Schicksal? – Oder was halte ich selbst in der Hand

Chidambaram, Tamil Nadu

Es ist die Etappe in die wegen des Nataraja-Tempels berühmte, ansonsten eher unscheinbare tamilische Stadt Chidambaram. Wir sind gut vorangekommen und legen gegen 10:00 Uhr kurz vor der Stadt unter angenehmen, Schatten spendenden Bäumen einer uralten Allee die letzte größere Pause ein, auch um eine weitere mitgeführte leckere Mango zu genießen. Um uns herum erstrecken sich ausgedehnte Melonenfelder. Mittels einer scheinbar schrottreifen, knatternden Dieselpumpe wird ein erst auf den zweiten Blick sichtbares, ausgeklügeltes und höchst effizientes Bewässerungssystem betrieben. Unter der Sonne des südlichen Indien führt dies im Ergebnis zu einer wahren Schwemme zuckersüßer und dabei doch so erfrischender Wassermelonen.

Während wir uns an der Pumpe den klebrigen Mango-Saft von den Händen spülen, hält genau hinter uns ein kleiner Transporter. Ihm entsteigen zwei Männer, wobei der Fahrer sofort freundlich auf uns zukommt und sich als der Besitzer des Feldes vorstellt. Sein Mitarbeiter macht sich sofort daran, die kostbare Fracht von Dutzenden von Melonen unübersehbar am Straßenrand zu platzieren und den Verkaufsstand vorzubereiten.

Da Josey im Erstberuf Landwirt ist und neben seinen Reisfeldern in den Backwaters seit drei Jahren noch eine Gewürzplantage in den Bergen der Western Ghats betreibt, kommen hier zwei von ihrer Profession besessene Farmer zusammen und versinken augenblicklich in einen Fachdialog, der sie alles um sie herum vergessen lässt.

Irgendwann merkt der Melonenanbauer, dass ich immer noch da bin, entschuldigt sich, sucht persönlich für uns ein Prachtexemplar auf seinem Feld heraus und bietet jedem von uns sogleich ein mächtiges Stück an. Nach bereits mehr als 60 geradelten km schmeckt es einfach nur himmlisch!

Nun interessiert er sich in einem hier nicht zu erwartenden guten Englisch sehr ernsthaft für mich und überschüttet mich ohne jede Scheu mit weit mehr als nur den üblichen Fragen. Nachdem alle Alltagsfragen abgearbeitet sind und wir voneinander wissen, dass wir beinahe gleich alt sind, jeder von uns zwei erwachsene Kinder hat, dass wir unsere Töchter erfolgreich verheiratet haben und auch unsere Söhne auf einem guten Wege sind, bleibt Zeit für einen tieferen Gedankenaustausch. Zunächst gesteht er mir, wie froh er ist, dass er im letzten Jahr seine fast 30-jährige Tochter endlich verheiraten konnte. Trotz der damit in Indien verbundenen  exorbitanten Kosten hat es ihn enorm erleichtert und sein Ansehen und seine Stellung im örtlichen Umfeld massiv verbessert. Dieses Thema ist zumindest im ländlichen Indien weiterhin von geradezu existenzieller Bedeutung und nachdem er es gelöst hatte, fand er auch Aufnahme in eine Art Ältestenrat, obwohl es den offiziell gar nicht gibt. Ich gestehe ihm, dass auch ich alles andere als traurig darüber bin, dass meine Tochter – ebenfalls im letzten Jahr – nach langer und sicher spannender Fahrt mit Anfang 30 im Hafen der Ehe vor Anker gegangen ist…

Mit seinem Sohn sei das hingegen so eine Sache. Er studiert derzeit noch in Bangalore und kann sich noch nicht so recht entscheiden, welchen Weg er in Zukunft gehen wird. Klar sei jedoch, dass er den väterlichen Betrieb auf keinen Fall übernehmen wird. Da stelle er sich nach über 30 Jahren in der Verantwortung so manchmal die Frage, wie lange er das noch machen soll und ob es nicht an der Zeit wäre, lange aufgeschobene Wünsche jetzt anzugehen, zumal er noch nie in seinem Leben Tamil Nadu verlassen habe. Die Einladung Joseys, mal über die großen Berge der Ghats hinüber zu ihm in die Backwaters zu kommen, nimmt er gern an, ist sich aber nicht sicher, ob er sich dazu aufraffen kann.  

