Daimler in Mumbai – welch ein Unterschied!
Gerade aus Deutschland angekommen unternehmen wir, nach einer kurzen Pause, einen ersten Erkundungsspaziergang durch den Süden der Stadt. Von unserem Hotel in Colaba brechen wir auf in Richtung des noch immer britisches Flair verkörpernden Stadtteils Fort mit der BSE (Bombay Stock Exchange), einer der wichtigsten Börsen Asiens und des größten Bahnhofs des Kontinents, dem Unesco-Weltkulturerbe CST (Chhatrapati Shivaji Terminus). Auf dem Wege müssen wir zwangsläufig verschiedene angebotene lukullische Verführungen ignorieren oder doch lieber probieren?
Als vor unseren Augen ein junger Mann an einer Straßenecke eine auf den Punkt gereifte Papaya und eine optisch sooo!!! einladende Wassermelone aufschneidet, können wir nicht länger widerstehen. Ich ordere kurz entschlossen für uns und platziere die Ware auf den Plastik- bzw. Papiertellern auf dem benachbarten Tisch. Aber halt! Das ist kein Tisch, sondern die bestens erhaltene Heckklappe einer ebenfalls bestens erhaltenen Mercedes E-Klasse-Limousine aus den 1970er Jahren.
Egal, was schert es mich, und wir sind ja eh gleich wieder weg. Ralf, einer meiner Gäste, der sich in dieser Materie auskennt, weist mich darauf hin, dass wir bitte höchst sorgsam mit unseren Papp-Tellern umgehen sollten, denn aus eigener Erfahrung wisse er, dass die Eigentümer eines solchen Gefährtes in Deutschland beim geringsten Kratzer durchaus Klagen wegen … anstrengen würden. Überhaupt sei mein sorgloses Verhalten in dieser Situation voller Risiken und höchst bedenklich. Wirklich? Das hatte ich so nicht auf dem Schirm. Ich bin wohl doch schon zu lange weg aus der korrekten, braven deutschen Gesellschaft?
Teufel! Wir genießen alle gerade das überaus leckere frische Obst, da erscheint er, der leibhaftige Eigentümer des auch in dieser Stadt recht seltenen Gefährtes. Im Geiste bereite ich mich schon auf üble Beschimpfungen vor und lege mir eine vage Verteidigungsstrategie zu Recht. Er aber, dessen Eigentum wir so ungehörig in Besitz genommen haben, bedeutet uns mit einem Lächeln, dass er uns bei unserem Genuss nur ungern stört und bereit ist, mit der Abfahrt zu warten, bis wir unseren „Tisch“ freigeben können.
Das wiederum beeindruckt meine frisch angereisten Gäste doch sehr und ist noch am Abend Gesprächsthema. Es bestärkt mich aber auch, dass ich, genau wie der Besitzer und Fahrer des Gefährtes noch „richtig“ ticke und meine Energie nicht in sekundären Feldern verschwende. Ein guter Einstieg für die kommenden drei Wochen ist es allemal. Wir alle wollen ja Indien erfahren und haben einen ersten Schritt dahin gemacht.
Barbara
Wie immer stelle ich mich im ersten Gespräch mit meinen neu angereisten Gästen gern etwas ausführlicher vor. Klar, dass da auch meine Vergangenheit als ehemaliger DDR-Bürger, der ob seines erfolgreichen Moskau-Studiums die Aussicht auf eine Karriere im untergegangenen Arbeiter-und-Bauern-Regime gehabt hätte, nicht verschwiegen wird. Meist wird das von den mehrheitlich westdeutsch sozialisierten Gästen kopfnickend zur Kenntnis genommen. Interessante Debatten entspinnen sich mitunter, wenn weitere ehemalige DDR-Bürger mit am Tisch sitzen. Da gilt es dann, eigenen Biografien, ja mitunter Schicksale in den Kontext zu setzen. So auch bei Barbara, aufgewachsen im Osten, seit über 50 Jahren Wahl-Hamburgerin.
