Durch den Tee zu den Giganten des Waldes

Um von Joseys Plantage in die nahe tamilische Ebene zu kommen, kann man einen abenteuerlichen Pfad zu Fuß durch den Wald wählen, was wir, geführt von einem Angehörigen der hier lebenden Stämme, sicher in absehbarer Zeit in Angriff nehmen werden. Für den Radler  bleiben nur zwei andere, nicht minder beeindruckende Möglichkeiten. Sie sind deutlich länger und bieten eine Unmenge nur uns vorbehaltenen  Eindrücken, die uns als aktiv Radelnde wieder einmal über die daran vorbeirauschenden Komfort-Touristen stellen. Entweder ist es die südliche Route über Kumily ins Cumbum-Tal oder die von hier aus nördliche über die alte britische Bergstation Munnar und danach über Marayoor hinunter nach Pollachi.

Wir wählen letztere und damit einen überwältigend schönen und wegen des permanenten Auf und Ab auch sehr anstrengenden Weg durch Plantagen, kleine Dörfer mit immer wieder zum Fotostopp zwingenden Ausblicken auf die urwüchsige Pracht und Kraft der Ghats, die sich unmittelbar hinter der Zivilisation auftut. Der Wald blüht immer. Derzeit sind es besonders die von den Franzosen Flamboyant genannten leuchtend orange bis rot erstrahlenden Bäume, die markante Farbtupfer in die sonst überwiegenden Grünnuancen des Waldes setzen. Daneben fällt jetzt ein anderer, kräftig gelb blühender Baum auf. Vor Wochen haben hier vor allem Blau und Lila-Töne das Grün ergänzt. Daran denkend, wie sehr ich mich in Deutschland über jede Blüte meines heimischen Hibiskus freue, kriege ich mich ob der nun meist leuchtend rot blühenden meterhohen Hibiskus-Hecken kaum ein. Sie dienen praktischer wie schmückender Weise als Grundstücksbegrenzungen. Fast ganzjährig blühen auch die riesigen Stauden von Trompetenblumen von weiß über gelb bis in verschiedene Rottöne. In ihren Gärten zeigen uns die Einheimischen gern auch noch Unmengen weiterer Schätze, viele davon endemisch, also nur hier beheimatet.
Kurz vor Pooppara wechselt dann erneut die Szenerie. Wir sind wieder einmal „im Tee“. Das hält jetzt für eine gefühlte Ewigkeit an. Man kann sich gar nicht genug an diesem Grün satt sehen. Wir machen kleine Abstecher in die Pflanzungen und bekommen eine Ahnung von der Schwere der Arbeit einer Teepflückerin. Sie ist täglich mindestens acht Stunden am Pflücken, schafft es dabei, bis zu 50 kg frische Blätter zu zupfen und erzielt einen Lohn von ein wenig mehr als 3 EUR. In den Gruppen der bunt gekleideten, dabei mit relativ unbequemen robusten Schürzen gegen die Sträucher ausgerüsteten Frauen reißt der Gesprächsfaden nie ab, wird höchstens mal durch fröhliches Gelächter unterbrochen. Und das bei dieser Plackerei, in oft extremen Steillagen. Ich habe das Bild stets vor Augen, wenn ich eines der täglich 5 oder meist mehr Gläser meines Lieblingsgebräus zu mir nehme.

Der Stausee bei Chindakkanad ist jetzt im Mai fast leer. Was für ein dramatischer Kontrast zum Grün rund um ihn herum. Die Täler ziehen sich in riesigen Bögen entlang der steil aufragenden Felsformationen. Darin eingebettet entdeckt der aufmerksame Beobachter immer mehr helle Farbkleckse. Es sind neue Hotelgebäude, Zeichen für den zunehmenden, vor allem innerindischen Tourismus in dieser Region. Auf dem weiteren Wege ist es manchmal möglich, auf einem Tea Estate der dominierenden Firma Tata in einem wunderschönen Managerbungalow aus den 1940er Jahren in den Luxus jener Zeit einzutauchen. Kommt uns heute gar nicht mehr so luxuriös vor, wenn da nicht die Lage wäre, die einen einfach sprachlos macht. Wahrer Luxus definiert sich halt nicht über die extravaganteste Ausstattung und allerlei modernistischer Spielereien. Da können die in Dubai oder den anderen in ihrer Authentizität inzwischen ruinierten Siedlungen in den Golf-Staaten doch bauen, was sie wollen.