Umso mehr bewundere er meinen Mut, hier einfach so durch ein fremdes Land zu radeln. Vielleicht, so sinniert er, liege es daran, dass wir Ostdeutschen 1989/1990 gelernt hätten, dass es auch, wenn man Altes und Vertrautes aufgibt, immer irgendwie weiter gehe… Und in unserem Fall war es wohl für die Mehrheit eine Wende zum Besseren. Diese Erfahrung sei einmalig, fehle sie doch den meisten anderen Menschen unserer Generation. Ich habe das noch nie so klar und einfach vernommen. Warum muss einem das ein tamilischer Bauer am Wegesrand sagen?

Letztere Erfahrung habe ich ihm, zumindest für mich, uneingeschränkt bestätigt. Allerdings haben wir seinerzeit gelernt, dass es ausschließlich an uns selbst liegt, die gewonnene Freiheit so zu gestalten, wie wir es uns erträumt hatten. Ich sage ihm auch, dass es gerade diese Erfahrung ist, die mich bewogen hat, mit Anfang 50 einen scheinbar sicheren und gut dotierten Job aufzugeben, meiner inneren Stimme zu folgen, eine kleine Firma zu gründen und zu hoffen, dass das Konzept aufgeht. Wer weiß das schon?

Wenn es denn hoffentlich so kommt, dann werde ich im nächsten Jahr mit interessierten Radlern aus Deutschland im Rahmen der von Josey und mir geführten Tour wieder bei ihm vorbei schauen. Sicher ist das noch lange nicht, aber ich werde alles daran setzen, dass es dazu kommt. Allein der Gedanke daran beflügelt mich.
Ich sage ihm, dass Menschen, sowohl in der Geschichte als auch in meiner persönlichen Erfahrung immer dann aus dem vertrauten Umfeld ausbrechen, wenn der Leidensdruck einfach zu groß geworden ist. Da erwidert er nur lakonisch, dass manche Völker wohl einfach mehr leiden können als andere. Bei allem Grübeln schätze er seine vertraute Umgebung doch sehr. Sie gebe ihm Sicherheit, Verlässlichkeit und die gegenseitige Unterstützung in der dörflichen Gemeinschaft sei die Basis seines Lebens. Auch wenn er sich nicht mehr ändern werde, so sehe doch auch er bei seinen Kindern, dass sie eher wie ich dächten und von anderen Werten geleitet sind. Das sei ja vielleicht auch gut so.

Sein Fazit: „Jeder muss eben sein Leben leben, und wenn er darin mehr glücklich als unglücklich ist, dann ist es sicher richtig so!“ Mir zumindest als einem Mitte-Fünfziger-Altersgenossen mit total anderer persönlicher Lebenserfahrung spricht er aus dem Herzen. Gibt es da etwas Universelles, was ich gerade zu verstehen beginne?
Da treffen sich drei einander bisher völlig unbekannte Menschen und geraten unter einem Schatten spendenden Baum an einer tamilischen Landstraße ins tiefe Philosophieren. Beim Blick auf die Uhr wird mir klar, dass wir locker zwei Stunden miteinander verbracht haben. Was für ein Geschenk! Wir tauschen unsere Visitenkarten und freuen uns auf das  Zusammentreffen im kommenden Jahr.

Da Sie, lieber A.K. Rajendran, uns sicher nicht so schnell besuchen, sei es in Kerala oder außerhalb Indiens, werden wir in 2014 wieder bei Ihnen in Tamil Nadu vorbeischauen.

Versprochen!

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