Kerala Ende Mai – Der Monsun ist da!

Es ist Samstagmorgen, der 25.Mai. In der fernen Heimat sind sie schon ganz verrückt wegen des großen Endspieles (Fußball Champions Leage Bayern München – Borussia Dortmund) am Abend in London. Ich habe ungezählte Einladungen zu Parties und Public Viewings abgesagt und werde das Spektakel wegen der Zeitverschiebung ganz entspannt verschlafen…

Wie immer trete ich kurz nach 6 Uhr vor die Tür, um mich auf’s Rad zu meiner morgendlichen Ausfahrt zu schwingen. Nanu, es ist ja total nass. Ich hatte offensichtlich wieder einen Schlaf, den sich jeder Bär nur für den Winter wünschen kann. Es sind zwar Wolken am Himmel, aber es ist von oben trocken und in einigen Minuten ist sicher die Sonne wie immer im Osten präsent und wird für einen weiteren heißen Tag sorgen – denke ich und mache mich fertig. Kurz danach bin ich unterwegs in Richtung Alleppey Beach, um mir das morgendliche Treiben der Fitness-Freaks anzuschauen und einen ersten Tee zu genießen.

Während ich so dahin radele gehen die Gedanken zurück. Was war das für eine Woche! Endlich habe ich Joseys Gewürzplantage gesehen. Ich habe, wie gewünscht meine geschätzten (?)Kommentare zu seinen Plänen für den Bau von Cottages und die Anlage eines Weges zu den entfernteren Lagen angebracht. Er will partout diesen Weg, damit er per Jeep den Dung seiner Kühe zu den Pflanzen bringen kann, vor allem aber, um die Pflückerinnen schnell zu den Pflanzen zu bringen. Anderenfalls würden 20 Frauen täglich jeweils eine Stunde nur fürs Wandern bezahlt und das geht ja nun mal gar nicht. Meinen Einwand, dass er als Pionier des „organic farming“ hier halt Abstriche machen müsste und statt des Jeeps oder Traktors lieber 2-3 Esel als Lastentiere einstellen sollte, wie ich das aus ähnlich unwegsamen Regionen im Himalaya kenne, lässt er unbeantwortet. Noch. Aber er denkt darüber nach, besonders über den Zusatz, dass die ja keinen Diesel brauchen, sich ihr Futter hier draußen selbst suchen können und noch dazu mehr organischen Dung produzieren. Das kann man doch locker gegen die 20 Pflückerinnen – Stunden rechnen und dann wendet sich das Blatt, oder? Seine 4 derzeit anwesenden nordindischen Arbeiter haben wirklich geschuftet und die Steine für die künftigen Terrassen-Felder perfekt aufgeschichtet. Das wirkliche Ergebnis wird man erst in 50 -60 Jahren sehen können, wenn die Natur das Angebot veredelt hat. Jetzt baut er mit ihnen einen soliden Kuhstall und ich stehe wenigstens nicht im Wege. Dafür komme ich in der inspirierenden Umgebung schön mit meinen Texten voran und dokumentiere das Geschehen für die Familie und die Nachwelt auch fotografisch.

Mit einem Mal spüre ich erste Regentropfen. Ich bin mal gerade 3 km gefahren und an Umkehren ist nicht zu denken. Der Blick nach oben verheißt wenig Gutes. Da bewegt sich ein dunkler Koloss in meine Richtung und augenblicklich öffnen sich alle Schleusen. Alle Fußgänger, Rad- und Motorradfahrer stoppen und verweilen am nächsten Ort, der Schutz vor den sintflutartigen Regengüssen verspricht. Auch fällt mir auf, dass heute Morgen jeder, außer mir, zumindest einen Schirm, viele auch einen perfekten Ganzkörper-Regenschutz dabei haben. Inzwischen bin ich bis auf die Haut durch geweicht. Die dicken Tropfen machen es fast unmöglich, die Augen offen zu halten. Ist schon irre, dieser warme Regen. Langsam macht es Spaß und zwei kleine Jungen haben sich mir mit ihren verrosteten Drahteseln angeschlossen. Sie geben alles, um mich abzuhängen. Ich lasse ihnen den Spaß und sie strahlen heller als jede Tropensonne. Gibt es was, das über diese glücklichen Kinderaugen geht?

So schnell wie er kam, lässt der Schauer nun nach. Da mein Rad aber keine Schutzbleche hat und die Straßen mit schmutzig braunen kleinen Seen und Bächen bedeckt sind, werde ich nun von unten geduscht. Leider mit einer sehr unappetitlichen Brühe. Für meine nun wieder zahlreich vorhandenen Geschlechtsgenossen an den Teeständen bin ich das Thema dieses Morgens. Das haben sie hier nicht so oft, dass ein Weißer einfach so durch den Regen radelt und offensichtlich noch Spaß dran hat. Wie geht das denn? Scheinen zumindest Ihre Blicke zu sagen, denn das Reden verstummt, als ich mich zu ihnen stelle und nun meinen Tee ordere. Am Meer ist heute „tote Hose“ und die Teetrinker bedeuten mir, dass sich heute noch so einiges vom Himmel ergießen wird. Also beherzige ich ihre Worte und mache ich mich, nun wieder die wärmende Sonne im Gesicht, eher als beabsichtigt, wieder auf den Rückweg.