Als ich mit meiner Einführung fast am Ende bin, entfährt ihr spontan „Du warst also auch so einer von diesen Bonzen!“. Die anderen am Tisch sind zumindest etwas irritiert, der Gesprächsfaden ist gerissen. Betretenes Schweigen. Da es sich um Geschehnisse von vor über einem Viertel Jahrhundert und weit davor handelt, biete ich ihr an, das Thema gern unter vier Augen zu ihrer Zufriedenheit auszudebattieren, verwahre mich jedoch gegen die in meinem Fall mit Sicherheit nicht zu treffende Zuordnung zur damaligen DDR-Führungs-Clique. Später entschuldigt sie sich wegen der Wortwahl und wir nutzen die Möglichkeit, alte Befindlichkeiten, in ihrem Falle auch lange zugedeckte Verletzungen, unaufgeregt und fair zu besprechen.
Alle in der Gruppe haben wir einen nicht unerheblichen Teil unseres persönlichen Lebens im geteilten Nachkriegsdeutschland verlebt. Ein(e) jede(r) hat nach eigenem Bekunden versucht, aus den vorhandenen Lebensumständen das für sie/ihn Beste zu tun, ohne dabei Dritte zu schädigen. Es würde mich freuen, wenn unsere Gespräche Barbara dabei helfen, mit dem ihr in ihrer Jugend durch das SED-Regime erfahrenen Unrecht gelassener umzugehen und den Blick auf das Hier und Jetzt und vor allem auf das noch Kommende zu fokussieren. Und garantiert helfen uns allen die Erlebnisse am Wegesrand in Indien, vieles im eigenen Wertekanon kritisch zu hinterfragen und sicher manches neu zu bewerten. Auch dafür ist diese Radreise gut, für einen jeden von uns!
Von „Heiligen Kühen“ und anderem Getier
Wir sind dem schaukelnden Boot nach der gut einstündigen Überfahrt durch die beeindruckende Bucht von Bombay gerade entstiegen und wandern gemächlich den berühmten Höhlentempeln von Elephanta entgegen. Alle haben im Reiseführer gelesen, dass es in Indien an touristisch interessanten und damit stark frequentierten Orten immer vor neugierigen, manchmal auch aufdringlichen bis aggressiven Affen auf der Hut zu sein gilt. Aus meiner persönlichen Erfahrung weise ich zusätzlich darauf hin, dass speziell auf Elephanta Island auch Kühe und Ziegen zu einem nur unseren nahen Verwandten zugeschriebenen Verhalten neigen, wenn sie denn für sie erstrebenswerte Leckereien wie Maiskolben, Bananen o.ä. in den Händen der Tagestouristen erspähen.
Kaum ausgesprochen werde ich selbst beinahe Opfer einer durchaus unfreundlichen Attacke eines nicht mehr ganz jungen Bullen, obwohl ich sichtbar außer meiner Wasserflasche keinen weiteren Proviant mit mir führe. Geistesgegenwärtig weiche ich einem Stoß seiner beeindruckenden Hörner aus und komme fast schmerzfrei aus der Situation. Dies allen künftigen Gästen zur Mahnung!
In den kommenden Tagen begegnen wir immer wieder allem möglichen Getier, welches aber meist komplett desinteressiert an uns ist. Streunende Hunde am Straßenrand und am Strand zeigen sich dieses Mal meist von ihrer entspannten Seite. Auch die vielen verschiedenen Affen beeindrucken uns entweder durch tolle Flugschauen in den von ihnen bewohnten Bäumen oder sie ignorieren uns. Gleiches trifft auf Kühe, Ziegen und Schafe auf den von uns befahrenen Strassen zu. Hier sind immer wir es, die höflich zurück stecken und gegebenenfalls einen Bogen um den geschätzten Vierbeiner fahren.
Hoffentlich einmalig bleibt aber ein Erlebnis, welches wir beim Durchfahren des Wildreservates von Bandipur und Mudumalai hatten. Offensichtlich fühlte sich ein junger wilder Elefantenbulle durch mich beim Überqueren der Straße behindert. Jedenfalls stieß er ein weithin vernehmbares Trompetensignal aus und inszenierte eine kurze Attacke auf mich. Diese stellte er zum Glück nach wenigen Schritten ein. Offensichtlich hat ihm mein sportlicher Antritt auf dem Rad genügt, um sich wieder zu beruhigen. Mir sitzt der Schreck jedoch noch immer in den Gliedern. Auf eine Wiederholung kann ich getrost verzichten!
