Preis der Freiheit – wie viel Arbeit, wie viel Absicherung brauchen wir?

Wann immer ich mal einige Tage zusammenhängend bei Lisa und Josey bin, spätestens am zweiten Tag zwickt es mich und ich muss rauf auf’s Rad. So geschehen auch am Pfingstsamstag 2013. Ich machte mich kurz nach 6 Uhr auf den Weg, um die Frische des Morgens zu genießen. Inzwischen habe ich hier in den Backwaters, die man an einigen Stellen durchaus mit dem Spreewald zu Hause in Brandenburg vergleichen kann, die verschiedensten Strecken parat von 5km auf engen, eigentlich raduntauglichen Wegen mitten durch die „gute Stube“ der Einheimischen bis zu 160 km Runden, um sich mal richtig leer zu fahren.

Am Samstag wurden es dann 120 km. Ich habe wieder vieles wahrgenommen und im Anschluss mit meinen Freunden hier angeregt debattiert. Ehe ich dazu komme, für die, die Strecke vielleicht irgendwann mal nachfahren wollen, kurz deren Verlauf von Alleppey aus. Man sollte die Tour aber nur früh morgens – und am besten nur mit mir 😉  fahren.  Warum? Weil die ersten 40 km entlang vom  gut ausgebauten State Highway nach Chaganacherry und dann über den National Highway, der diesen Namen mit Sicherheit nicht verdient, auf einer engen, holperigen, leicht welligen Straße nach Kottayam führen. Auch sind die Passagen durch diese beiden später sehr belebten Städte nur morgens wirklich empfehlenswert. Danach wird die Strecke  umso schöner. Es geht auf winkeligen Nebenstraßen nach Kumarakom in die dortigen Backwaters und das berühmte gleichnamige Vogelschutzgebiet. Hier kommt für die, die es kennen, das schon beschriebene Spreewald-Feeling auf. Weiter geht es nach Norden und dann an der ersten asphaltierten Abbiegung nach Westen Richtung Chertala. Wenig später überquert man auf einem Mix aus Brücke-Damm-Brücke den größten See Keralas, den Lake Vembanad. Nach weiteren 6 km sind wir im Städtchen Chertala, was eigentlich nicht der Erwähnung wert wäre, wenn es dort nicht genau gegenüber des nicht zu verfehlenden Busbahnhofes eine indische Institution gäbe, der ich bei jeder Durchfahrt meine Referenz in Form einer kurzen Einkehr erweise – das Indian Coffee House.

Ich muss mich an dieser Stelle outen als Verehrer und Genießer dieses göttlichen Getränkes, das doch fast überall, wo es angeboten wird, nicht mit dem entsprechenden Respekt behandelt wird, und schon gar nicht in Indien. Was ja in dieser Beziehung nicht so ganz weit weg von vielen deutlich teureren Anbietern in der kalten deutschen Heimat ist. Wer mal eine Kaffeezeremonie im äthiopischen Hochland erlebt hat, wird wissen, was ich meine. Umso größer mein Lob für die Filialen des genossenschaftlich geführten Indian Coffee House. Es rührt noch aus der Zeit des Coffee Board des British Empire her und wäre in den Jahren nach der Unabhängigkeit beinahe von der Bildfläche verschwunden, als der Board nach und nach seine Filialen schließen wollte. Engagierte Mitarbeiter, die schlicht um ihre Existenz kämpften, gründeten in den 1950er Jahren die Indian Coffee Board Workers Co-operative Society. Deren Ziel war die Förderung des Kaffeeverkaufs und damit die Sicherung Tausender Existenzen. Seit dem gibt es über ganz Indien verteilt weiterhin diese ein ganz besonderes Flair vermittelnden Filialen mit dem typischen Milchkaffee und indischen Snacks zu kleinen Preisen. Alle Mitarbeiter sind Mitglieder und Miteigentümer der Genossenschaft, auch die in gestärkter weißer Kleidung inklusive einer Bauchbinde und eines an einen Maharaja erinnernden Kopfschmuckes stolz daher schreitenden Kellner.

Den je nach Charge mal leicht säuerlichen, mal pfeffrigen, aber nie langweiligen Geschmack des Strong Kerala Coffee auf der Zunge, geht es wieder auf’s Rad und weiter dem Fischerdorf Athungal am Indischen Ozean entgegen. Hier sollte man sich Zeit lassen. Der Ort wurde beim Tsunami Weihnachten 2004 stark in Mitleidenschaft gezogen. Viele haben ihr Haus verloren, beinahe jede Familie hatte Opfer zu beklagen. Selbst an ruhigen Tagen wie heute spürt man die gewaltige Kraft des Meeres. Meterhohe Brecher zerbersten immerfort am hier recht steil abfallenden weißen Strand. Das Dorf ist wieder neu aufgebaut wie auch die schöne Kirche direkt an der Straße. Hier biegen wir erneut links ab und rollen mit Rückenwind, rechts das Meer und links die Backwaters, zurück nach Alleppey.