Munnar selbst macht wie auch die anderen ehemaligen Sommerfrischen des Empire in Shimla, Darjeeling oder Ooty auf den westlichen Ankömmling heute zuvorderst den Eindruck typisch quirliger indischer Kleinstädte. Sie scheinen aus allen Nähten zu platzen, die gesamte Infrastruktur schreit nach Modernisierung, die zu Kloaken mutierten kleinen Flüsschen erwecken Mitleid, wie auch das verrostete Schild „Clean Munnar – Green Munnar“. Die Natur tut ihr Bestes, die Sünden der Menschen nach Kräften zu überdecken. Wer sich die Zeit nimmt, wird auf den zweiten Blick im Detail viele angenehme Überraschungen erleben.  Da gibt es viel Eigeninitiative, um sich ein kleines Stück vom Tourismuskuchen zu sichern, angefangen von sehr sympathischen Homestays, leckeren Speiseangeboten, manch selbstgefertigten Handarbeiten bis hin zu windigen Autoriksha-Fahrern, die zu den Sehenswürdigkeiten der Umgebung knattern. Brauchen wir aber nicht, da wir das viel besser auf dem Fahrrad erledigen. Gern in Anspruch nehme ich immer wieder die Ortskenntnis einheimischer junger Männer, mit denen man herrliche Wanderungen in der Umgebung machen kann. Da ist jede Rupie bestens angelegt. Überhaupt ist es die Umgebung, die mich immer wieder beeindruckt, wie auch wegen des Platzmangels im Tal die „Dreieinigkeit“ von christlicher Kirche, hinduistischem Tempel und Moschee, die hier auf engstem Raum ein zutiefst friedliches Miteinander zelebrieren. Leider auch für Indien nicht überall der Normalzustand.

Auf dem weiteren Weg nach Marayoor klettern wir ins Massiv, das vom 2.695m hohen Anamudi, dem höchsten Berg Indiens südlich des Himalaya gekrönt wird, zunächst zu einem einmaligen Wildreservat, dem Eravikulam Nationalpark für die hiesige vom Aussterben bedrohte endemische Bergziegenart. Sie ist offensichtlich wohlschmeckend, nicht allzu schnell und daher leichte Beute für Tiger, Bären und andere hier vorkommende Räuber gewesen, ehe ihre schwindende Zahl ihr nun den Schutz durch den Menschen eingebracht hat. Der belästigt sie dafür, in seltsamen Fahrzeugen sitzend, beim Äsen. Wir sind bisher noch nie in eines dieser vornehmlich von laut johlenden Nordindern genutzten Gefährte gestiegen und genießen vor dem folgenden kurzen Aufstieg zum als Wetter- und Wasserscheide agierenden Pass einen schmackhaften Massala Chai. Von dort oben werden wir dann auf der folgenden 25 km langen Abfahrt nach Marayoor mit Ausblicken belohnt, die eine Zierde für jeden Reisekatalog sein könnten. Der Tee will einfach nicht aufhören.

Erst kurz vor der Stadt ändert sich die Szenerie erneut und wir tauchen in den hiesigen (Sandelholz-)Wald ein. Es ist ein wenig wie Zoo bizarr, denn wir auf unserer Straße sind hier von beiden Seiten eingezäunt, wohin gegen unsere in freier Wildnis lebenden Gefährten aus dem sie schützenden Wald genau bis zum Zaun kommen können, um uns und den lauten Verkehr zu bestaunen. Bison, Gaur, Hirsche, Wildschweine, Affen und vieles mehr hat mich hier schon zum Anhalten veranlasst. Spätestens jetzt wird man gewahr, dass es hier deutlich trockener ist, wir im Regenschatten der Western Ghats angekommen sind. Auf einem imposanten kahlen Felsen kann man hier die Überreste von Eremitenbehausungen aufsuchen. Interessanter ist für viele jedoch zu sehen, wie direkt am Rande der Zuckerrohrfelder auf archaische Art der Zuckerrohrsaft in riesigen Kesseln über Holzfeuer zu Melasse (Jaggery) eingekocht wird. Unglaublich, wie intensiv die Süße dieser braunen Klumpen ist, die eine der Hauptzutaten für viele der betörenden indischen Leckereien und Nachspeisen sind. Warum wird hier eigentlich (noch) kein Rum gebrannt?

Am Ortsausgang beginnt der nun offene Wald des Chinnar Nationalparks, der weiter unten hinter der Grenze nach Tamil Nadu in das Annamalai Wildreservat übergeht. Auf einer sanft abfallenden Strecke durchqueren wir auf 25 km Länge auf einem schmalen Asphaltband das Habitat der größten frei lebenden Elefantenpopulation auf dem Subkontinent. Im oberen zu Kerala gehörenden Teil verbringen wir in einfachen Bungalows der Nationalparkverwaltung eine Nacht, werden von den Rangern bei Wildbeobachtungen zu Fuß und von Beobachtungstürmen begleitet – ein einmaliges Erlebnis. Die Geräuschkulisse allein beeindruckt schon. Ständig knac
kt und raschelt es, immer wieder sind die lauten werbenden Rufe der Pfauenhähne zu hören und in der Dämmerung nimmt das Konzert der Grillen eine Lautstärke an, die man bis eben nicht für möglich gehalten hätte.