Immer wieder einmal muss man für mehr oder weniger große Schlangen bremsen, wenn sie nicht schnell genug den Weg ins schützende Dickicht finden. Interesse an uns haben die nicht, nur sind wir mitunter auf dem Rad einfach zu schnell für sie.
Und egal zu welcher Jahreszeit, immer gibt es prachtvolle Vögel zu beobachten. Da heißt es ganz einfach immer wieder einmal anhalten und staunen. Stellvertretend erwähne ich hier nur den Nationalvogel Indiens, den Pfau, besonders natürlich den in Blau-, Grün- und allen Farbtönen dazwischen schillernden Hahn, und den „unserer“ Biermarke den Namen gebenden Kingfisher (Eisvogel).
Hijras
Wer schon jemals mit der Indischen Eisenbahn gefahren ist, dem sind sie, wie uns auch auf dem Wege von Mumbai nach Goa durch den Konkan, bestimmt aufgefallen, diese schrill geschminkten und in prachtvolle Saris gekleideten Damen, die doch keine sind. In Indien nennt man sie „das dritte Geschlecht“.
Sie sind Transvestiten, Eunuchen, meist aber im Lande nicht offiziell als solche akzeptierte Schwule. Sie beziehen ihr Einkommen entweder aus der Prostitution oder aber als uneingeladene Gäste bei Hochzeiten und anderen Familienzusammenkünften, oder eben als „Bettler“ in Zügen, wie dem unseren.
Wie geht das denn? Die hinduistische Gesellschaft legt großen Wert auf ein gutes Karma und fürchtet bei den obigen Anlässen jede Form negativer Prophezeiungen. Diese können oft von den ungebeten erscheinenden Hijras erfolgen. Um dies auszuschließen, werden sie dann mit finanziellen Zuwendungen, auch auf unserer Zugfahrt, eben davon abgehalten. Trotz all der bunten Fassade fristen die meisten dieser Männer ein eher trauriges Dasein.
Dies wird sich kaum grundlegend ändern, solange die Gesellschaft sich nicht endlich dem Thema der Homosexualität öffnet. Davon sind wir aber noch weit entfernt. Gerade dieser Tage wurden in Vorbereitung der anstehenden Unterhauswahlen national, wie regional die Wählerverzeichnisse veröffentlicht. Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 1,25 Mrd. Einwohnern und mehr als 815 Mio. Wahlberechtigten werden knapp 30.000 Angehörige des „dritten Geschlechtes“ ausgewiesen. Lächerlich! Diese sind nur die Spitze des Eisberges, sind nur einige der wenigen, die den peinvollen Alltag der Hijras auf sich nehmen. Millionen homosexuell empfindender Menschen werden weiterhin sich selbst überlassen oder schlichtweg ignoriert – bestenfalls. Armes reiches Indien!
Goa in der Nachsaison – wer zu spät kommt…
…wie wir aus Bombay, weil die Diesellok zwischendurch den Geist aufgegeben hatte und durch eine neue ersetzt werden mußte, wird erst einmal von Josey mit der in Indien bei derartigen Anlässen obligatorischen Jasmin-Blumenkette begrüßt. Leider verpassen wir den hier lebendigen und farbenfrohen Karnevalsumzug um gerade einen Tag! Die Bilder in der Tagespresse können einen neidisch machen. Vielleicht war es in Köln vor 150 Jahren auch einmal so entspannt fröhlich und kommerzfrei?
Dann geht es aber gut voran. Wir richten sofort die Fahrräder für die morgendliche Probefahrt am Strand her und für ein erstes erfrischendes Bad im Meer reicht es kurz vor dem Sonnenuntergang für manche auch noch. Ich gönne mir diesen Spaß erst mit dem Sonnenaufgang am nächsten Morgen, bin dafür aber allein im Wasser – echter Luxus eben.
