1,2 Milliarden Inder und ein Problem

Indien hat in den letzten Jahrzehnten riesige Fortschritte auf beinahe allen Gebieten gemacht. Auch der Hunger als Geißel früherer Tage ist zumindest im Süden inzwischen als gesellschaftliches Problem überwunden. Eher stellt man als Besucher verwundert fest, dass der Fleischkonsum bei großen Teilen der Bevölkerung immer weiter ansteigt und dass die typischen Probleme der westlichen Überflussgesellschaft wie Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes etc. längst auch hier Einzug gehalten habe.

Aber nicht darum soll es hier gehen, sondern um ein anderes Thema. Das, wie man mit den Endprodukten der menschlichen Energieverwertung umgeht. Landwirt Josey und ich führten auf einer der letzten Radetappen dazu einen noch nicht beendeten Disput. Er ist in Indien auf seiner Gewürzplantage (Kardamom, Pfeffer und etwas Kaffee) einer der Vorreiter für organic farming, also Öko-Landbau. Er verzichtet auf Kunstdünger und Pestizide und lässt stattdessen u.a. 4 Kühe kreuz und quer durch sein Eigentum ihre Stoffwechselendprodukte verteilen. Gleiches tuen ein gar erbärmliches Exemplar samt ihres bemitleidenswerten Kälbchens auf seinem Grundstück in den Backwaters. Wegen des kläglichen Bildes habe ich das Muttertier auf „Gandhiji“ getauft. Hoffentlich hat sie wenigstens ähnlich enorme innere Kräfte wie der Vater der Indischen Nation! Da seine Tiere nur allerlei leckeres Grünes, Heu und Wasser konsumieren, seien ihre Ausscheidungen annähernd geruchsneutral und der beste Dünger für den Boden. Er liebt die Kuhscheiße schon beinahe, dabei gibt die Kuh nicht mal genug Milch für ihr Kalb, geschweige denn, dass wir was davon für unseren Tee oder Kaffee hätten. Seltsame Logik. Die stinkt, genau wie die Haufen hier im Garten. Aber sein eigener Vater ist mein schweigsamer Verbündeter. Er entsorgt das Zeug zumindest vor dem Haus und setzt es weiter hinten zu einem in der Konsequenz sehr nährstoffreichen Gebräu an, welches den Pflanzen sichtbar gut tut.

Ganz anders Joeseys Position, wenn es um uns Zweibeiner geht, vor allem wenn sie nicht wie wir im Westen oder hier in Gottes eigenem Land Kerala aufs WC gehen. Also im Prinzip geht sein zumindest verbal fast schon missionarischer Eifer, alle aufs Klosett zu bringen, gegen sicher weit mehr als die Hälfte der indischen Bevölkerung. Doch warum eigentlich? Seit Jahrtausenden erledigen Millionen Inder auf dem Lande und an den Tausende Kilometer langen Küsten ihr Geschäft am Straßenrand, im Feld oder am Strand. Sie benötigen weder Papier noch Unmengen Wasser. Sonne, Wind, selten mal Regen, dafür Milliarden kleinerer und ganz kleiner Helfer sorgen laufend dafür, dass die Spuren ihrer Notdurft erstaunlich schnell verschwinden und dem natürlichen Kreislauf in offensichtlich verträglichen Mengen wieder zugeführt werden. Zumindest auf dem Lande ist seine Aufregung also ein Stück weit heiße Luft, oder zumindest ein warmer Zug dessen… Einzig wenn die Ware frisch ist und ich mit meinem Talent, immer in den dann noch übelriechenden Kern des Problems zu tappen, pflichte ich meinem Josey kurz bei, dass es sich zumindest um ein ästhetisches Problem handelt. Allerdings nur für mich und nicht für die weiterhin nach Millionen zählenden Verursacher der Haufen.

Wieder anders, ja ganz anders sieht es im Zuge der fortschreitenden Urbanisierung mit dem Thema in den Städten, vor allem in Megacities wie Mumbai, Kolkatta oder Delhi aus. Offensichtlich geht es hier derzeit nicht ohne die Verdünnung mit dem immer kostbarer werdenden Nass. Ich bin immer wieder überwältigt von der Selbstreinigungskraft der Mutter Natur! Was sie an vielen Strandabschnitten Mumbais, an und in den örtlich zu wahren Kloaken mutierten Flüssen Yamuna, Ganga oder Hoogly leistet, ist ein wahres Wunder! Und wir Menschen danken es ihr, indem wir noch Tausende Tonnen Plastikmüll hinterher werfen. Damit kann sie bekannter Massen nicht umgehen und die Quittung ist überall sichtbar.

Einerseits spüren wir in der einzigartigen Kulturlandschaft der Backwaters deutlicher als anderswo in der Welt den durch die globale Erwärmung hervorgerufenen Anstieg des Meeresspiegels, andererseits haben wir selbst hier im wasserreichsten Unionsstaat Indiens Probleme bei der Bereitstellung von Trink- und Brauchwasser für die Bevölkerung. Es fehlt an Wasser in den Talsperren. Die Wasserkraftwerke können den Energiebedarf selbst dieser weitgehend ländlichen Region nicht befriedigen und es kommt so kurz vor der Regenzeit täglich zu Stromabschaltungen. wobei das Potenzial der so unbarmherzig brennenden Sonne vorerst fast ungenutzt bleibt. Das aber wird sich sicher sehr bald und grundlegend ändern (müssen).

Da der Wassermangel in anderen Teilen Indiens und der Welt aber noch viel akuter ist, kommt es schon heute, aber noch viel mehr in der Zukunft auf einen sehr effizienten und intelligenten Umgang mit dieser kostbaren Ressource an. Das WC wird langfristig in vielen Gegenden sicher nicht dazu gehören. Dafür werden neue Lösungen, wahrscheinlich einfachere, als wir derzeit glauben, und sehr nah an den seit Jahrtausenden bewährten, gefunden werden. Ebenso wie für das Energieproblem, wo für Regionen nahe des Äquators alle Ressourcen zur Umsetzung praktikabler solarer Lösungen bereitgestellt werden sollten.

Ich zumindest vertraue auf die Kreativität der Wissenschaftler und Ingenieure, uns die notwendigen Lösungen an die Hand zu geben und so auch Mutter Natur ein Stück weit bei der Korrektur der von uns verursachten Fehlentwicklungen zu entlasten.

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