vergeuden. Sehr beeindruckend ist es allemal und ausdrücklich nicht zur Nachahmung empfohlen!
Neben der Basisversorgung mit Tee oft ab 05:00 Uhr morgens und nach einer ausgedehnten Pause in der Tagesmitte bis in den Abend hinein streben die Einheimischen den Stand noch wegen des obligatorischen, hier Chaat genannten Blattes an, in welches sie gehackte Teile der Bethelnuss sowie verschiedene Gewürze mit einer Kalkpaste vermischen und diese kleine Bombe dann stundenlang kauend in ihrem Mund behalten. Die lokalen aus einem Blatt gerollten Zigaretten, Beedis genannt, oder auch einzeln angebotene Markenzigaretten gehen meist in Größenordnungen ans rauchende Volk. Praktischer Weise hängt vorn am Tresen oft ein glimmendes Stück Kokosseil, mittels welchem die Raucher quasi im Vorbeigehen ihre Glimmstängel entzünden können.
Kleinstpackungen diverser Chips-, Snack- oder Nussmischungen sowie von Duschgels oder Waschmitteln runden das spartanische Angebot ab. Oft steht noch eine Luftpumpe und etwas grobes Werkzeug für die erste Hilfe an Fahrrad oder Motorrad in der Ecke, wie auch einige Kanister mit Trinkwasser, Öl und anderem. Neuerdings gibt es bei fast allen auch versiegelte Trinkwasserflaschen und ein Basissortiment an Softdrinks – ein Resultat der auch in Indien erfolgten Marktaufteilung unter den beiden globalen Giganten des dunkelbraunen angeblich anregenden Zuckerwassers.
Wie überall in Indien sind es die neuen Zusatzsortimente, die für erhebliche neue Müllmengen sorgen. Bei aller Sympathie für meine Teestände darf ich nicht verschweigen, dass es um sie herum meist nicht sehr sauber ist. Im Gegenteil, all der Müll wird erst zur Seite und dann mit dem Besen nach hinten ins tiefer liegende Feld gekehrt. Dort wird wohl ein- oder zweimal am Tage ein Feuer entzündet, welches aber erhebliche problematische Restmengen an die nähere oder weitere Umgebung weitergibt.
Da aber derzeit eine von Premier Modi angestoßene Welle durchs Land geht, das Bewusstsein der Inder für Fragen der Sauberkeit zu sensibilisieren und letztlich an allen Orten diese schrittweise zu verbessern, wird dies auch meine geschätzten Teestände früher oder später sauberer machen. Hoffentlich bleibt dabei nicht ihr typisches Flair auf der Strecke, wie es an einigen Busbahnhöfen, Bahn- und Flughäfen schon zu beobachten ist. Da stehen dann desinteressierte Typen hinter einem Thermosbehälter, aus welchem vorgebrühter Einheitstee oder -Kaffee in Pappbechern ausgeschenkt wird. Das Zeug schmeckt oft unterirdisch schlecht und die gedankenlos weggeworfenen Pappbecher bilden schnell rund um den Stand einen regelrechten Teppich, bis der nächste Windstoß sie weiter in die Umgebung trägt.
Incredible India!