Nach dem Frühstück drängele ich angesichts der kommenden Flut alle zum Aufbruch. Es lohnt sich, kommen wir doch per Rad trotz schnell steigenden Pegels relativ problemlos an das von mir angestrebte südliche Ende des langen Strandes nach Mobor, genauer am dortigen letzten urigen zivilisatorischen Punkt, dem „Blue Whale Resort & Restaurant“, direkt an der Einmündung des Sal-Flusses in den Ozean gegenüber des malerischen Fischerdorfes Betul. Auf dem Rückweg werden wir dann doch noch eingeholt von inzwischen wieder nüchternen Karnevalsjüngern, die uns aus ihren Wasserpistolen erfrischen und dabei auch in mehr oder weniger passende Blautöne hüllen. Lustig ist es aber auf jeden Fall- und zum Glück auch abwaschbar!
Am Abend beschert uns Josey noch eine Bootstour in den Sonnenuntergang auf dem Mandovi-Fluss in Goas Hauptstadt Panaji. Die meisten der angekündigten Künstler zur Darbietung des kulturellen, portugiesisch geprägten Erbes sind wohl karnevalstrunken, also nicht verfügbar. So entwickelt sich auf dem Dampfer dank eines eifrigen lokalen DJ eine bizarre Party vornehmlich nordindischer Gäste, die sich zu uns nicht bekannten Bollywood-Hits zu eher fragwürdigen Tanzdarbietungen auf der Bühne hinreißen lassen. Zumindest genießen wir in der Stadt noch ein super vegetarisches Dinner und auf dem Rückweg ein Feuerwerk. Trotzdem wird es diesen Abend in der Form mit mir künftig nicht geben. Wobei, so schräg ist es schon fast wieder eine echte Empfehlung!?
Am kommenden Morgen geht es – noch in Goa – nur nach Süden. Zunächst über die Brücke über den Sal-Fluss und dann über viele weitere, teils echt giftige Hügel, vorbei am altehrwürdigen Fort Cabo di Rama nach Palolem Beach. Die Brücke ist seit ca. 18 Monaten fertiggestellt, jedoch noch immer nicht für den offiziellen Verkehr freigegeben. Zweiradfahrer, wie auch wir im Dezember 2013 und auch jetzt wieder, nutzen die vorhandenen Schlupflöcher zur schnellen Passage. Einheimische teilen uns auf Anfrage mit, dass die offizielle Einweihung bisher lediglich daran gescheitert sei, dass die dafür notwendigen wichtigen politischen Persönlichkeiten keinen Platz in ihrem engen Terminplan gefunden hätten. Der ätzende Dank aller weiterhin auf weite Umwege angewiesenen Trucker und der beißende Spott aller anderen hier ist ihnen schon lange gewiss. Nur der alte Fährmann mit seinem seit gefühlt 100 Jahren nicht mehr TÜV-tauglichen Gefährt freut sich über die unverhofft anhaltende Beschäftigung.
Palolem Beach selbst ist ein gar reizender Ort. Am mondsichelförmigen Strand befördert die Ebbe einige schön gerundete Felsen zu Tage. Leider wird diese wunderbare Harmonie jäh durch einige russisch sprechende Touristinnen gestört. Die haben – obwohl oder weil noch in den besten Jahren – jedes Gefühl für Ästhetik entweder nie gehabt oder schon längst verloren. Jedenfalls präsentieren sie ihre opulenten fleischlichen Rundungen in oft grenzwertigen, weil viel zu knappen textilen Hüllen. Trotzdem bleibt das von uns gewählte Marv`Inns natürlich unsere Empfehlung!
Achtung Sonne!
Nach unserer ersten „Waldetappe“ hinüber in den Unionsstaat Karnataka steigen alle wie geplant in Karwar zum Transfer in den Bus. Ich aber beschließe, die ca. 55 km bis zum Hotel bei Gokarna in der Mittagsstunde per Rad zu absolvieren. Nach gut zwei Stunden bin ich dann auch schon im Hotel und erledige noch etwas Büroarbeit sowie das Reinigen meiner Radklamotten.
