Wie ich in einer tamilischen BAR meiner DDR-Vergangenheit begegne

Kumbakonam, Tamil Nadu

Dank meines Freundes Josey, der mich nach Radetappen immer wieder mal bedrängt, doch ein oder zwei köstliche Kingfisher-Biere mit ihm zu teilen, verfüge ich inzwischen über eine recht umfängliche Expertise zu Verkauf und Genuss alkoholischer Getränke im ländlichen Südindien, bis hin zu einem bizarren Erlebnis dieser Tage in dem mit einem bedeutenden Tempel voller „Heiliger Kühe“ gesegneten Kaff Kumbakonam. Aber der Reihe nach.

Der Verkauf alkoholischer Getränke ist in ganz Indien eine staatliche Monopol- Veranstaltung, die in den jeweiligen Unionsstaaten und – Territorien höchst unterschiedlich gehandhabt wird. Lediglich in den großen Metropolen wie Mumbai oder Bangalore, den ehemaligen Kolonien Goa und Pondicherry sowie in stark vom Tourismus geprägten Orten wie Kovalam Beach oder Varkala Beach entspricht der Umgang mit dem „Teufelszeug“ dem, wie wir es in Westeuropa gewohnt sind. Je tiefer wir ins ländliche Südindien vordringen, umso dramatischer ändert sich die Situation.

Strikt getrennt vom sonstigen Lebensmittelverkauf sind die einschlägigen Läden äußerlich meist recht unscheinbar, mitunter richtig versteckt und, da selten in englischer Sprache gekennzeichnet, für den westlichen Touristen zunächst fast unauffindbar. Wenn sich jedoch vor einem Büdchen, an dem man locker vorbeigehen würde, ein Haufen heruntergekommener und meist schmutziger Männer verschiedenen Alters um die Plätze in der Schlange streitet, dann ist man nah dran „am Bösen“. Wenn man als sichtbar nicht Dazugehörender gerade noch ein paar Flaschen Bier kaufen wollte; beim Anblick dieser Gesellschaft wird man es lassen oder selbst genauso nötig haben wie diese traurigen Jungs…

Die Alternative zur beschriebenen traurigen Situation heißt BAR. Sie ist oft mit einem Business-Hotel, sprich Ausnüchterungsboxen, verbunden und deutlich sichtbar mit den drei in der Nacht grell beleuchteten Buchstaben gekennzeichnet. Wenn man aus dem intensiven Tageslicht in diese meist stark abgedunkelten Höhlen mit oft herunter gekommener Möblierung eintritt, beschleicht einen sofort das Gefühl, irgendwas Verbotenes zu tun. Da etwas zu spät dafür geboren, habe ich es zwar nicht persönlich erlebt, aber die 1930er Jahre der Prohibition in Amerika müssen sich verdammt ähnlich angefühlt haben. Frauen habe ich bisher hier nur gesehen, wenn unsere Radlerinnen ihr verdientes Bier zischen wollten. Die Typen in diesen BARs sind meist so trist wie ihre Umgebung. Viele Gäste sind schnell sturzbetrunken, da sie sich in einer Art Druckbetankung billigen Brandy oder Whisky mit Wasser verdünnt hinter die Binde jagen.

Nun zu Josey und mir in dieser Metropole der Kuhscheiße namens Kumbakonam. Nach unserer Ankunft halten wir vor einem vielversprechenden Neubau, Sitthi Residency, der auch in den Zimmern sehr angenehm überrascht, weil wir dieses Niveau hier nie erwartet hätten. Wir checken ein und steigen am nächsten Morgen gut erholt auf die Räder. Mal sehen, wie der Tempel in 2-3 Jahren aussieht. Wahrscheinlich hat dann Josey mit seiner Wortschöpfung „shitty (Scheiß) Residency“ Recht, denn in diesem Zeitfenster wirtschaftet man hier  noch jede ordentliche Unterkunft nieder – oder auch nicht! Schaun wir mal.

Auf dem Weg zum Sarangappani-Tempel fallen die selbst für indische Verhältnisse außergewöhnlich vielen Kühe und deren großzügig verteilte Exkremente auf. Wir erfahren den Grund, als wir den Tempel betreten. Die Viecher werden samt ihrer Kälbchen von den Priestern im Tempel aufgenommen, gefüttert und gemolken – full service bis ans Lebensende. Es riecht wie in einem ganz gewöhnlichen Kuhstall. Jeder Pilger darf auch Futter mitbringen oder wird zu einer Spende zum Erwerb des Gleichen ermuntert. Ich lasse mich nicht lumpen, spende die 100 Rupien, die mir ein in der Algebra nicht sonderlich bewanderter Kellner mittags zu viel herausgegeben hatte, und erhalte eine eindrucksvoll gestaltetes Unikat einer Spendenquittung, das in kürzester Zeit sicher ein Vielfaches des Betrages wert sein dürfte, zu dem ich es erworben habe. Fragen Sie mich mal in 2030 danach…

Auf dem Rückweg ist es dann so weit. Josey erblickt die ominösen drei Buchstaben und kann nicht daran vorbei gehen. Er bittet um meinen Beistand, also treten wir ein. Das erhoffte Kingfisher-Bier ist nicht verfügbar, dafür empfiehlt uns der Typ am Tresen „The Empire“, den Stolz der tamilischen Braukunst. Schmeckt richtig süffig und es bleibt nicht bei der einen beabsichtigten Flasche.