Der Ranger weist uns auf frische Kotballen der Elefanten hin. Die Bäume und Sträucher sind im unteren Bereich bis etwa 2,5 Meter arg mitgenommen. Wenn so ein Dickhäuter sich daran reibt oder mit seinem Rüssel an den Ästen zerrt, geht schon mal einiges zu Bruch und hinterlässt unübersehbare Spuren. Eigentlich reicht das völlig, man möchte jetzt so ungeschützt gar keines dieser mächtigen Tiere in seiner Nähe wissen. Just in dieser Woche kam es wieder einmal zu einem der seltenen Unfälle, als ein einzelner Bulle eine Frau beim Sammeln von Brennholz überraschte und sie dies mit dem Leben bezahlt hat. Viel wahrscheinlicher sind Beobachtungen wunderschöner Vögel, verschiedener Affenspezies, von Bisons, Gauren, Rehen, Hirschen, Wildschweinen, vielleicht auch Schildkröten. Aber aus sicherer Entfernung kann man von den Türmen durchaus damit rechnen, die großen Graubraunen unten am Fluss bei der Tränke oder beim Bad zu erleben. Ihr oft frische Kot auf der Straße und ihre nicht zu entfernten Rufe begleiten uns fast immer. Die hier auch lebenden Tiger sind wohl zu scheu, zu intelligent oder beides, als dass wir sie zu Gesicht bekommen sollten.

In jedem Fall erhalten wir einen Eindruck vom nicht unkomplizierten Zusammenleben der schnell wachsenden Landbevölkerung und den Bedürfnissen der wilden Tiere. Die Frauen aus den umliegenden Dörfern gehen oft sehr tief in den Wald, um Holz zu sammeln mit den bereits dargestellten Risiken. Und da die Felder und die Dörfer selbst die ausgewiesenen Reservate immer massiver einschnüren, kommt es bei den nächtlichen Streifzügen der Elefanten schon mal dazu, dass ein angrenzendes Feld mit Mais oder Zuckerrohr trotz Schutzmaßnahmen in Mitleidenschaft gerät. Laut Aussage der Nationalparkverwaltung wachse aber das Verständnis der Einheimischen für die Tiere. Gerade der innerindische Tourismus sei stark im Kommen und davon profitieren auch die Menschen in den Dörfern. Sie werden zu Wildhütern ausgebildet, finden Arbeit in Hotels und Restaurants und vermitteln historische Handwerke, wie z.B. Lakshmi, die direkt am Schlagbaum an der Straße zwischen den beiden Unionsstaaten Kerala und Tamil Nadu in einem großen Mörser Dhal (Linsen) für eine Suppe wie zu „Großmutters Zeiten“ zubereitet und bereits eine regionale Berühmtheit und ein beliebtes Fotomodell geworden ist.

In unserer Zentral-Kerala-Tour fahren wir den hier beschriebenen Abschnitt in genau entgegengesetzter Richtung, was nicht minder eindrucksvoll ist. Auf der Mumbai-Goa-Kerala-Tour durchfahren wir südlich von Mysore die ehemaligen Jagdgründe des Maharajas in den heutigen Reservaten von Bandhipur und Mudumalai. Ganz bewusst außen vor lassen wir das vielleicht bekannteste Wildreservat in Kerala, das Project Tiger Reservat von Periyar, am Stausee gleichen Namens. Dies ist das am besten vermarktete und mit Hotels erschlossene Reservat rund um den Ort Kumily. Entsprechend ist es auch von Gästen, besonders aus anderen Teilen Indiens, frequentiert. Die Wildbeobachtungen erfolgen meist vom Boot aus. Leider sind dies oft recht lärmbelastete Veranstaltungen, die den Namen nicht verdienen. Auf jeden Fall sind sie sehr einträglich für die Veranstalter. Die Tiere können ihre Meinung zu dieser Invasion leider nicht kundtun, wir sehr wohl!
Unweit vom Periyar Reservat gibt es ein ebenfalls sehr engagiertes Projekt, den Naturfreund mit den Schätzen des Regenwaldes vertraut zu machen, welches wir bei einer unserer Touren exklusiv mit dem Rad besuchen. Es ist das Gebiet um den kleinen Gavi-Stausee. Aber mehr dazu in einer weiteren Geschichte.

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