Gegen 16:00 Uhr fahren wir mit dem Bus, wie verabredet, zunächst zur Salzlagune von Gokarna und dann weiter zum Om Beach, wo wir nach dem Baden in einem kultigen Ambiente unser Dinner genießen werden. So weit der Plan.
Zwischendurch beim Wiedereinstieg in den Bus nach dem Besuch der Salzlagune nimmt mich mein Körper, sprich mein Kreislauf, mal kurz aus der selbst gewählten Kampflinie. Ich trete für wenige Sekunden weg, erbreche den Schluck soeben getrunkenen Wassers und bin unendlich müde. Das von allen schnell im Bus bereitete Lager nehme ich dankend an. Auch wenn ich unmitttelbar danach wieder einsatzfähig scheine, fühle ich mich am Strand und am ganzen Abend doch schlapp. Ein kurzes „googeln“ im Hotel bestätigt dann die Vermutung, dass ich einen veritablen Hitzeschlag eingefahren habe und mit Rücksicht auf die folgenden Tage Vorsicht walten lassen sollte.
Gelernt, getan! Am kommenden Morgen verzichte ich auf mein Rad und steige in den Begleitbus. Alle finden es gut, nicht alle haben mir das zugetraut. Langweilig wird mir nicht. Zunächst kann ich in aller Ausführlichkeit den Aufbau eines dörflichen Obst- und Gemüsemarktes beobachten und mit den Teilnehmern den morgendlichen Tee teilen. Kurz darauf beeindruckt uns eine fahrende Gemeinschaft von Schmieden, vor allem die der weiblichen Hammerschwingerinnen, die wie einst bei uns im Mittelalter in einer Kleinstadt Station macht und ihre Produkte anbietet. Josey greift auch gleich zu und erwirbt für seine Gewürzplantage eine furchteinflößende Axt. Nach dem gemeinsamen Frühstück dauert es nicht lange, bis Ulrich wegen eines Defektes meine Hilfe benötigt. Kaum habe ich im fahrenden Bus den total ruinierten Schlauch gewechselt, ereilt mich ein weiterer Hilferuf von Josey.
An der quasi einzigen Möglichkeit des Tages, falsch abzubiegen, haben sie dann auch Barbara verloren. Alle biegen in der Kleinstadt nach rechts ab, sie aber mit etwas Rückstand folgend, wählt den linken Weg, der er aber in diesem Fall tatsächlich nicht der rechte ist. So fahren wir ihr landeinwärts in die Berge nach, geben jedoch nach zwei heftigen Anstiegen unser Unterfangen auf, da wir uns beim besten Willen nicht vorstellen können, dass sie so schnell und dazu freiwillig hierher gefahren sein sollte. Weit gefehlt! Diese Frau hat Power. Im folgenden zweiten Versuch holen wir sie dann nach „zahlreichen Hinweisen aus der Bevölkerung“ tatsächlich aus den Bergen ab. Alle wieder vereint, genießen wir dann am Strand von Murudeshwar am Nachmittag ein köstliches Kingfisher-Bier. Wir haben es uns alle redlich verdient, zumal es der einzige Ort während der Tour ist, bei dem man mit etwas Vorstellungskraft von einem Biergarten sprechen könnte, noch dazu mit einem kräftigen Meeresrauschen!
Fahrstuhl in den Himmel
Murudeshwar ist ein nicht nur in Indien einzigartiger Ort. Neben dem bereits erwähnten „Biergarten“ hat es einen Tempel, der Heerscharen von Pilgern aus dem ganzen Land anzieht. Um diesen nicht zu verfehlen, hat man ihn mit einem 18-stöckigen, knapp 90 Meter hohen Eingangsturm versehen. Dieser ist, und das habe ich bei meinen bisherigen Besuchen immer glatt ignoriert, weil ich es mir schlichtweg nicht vorstellen konnte, mit einem Fahrstuhl versehen! Dank meines aufmerksamen Gastes Ralf merke ich es nun auch. Wir fahren sogar hinauf in den Himmel, oder zumindest in den Turm und sind dem Himmel damit doch sehr nahe. Gemeinsam mit den Einheimischen genießen wir die tolle Aussicht.