Links von uns schläft ein Herr, der seine besten Tage wohl im Kampf gegen das wirkliche Empire und für die Unabhängigkeit Indiens hatte. Ihm gegenüber wacht sein längst erwachsener Enkelsohn darüber, dass der alte Herr beim gelegentlichen Erwachen nicht mit seinen unwirschen Armbewegungen die kläglichen Reste aus der zur Vernichtung bestimmten 0,5 l – Flasche Brandy zweckentfremdet entsorgt.

Plötzlich wird der Alte gewahr, dass in seiner Nähe jemand sitzt, der hier ganz sicher nicht hingehört. Irgendwie vermute ich, dass er wissen möchte, woher ich komme. Als ich „Germany“, also „Deutschland“ sage, verbessert er mich sofort. Das hieße  GDR, also DDR, das müsse ich doch wohl wissen! Als dann zieht er hier, wo alle sonst mit einfachem Hemd und dem üblichen Dhoti als Beinkleid auskommen, aus seinem Sakko aus der linken Innentasche eine feierlich gefaltete uralte Kopie der „GDR Reports“-Sonderausgabe zum 40.Jahrestag der DDR vom Oktober 1989 hervor. Ja, der Herr trägt ein westliches Sakko und ist wahrscheinlich einer der letzten Kampfgefährten Erich Honeckers. Leider kann er zur Aufklärung dieser für mich durchaus spannenden Frage aufgrund seines Zustandes nicht in der Form beitragen, wie ich es mir gewünscht hätte. Er rülpst, dass es jedem Kumpel im Revier sichtbar die Röte ins Gesicht treiben würde, und sei es vom Lachen ob der erlebten Urgewalt.

Ich kann es nicht glauben und bin total irritiert! Damit hätte ich niemals und nirgendwo gerechnet! So wie er sicher zum tausendsten Mal ansetzt, seinem Enkel die Weltrevolution zu erklären, so drängt mich Josey jetzt aufzuklären, was mich gerade so umgehauen hat.

Also…….

In meinem ersten Berufsleben habe ich von Februar 1987 bis Sommer 1990 als Presse-Attaché an der damaligen DDR-Botschaft in Neu Delhi gearbeitet und war als Redakteur ganz entscheidend am Erscheinen der „GDR-Reports“ beteiligt. Hierbei handelte es sich um ein monatlich erschienenes bebildertes Journal, welches als offizielles Organ der DDR-Botschaft die indischen Freunde über die Errungenschaften des Sozialismus in der DDR sowie über die auf die Festigung des Weltfriedens gerichtete konstruktive Außenpolitik des Arbeiter- und Bauernstaates informiert hat.

Wenn ich’s mir denn stark vereinfacht soweit richtig gemerkt haben sollte…

Zumindest meinem jetzt wieder fest schlafenden Gegenüber haben wir ja damit offensichtlich unauslöschliche Eindrücke vermittelt. Meine damaligen Chefs wären sicher stolz. Manchmal erfährt man eben erst nach einem Vierteljahrhundert die einem zustehende Wertschätzung. Irgendwie bin ich gerührt!

Leider verweigert mir die Bulldogge am Tresen, ein Foto von uns alten Helden zu schießen. Auch ist das Jubiläums-Exemplar der GDR-Reports wieder für mich unerreichbar in der Tasche des nun schwer schnarchenden letzten Verteidigers der DDR in Indien verschwunden. Sei’s drum, diesen Kneipenbesuch werde ich bis an meinen letzten Tag nicht mehr vergessen!

PS. Im fast 50 Jahre lang kommunistisch regierten Bruder-Unionsstaat Kerala gibt es für die Vertreter der körperlich schwer auf den Feldern, auf Kähnen, Trucks und auf dem Bau arbeitenden Klasse noch ein weiteres leicht alkoholisches Getränk aus vergorenem Palmsaft, TODDY genannt. Es wird meist in rechten Bretterbuden serviert und schmeckt sehr gewöhnungsbedürftig, ist aber ein Muss für jeden unserer Teilnehmer – wenigsten
s einmal im Leben. Wenn man denn schon mal in „Gottes eigenem Land“ (Tourismuseigenwerbung Keralas) unter „des Teufels eigenen Menschen“ (Selbstironische Ergänzung der Einheimischen) Urlaub gemacht hat…Aber das ist vielleicht Stoff für eine weitere Geschichte in der Zukunft?

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