Auf diesem schönen Streckenteil sind an jenem Samstagmorgen Arbeiter dabei, am Straßenrand zwischen zwei Dörfern auf 5-6 km Länge einen Kabelschacht nur mit Picke und Schaufel auszuheben. Da Jedem ein Abschnitt von 8-10 Metern zugewiesen ist, werden es so 500 – 600 schwer schuftende, schmalbrüstige Inder sein, die sich hier in einem gut bezahlten Tagesjob verdingen. Bis zum Abend, erfahre ich, sollen die entsprechenden Rohre verlegt und zumindest die Hauszufahrten wieder befahrbar sein. Technik kommt überhaupt keine zum Einsatz, aber die Männer erhalten jeder 1.500 Rupien (gut 20 EUR), was hier ein extrem gutes Geld ist und sie entsprechend „rein hauen“ lässt.

Diese Beobachtung steht im kompletten Gegensatz zum sonstigen Bild, welches sich während meiner mehr als sechsstündigen Runde zunehmend verfestigt. Das nämlich von im Schatten sitzenden, Tee trinkenden und endlos palavernden Männern jeden Alters. Allein an diesem Morgen treffe ich Ihrer sicher mehrere Tausend und frage mich, ob die wirklich nichts anderes zu tun haben? Können die sich das leisten und was machen die sonst eigentlich außer dem, was ich hier gerade sehe? Ich nehme diese Fragen mit zurück, bin ich doch eingeladen, an einer kleinen Familienzusammenkunft anlässlich eines Geburtstages in Joseys Nachbarschaft teilzunehmen. Da erhalte ich sicher kompetente Antworten von den anwesenden männlichen Teilnehmern. Die Frauen äußern sich leider nur zur Familie, den Kindern, dem Essen, nicht aber zu solch politischen Fragestellungen. Schade.

Als ich ankomme, sind Josey und Lisa mit einer Nachbarin in ein offensichtlich ernstes Gespräch vertieft. Anschließend erfahre ich den Grund. Die Tochter der Nachbarin ist schwer erkrankt und  ihre sehr kostspielige Behandlung hat bereits alle Mittel der Familie aufgebraucht. Nun wendet sie sich an Josey als eine der geachtetsten Personen im Dorf mit der Bitte, einen Fonds für die Behandlung ihrer Tochter einzurichten zu helfen, in den alle Dorfbewohner einen Betrag entsprechend ihren Möglichkeiten einzahlen sollen. Denn eine Krankenversicherungspflicht, wie bei uns, gibt es in Indien nicht und eine Versicherung, die die Kosten übernehmen würde, haben hier in den Dörfern meist nur Angestellte staatlicher Behörden. Das seien weniger als 10%. Die große Mehrheit, so auch Josey samt seiner Familie, spart sich die Beträge für die Krankenversicherungen und zahlt die Behandlungen beim Arzt im – hoffentlich nicht eintretenden Bedarfsfall – aus eigener Tasche.

Letztere Frage macht mich noch nachdenklicher als die erste nach den Einkünften, die mich schon während des Radelns beschäftigt hat. Da bewege ich mich durch das vermeintliche Paradies und dann muss ich feststellen, dass sich die existenziellen Fragen des Lebens natürlich auch hier stellen. Logisch, aber da alles so schön aussieht, habe ich sie mir und anderen lange nicht gestellt. Was sich heute Abend ändern soll.

Zunächst erhalte ich von einem der anwesenden Ärzte eine kleine Einführung in das indische Gesundheitswesen, welches – grob dargestellt – in einen staatlichen und einen privaten Bereich unterteilt sei. Die Versorgung im staatlichen Bereich ist für alle kostenfrei und wird von der großen Mehrheit der Bevölkerung genutzt, vor allem von der Gruppe „below the powerty line“, der Armutsgrenze also, die hier mit 15.000 Rupien (ca. 200 EUR) pro Kopf/Jahr definiert ist. Das Personal, egal ob Ärzte, Schwestern oder Pfleger sei fachlich exzellent, jedoch sei die Ausstattung aufgrund fehlender finanzieller Mittel mangelhaft und die hygienischen Standards unbedingt verbesserungswürdig. Es gebe so ein geflügeltes Wort hier zu den staatlichen Krankenhäusern: „Du gehst mit einem Problem hinein und kommst mit 4-5 nach Hause“, was die Situation sehr treffend beschreibe.