Es ist auffällig, dass da oben noch gut Platz für zumindest ein Ausflugs-Panorama-Cafe ist. Überhaupt scheint der Eigentümer des gesamten Areals ein Gespür für die Geschäftsmöglichkeiten im 21. Jahrhundert zu haben. Die vermeintlichen Pilger wollen auch in Indien immer mehr unterhalten werden. Dies geschieht zu einem erheblichen, nicht übersehbaren und überhörbaren Teil am benachbarten Meeresstrand. Dann ist rund um den Tempel ein kleines Phantasia-Land mit Szenen aus den hinduistischen Epen gebaut und über allem ragt der Turm mit seinen bei weitem noch nicht ausgereizten Potenzialen. Priester begegnen uns heuer überhaupt nicht. Wie kann das denn sein?
Der erstaunlich jugendlichen Klientel der Wallfahrer gefällt das hiesige moderne Konzept sichtlich, auch wenn es uns mitunter doch arg nah am Kitsch erscheint. Jedenfalls versuchen einige Zehntklässler aus Bangalore begeistert, uns das Universum ihrer hinduistischen Welt zu erklären. Sie und wir haben dabei viel Spaß. Vielleicht ist das der Weg, um heute und künftig die nachwachsende Generation mit traditionellen Werten auszustatten und sie so ein Stück weit zukunftsfähig zu machen?
Einkehr in Agumbe
Nach dem planmäßigen vormittäglichen Transfer und dem Aufstieg in die Höhen der Western Ghats (per Bus) erreichen wir am späten Vormittag das verschlafene Nest Agumbe. Zunächst führe ich die Gruppe in eine echt archaisch anmutende Weberei mit technischen Standards aus der Mitte des 19. Jahrhunderts oder noch älter… Aber hier, gefördert durch die lokale Polizeidienststelle, geht es nicht um Effizienssteigerung, hier geht es um etwas anderes. Junge Mädchen und Frauen lernen hier dieses alte Handwerk, bringen so einen Sinn in sonst mitunter trostlose Tage, haben gemeinsam Spaß und verdienen noch dazu ein kleines Geld.
Ganz in der Nähe betreten wir dann ein wahrhaft beeindruckendes über 100 Jahre altes, bestens erhaltenes, da noch immer bewohntes imposantes Haus. Schon das Eingangsportal mit seinen mächtigen hölzernen Säulen und den reich verzierten Balken sucht seines gleichen. Der sich anschließende geräumige Innenhof lässt erahnen, was hier vor nicht langer Zeit für ein Trubel geherrscht haben mag. Die inzwischen über 70 Jahre alte emsige Eigentümerin bestätigt, dass hier vor einer Generation noch bis zu 75 Familienmitglieder und Gäste gleichzeitig lebten. Wir nehmen ihr das ab, wollen uns aber lieber nicht im Detail vorstellen, wie das so ablief.
Geschäftstüchtig wie sie ist, scheint sie unsere Gedanken zu erraten und lädt uns neben dem obligatorischen Tee dazu ein, einen genaueren Blick in alle Räumlichkeiten zu nehmen. Besonders der Koch- und Essbereich sowie die Badezimmer und Toiletten sind wahre Fundgruben für uns Hobby-Historiker. Gern willigen wir ein, mit der Familie das Mittagessen zu teilen und anschließend im großen Schlafsaal ein kräftigendes Nickerchen einzulegen, bevor wir uns wieder auf den Rädern auf in die Berge machen. Beides sind einzigartige Erfahrungen. Als wir vorsichtig nach der Rechnung fragen, erhalten wir eine typisch indische Antwort. Wir sollten das mit uns selbst ausmachen und ihr die rechte Summe da lassen. So halten wir es denn auch – bei diesem Besuch und sicher auch beim nächsten. Denn auf diese Erfahrung sollte keiner meiner Gäste verzichten.