Jeder, der es sich irgendwie leisten kann, sucht immer eine der privaten Einrichtungen auf. Diese haben gerade hier in Kerala einen ausgezeichneten Ruf, hervorragend ausgebildetes Personal und sie versorgen in vielen Bereichen auf höchstem internationalen Niveau. Dies erklärt auch den zunehmenden Anteil ausländischer Patienten, die ausschließlich wegen der Behandlung nicht nur in ayurvedischen Kliniken hierher kommen. Viele westliche Gäste nutzen heute ihren Urlaubsaufenthalt z.B. für die Sanierung ihres Gebisses. Das alles hat natürlich seinen Preis, der allerdings aufgrund steigender Einkommen für immer mehr Inder auch bezahlbar ist.

Nun muss ich aber endlich die Frage nach den Krankenkassen stellen. Die, so wird mir beschieden, sei nicht mit der in Deutschland vergleichbar. Es stimme zwar, dass staatlich Bedienstete und auch die Mitarbeiter von immer mehr großen Unternehmen über ihren Arbeitgeber versichert werden. Der Knackpunkt sei aber die Obergrenze der jeweiligen Versicherungen, die für die Inanspruchnahme vieler moderner kostspieliger OP’s, Heilverfahren und Medikamente oft nicht ausreiche. So müssen sich viele Arme mit einer Basisversorgung bescheiden oder aber man ist in der Lage, die notwendigen Zuzahlungen aufzubringen. Ähnlich verhalte es sich auch mit dem Abschluss einer privaten Krankenversicherung. Man kann hier entsprechend seinen finanziellen Möglichkeiten verschiedene Versicherungsumfänge, unabhängig vom Leistungspaket und einzig ausgedrückt in einer in Rupien dargestellten Obergrenze, abschließen. Wird es teurer, wird trotzdem eine Zuzahlung fällig. Dies führt dann dazu, dass die Mehrheit der Inder hofft, möglichst wenig Leistungen in Anspruch nehmen zu müssen und es vorzieht, diese aus der eigenen Tasche zu begleichen. Das geht meist gut, aber bei weitem nicht immer, und dann kommt es zu den oben beschriebenen Situationen. Die Solidarität der kleinen dörflichen Gemeinschaft funktioniert zwar noch immer erstaunlich gut, aber wirklich teure Behandlungen, die mit dem Fortschritt der Wissenschaft auch in der Behandlung zunehmen, kann sie nicht stemmen – ein Horror für die Betroffenen. Sie versuchen ihn derzeit noch mehrheitlich zu verdrängen. Sicher nicht die Lösung für alle Zeiten.

Das schreibe ich nun als einer, der seit Jahren mit dem System der Pflichtversicherungen in Deutschland hadert. Seit Jahrzehnten lebe ich gesund, habe bei meiner privaten Kasse noch nie einen Beleg eingereicht, sondern zahle die wenigen anfallenden Kosten aus meiner Tasche, um meinen Rabatt-Status nicht zu gefährden. Meine Kasse hat sich noch nie bei mir bedankt, sie schickt mir nur regelmäßig die Einheitsbriefe mit den angeblich notwendigen Preiserhöhungen zu. Aber auch ich werde älter und habe nun, wo ich es als Selbständiger könnte, doch meine Zahlungen fortgesetzt. Da ich hoffe, auch künftig gesund durch die Lande zu radeln und keine Leistungen in Anspruch zu nehmen, tröste ich mich halt mit dem Wissen, dass es mir im unwahrscheinlichen Falle besser geht als so manchem Inder. Auch wenn der Rebell in mir fast überkocht, ein bisschen deutsches Sicherheitsdenken leiste ich mir dann doch.

Unverändert, ja verstärkt noch, bleibt mein Wunsch, dass all jene, die bewusst oder unbewusst  ungesund leben, viel stärken an den Kosten für ihre eigene Dummheit beteiligt, und nicht ewig durch die Vernünftigen mitgenommen werden.

Kommen wir also zur zweiten Frage, die ich von meiner Tour mitgebracht habe. Wovon leben eigentlich die vielen Teetrinker, die offensichtlich nicht arbeiten müssen oder wollen, ja wovon leben die überhaupt?