Sonntägliche Kaffee-Fahrt
Was so harmlos, ja verlockend klingt, entpuppt sich ob des Höhenprofiles in den Ghats trotz des kühlen Morgens schnell als eine durchaus schweißtreibende Übung. Der Dank dafür gebührt der vorherigen Pilot-Radelgruppe, die selbst durch diese Gegend chauffiert wurde und darauf bestand, dass künftige Teilnehmer das Terrain ausschließlich vom Fahrrad aus genießen sollten.
Recht haben sie, denn auch wenn wir heute einige Höhenmeter kumulieren, so entschädigen doch die Ausblicke, Geräusche und Gerüche für die Anstrengungen. Wir werden Zeuge einer nur alle 40 Jahre stattfindenden Blüte der gesamten Bambus-Population am Rande unseres Weges. Dies führt zwar zunächst zum Absterben der alten Bestände, in der Konsequenz jedoch zu vieltausendfach neuen Pflanzen. Echt beeindruckend!
Und dann sind wir für den Rest des Vormittages im Kaffee. Vielerorts in den Plantagen setzt gerade die Blüte ein. Neben strahlend weißen Blütenbüscheln entlang der tief grünen Zweige ist es der betörende Duft, der uns fesselt. Stellenweise wechseln sich die Kaffeepflanzungen mit solchen vom Tee ab. Mitunter erleben wir rechts des Weges die eine und auf der gegenüberliegenden Seite die andere Kultur. Einmalig. Und stets begleitet uns frischer Pfeffer, der geradezu jeden verfügbaren geraden Baum als Klettergerüst in Beschlag nimmt. Man muss es gesehen haben, um es zu glauben.
Als ich schon langsam den Glauben an eine Einkehrmöglichkeit aufgeben will, da tut sich hinter einer Kurve inmitten einer Plantage ein kleines Cafe auf, welches die eigenen frisch gerösteten Bohnen in verschiedensten Formen zum Verkauf und Verzehr anbietet. Neben einem belebenden Milchkaffee probieren wir hier erstmals eine uns allen bisher unbekannte Kreation – Kaffee-Gelee. Köstlich und dabei ganz einfach herzustellen. Man muss nur darauf kommen. Alle künftigen Gäste sollten sich schon freuen. Mit diesem Doping im Körper fallen die kommenden Steigungen kaum noch ins Gewicht, glauben Sie es?
Der unbestechliche Polizist
Es gibt ihn wirklich und wir haben ihn getroffen – den unbestechlichen indischen Polizisten. Zumindest einen gibt es im schönen Nilgiri District in Tamil Nadu. Aber der Reihe nach. Wir sind uns alle einig, dass wir von Masinagudi aus im Mudumalai-Tigerreservat einen kurzen Abstecher hinauf in den Tee nahe der alten britischen Bergstation Ooty unternehmen wollen, jedoch nicht auf den Rädern. Dagegen sprechen die 38 hair pin bends (Haarnadelkurven) und ca. 1.500 Höhenmeter, die wir uns als Genußradler nicht antun wollen.
So freuen wir uns, dass unser Fahrer Prakash einwilligt, uns an seinem eigentlich freien Tag im Bus hinauf nach Ooty zu chauffieren. Jedenfalls bis kurz davor und zum Mittag sind wir dann wieder zurück. Soweit der Plan. Zunächst läuft auch alles danach. Prakash bringt uns hinauf in den Tee. Wir unternehmen eine kleine Wanderung, genießen dieses herrliche Gebräu in der hier ausschließlich praktizierten Form des Milchtees, gekocht ohne Wasser, nur mit frischer Bergmilch! Und zurück geht es.
Leider kommen wir nicht weit, denn an einer Schranke bedeutet uns ein stoisch ruhiger Polizeibeamter, dass aufgrund der besonderen Unfallgefahr größere Fahrzeuge als Jeeps oder PKW die Straße bergab nicht passieren dürfen. Bergauf sei kein Problem, aber runter gehe es nur auf der anderen Seite auf der dafür ausgelegten Straße. Prakash ist überzeugt, dass er den Kollegen „knacken“ wird. Alles sei doch nur eine Frage des in Aussicht gestellten Betrages für den Kollegen. Die Verhandlungen dauern an, ja sie dauern lang und länger. Ich werde gerufen, der Betrag wird mehrfach unsittlich nach oben korrigiert. Allein der Vertreter des Gesetzes bewegt sich nicht. Es bleibt unklar, was ihn heute zu diesem Verhalten inspiriert, denn ein Händler in der Nähe bestätigt, dass er sehr wohl mitunter Ausnahmen gestatte. Heute aber geht nichts! Vielleicht sind es wir Ausländer, vielleicht ist gerade ein höherer Dienstgrad auf der Strecke unterwegs. Er bewegt sich keinen Millimeter und zwingt uns, den langen Umweg zu nehmen!
Ich bin , wie die anderen im Bus auch, hin und her gerissen. Einerseits wollen wir schnell wieder in unser Hotel und am Nachmittag noch zu einer Wanderung ins Reservat aufbrechen. Andererseits sind wir beeindruckt vom Verhalten des nicht mehr so jungen Beamten, der heute Ehre für seinen ganzen Berufsstand eingelegt hat. Und so fügen wir uns in unser Schicksal und nehmen den weiten Weg über eine traumhafte Hochgebirgslandschaft zunächst zögerlich, aber zunehmend begeistert unter die (Bus)Räder. Wenn nur die Straßen etwas besser wären. So geht es langsam durch ein spektakuläres Gebiet. Danke dafür, Du standhafter unbekannter tamilischer Polizist!
Holi
Wer sagt denn, dass sie nur im Norden des indischen Subkontinentes den Frühling mit dem exzessiven Werfen von bunten Farben begrüßen? Zwar ist es hier unten im tropischen Kerala auf dem Weg ans Meer nahe der Tempelstadt Guruvayur immer warm und Jahreszeiten sind bis auf den Monsun und die extrem heißen und meist trockenen Monate davor eher unbekannt. Doch das hält besonders die jungen Leute überhaupt nicht davon ab, diesen lustigen Brauch auch hier unten zu praktizieren. Es soll ja inzwischen auch in Europa und Amerika Holi-Parties geben, also dann doch bitte schön auch hier!
Es ist Montag, der 17. März 2014 und wir rollen relativ früh am Morgen unweit der Kleinstadt Kottakal dem Meer entgegen. Wir passieren gerade links am Wegesrand eine Gruppe von Steinmetzen, die Grabsteine anfertigen. Edith ruft mir kurz zu, dass sie ein Foto machen wird. In Sekundenbruchteilen entscheide ich, in die vor mir liegende Linksabbiegung zu fahren, um allen die Fotomöglichkeit einzuräumen.
Welch eine Entscheidung! Sofort sind wir von einer Schar Jungen umringt und schon werden wir, besonders unsere Gesichter, mit buntem Farbpulver eingerieben. Was für ein Spaß! Besonders für die Jungs, aber nach einem kurzen Moment des Erschreckens auch für uns. So setzen wir denn nach dieser lustigen Episode unseren weiteren Weg mit reichlich Blau- und Rottönen im Gesicht fort und werden überall noch verständnisloser als sonst schon begutachtet. Egal, wir haben unseren Spaß und die Farben, das wissen wir seit dem Karneval in Goa, sind wasserlöslich. Also alles kein Problem. Leider haben wir den ganzen Tag vergeblich nach weiteren „gefärbten“ Leidensgenossen gesucht. So ganz hat sich der Brauch im Süden wohl doch noch nicht durchgesetzt?
Offensichtlich ist die böse Dämonin Holika, die sonst mit den Farben und lautem Feuerwerk vertrieben wird, hier keine ernst zunehmende Bedrohung. Schade eigentlich. Aber das wird schon noch, denn wenn die Inder uns eines voraus haben, dann ist es das Übernehmen und Mitfeiern von Feiertagen anderer Religionen, Volksgruppen etc. Darin sind sie wahre Meister und recht haben sie. Schade um jede Feier, die man auslässt und jeden Feiertag, den man nicht begeht. Da haben wir in Deutschland noch gewaltig Spielraum nach oben. Fragen Sie mal ihre moslemischen Nachbarn, oder, oder,oder…