Auch hierzu habe ich in einer Runde vornehmlich älterer Herren für mich Erstaunliches vernommen. Einer von Ihnen fragt mich, was mich denn motiviert, zu arbeiten? Im Westen, klärt er mich auf, haben wir uns doch mit dieser Frage nicht wirklich auseinander gesetzt. Wir wachsen hinein in eine Arbeitswelt, die uns zum Glück eher mehr als weniger Wohlstand garantiert. So weit, so wunderbar. Ehe wir uns versehen, sind wir im Hamsterrad, wollen ein Motorrad, ein erstes Auto. Wenn wir eine Familie gegründet haben, muss die Behausung entsprechend hergerichtet, müssen Urlaube finanziert werden. Immer geht es so weiter, bis wir eines Tages zusammenbrechen und von diesem schönen Planeten verschwinden.

Vielleicht liegt es an den klimatischen und den sich daraus für das Überleben seit alters her sehr günstigen ernährungstechnischen Bedingungen, die die Menschen hier mit einem anderen Wertesystem ausgestattet haben, gibt ein anderer zu bedenken. Früchte gab und gibt es mehr, als gegessen werden können. Die Flüsse und das Meer sind voll mit Fischen. Es ist immer angenehm warm. Wenn man müde ist, legt man sich in den Schatten eines Baumes und schläft. Braucht der Mensch denn mehr? Nach diesem erfolgreichen Muster leben seit Millionen Jahren viele unserer nahen Verwandten sehr erfolgreich auf dieser Erde. Zumindest konnten sie so überleben, ergänze ich mit einem Augenzwinkern.

„Genau“, bestätigt der Erste, „mehr braucht keiner wirklich. Ihr Christen seit vor 500 Jahren hier herüber gekommen und habt uns Euren Glauben und Eure Vorstellungen zu allen wichtigen Fragen mitgebracht. Wir mussten Lesen, Rechnen und anderes lernen, vor allem einen geregelten Tagesablauf einzuhalten, zu arbeiten und Fleisch zu essen.“ Gelächter… und alle klatschen sich auf die Schenkel. Und weiter er: „Überleben reicht ja nicht, man muss, wie Ihr, was Sinnvolles machen, Werte schaffen. Viele von uns sind heute wie Ihr. Sie können gar nicht genug arbeiten. Ohne Auto geht nichts mehr, ein Haus ohne Klimaanlage – Frag mal die Jungen ???. Wir fressen viel zu viel, werden fett und können nachts nicht schlafen, weil wir schon wieder an die Aufgaben von morgen denken. Überlebt haben wir seit Generationen anders. Ob wir das auch künftig schaffen, da haben gerade wir Alten so unsere Zweifel. Aber so war es wohl immer und so wird es wohl bleiben…“

Das sei natürlich alles etwas überspitzt. Zum Glück haben sich alle Einheimischen zumindest einen Teil jener inneren Ruhe ihrer Vorfahren beibehalten und das zeige sich dann auch in dem von mir gut beobachteten Verhalten, das übrigens nicht nur die Männer auszeichne, sondern auch die Frauen bei ihrer geselligen Form der Hausarbeit. Neben der bleibe genügend Zeit für Muße, nur sei das halt nicht so offensichtlich, weil nicht in der Öffentlichkeit praktiziert. Ein Grinsen bei einigen sagt mir, dass ich letzteres wohl mit der angebrachten Vorsicht genießen muss.

Am Samstagmorgen treffen sich die Männer noch öfter als sonst zum Tee, derzeit sind Schulferien und viele in den Golfstaaten Arbeitende machen Heimaturlaub, was die üblichen Runden noch enorm erweitert.

Und endlich erhalte ich die Erklärung, auf die ich so langsam auch selbst komme. Früher habe man nur so lange gearbeitet, noch davor gejagt und gesammelt, bis man genug zum Essen hatte. Nach der Mahlzeit hat man geruht, aber sicher nicht ausschließlich, und danach ging der Kreislauf wieder von vorn los, grob gesagt. Ähnlich sei es auch heute bei vielen – zumindest hier in Kerala. Sie haben keinen festen Job. Wenn sie Geld brauchen, nehmen sie relativ gut bezahlte Tätigkeiten wie bei der Be- und Entladungen von Booten und Trucks oder die von mir beobachteten Erdarbeiten an. Davon könnten sie mit ihren Familien 2-3 Tage leben, danach müssten sie eben wieder einen Tag arbeiten.

Alle Keraliten seien halt lieber mit ihrer Familie oder mit Freunden zusammen, als sich den Buckel krumm zu machen und zu arbeiten. Was ist denn daran unnatürlich? Oder anders, was ist denn an täglicher Arbeit normal, wenn man sie nicht tun muss, um satt zu sein und möglichst viel Zeit im Kreise seiner Lieben und Freunde zu verbringen?

Die Antwort finde ein jeder für sich selbst!

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