Lisa erwartet mich ihrerseits schon mit meinem inzwischen kalten Pott Kaffee. Ich nehme ihn gern, so wie er jetzt ist. Drinnen tagt der Familienrat und Joseys Vater ist sich sicher, dass das jetzt der erste Tag des diesjährigen Monsuns ist. Im Vergleich zu sonst ist er richtig redselig, denn als Landwirt hat er in der Hitzeperiode der letzten beiden Monate regelrecht mit seinen Pflanzen und Tieren gelitten. Nun aber ist alles gut, die Zeichen sind günstig und die nächsten Ernten sollten prächtig ausfallen. Josey und ein Nachbar sind noch skeptisch. Der alte Herr aber zeigt nur zum sich erneut verdunkelnden Himmel und bekräftigt seine Zuversicht.

Frisch geduscht und die Wäsche bereits auf der Leine setze ich mich an den Frühstückstisch, als es erst draußen und kurz danach im ganzen Haus wieder finster wird. Keiner kommentiert den erneuten Stromausfall, zu oft passiert das in diesen Tagen. Noch sind die Stauseen fast leer und die kleinen Wasserkraftwerke nur bedingt leistungsfähig. So wird man noch einige Zeit mit der Situation leben müssen. Morgens um 9 Uhr ist das trotzdem irgendwie gespenstisch. Ich mache mich ans Schreiben, denn zum Glück hat mein Laptop einen gut geladenen Akku, und meistens ist der Saft nach 30 bis 60 Minuten wieder da.

Soweit die Theorie. Gegen 11 Uhr ist es noch wesentlich düsterer als vor zwei Stunden, der Strom fehlt weiterhin und mein Akku gibt gerade den Geist auf. Ich setze mich zu den anderen in die Küche. Es gibt gerade den nächsten frischen Tee. „Abwarten und Tee trinken!“ Dieser tausend Mal gehörte Satz erfüllt sich plötzlich mit Leben, ist mit einem klaren Bild versehen. Wahrscheinlich waren es wieder einmal die Briten, die diesen Ausspruch geprägt haben, als sie in der Regenzeit in ihrer Kronkolonie bei ihrem Lieblingsgetränk (zumindest tagsüber) saßen, und so wie wir heute nichts weiter tun konnten, als eben abzuwarten und Tee zu trinken. Könnte gut so gewesen sein, denke ich mir so.

Nach dem Mittagessen hellt sich der Himmel etwas auf und für Minuten stoppt sogar der Regen. Wir gehen alle hinaus, die Kinder hüpfen wie losgelassen durch die kleinen Seen, die sich überall auf den Rasenflächen und sonst rund um das Haus gebildet haben. Die kleinen Kanäle zwischen den Häusern sind längst über ihre Ufer getreten. Sie bringen ein hellbraunes Gemisch, in dessen Hauptbestandteil Regenwasser sich abgetragene fruchtbare Erde, Laub, kleine Äste und jede Menge Müll gemischt haben. Alles, was nicht beim täglichen kleinen Feuerchen bereits verbrannt und stinkend in die Atmosphäre entsorgt wurde, wird nun in die großen Kanäle gespült. Deren Pegel ist in den letzten Stunden um 20 – 30 cm gestiegen, entsprechend hat sich auch die Fließgeschwindigkeit, respektive Reinigungskraft per Mitnahme spürbar erhöht. Alles strebt jetzt samt Fracht dem Meer entgegen. Da gibt es kein Aufhalten. Das ist so seit der Zeit, als an uns Menschen hier noch überhaupt nicht zu denken war. Das gehört zum ewigen Kreislauf der Natur. Das jährliche große Reinemachen hat begonnen.

Aber es ist seit einigen Jahren anders, als es das früher war. Wir stehen mit Josey am Gartentor und schauen auf den breiten Kanal direkt vor uns. Deutlich sichtbar in der braunen Brühe heben sich neben dem Grün verschiedener Pflanzen bunte Punkte ab. Plasteflaschen, deren Verschlüsse, achtlos weggeworfene Tüten jeder Größe und Farbe und so geht es weiter. Und das ist nur das, was an der Oberfläche sichtbar wird, unter Wasser setzt sich das fort. Schli
eßlich wird es der Ozean, der größte Mülleimer unseres Planeten aufnehmen. Verdauen kann er es schon lange nicht mehr. Ich mache schnell einige Fotos, denn die nächste Regenfront zwingt uns wieder ins Haus.

Wieder beim obligatorischen Tee sitzend wirkt mein Freund Josey angespannt. Als ich ihn darauf anspreche, druckst er zunächst etwas herum. Dann aber sprudelt es nur so aus ihm heraus. Seit Tagen sähe ich überall nur Negatives, die Leute hier seien in meinen Augen Umweltzerstörer, an allem hätte ich etwas auszusetzen, in Deutschland sei ja eh alles besser und sofort. Er sagt nicht, dass ich dahin zurück gehen soll. Ich schweige und sehe sicher auch nicht gerade glücklich aus. Nach einer gefühlten kleinen Ewigkeit grinsen wir uns an.

Er erinnert mich an eine Parole, die wir vor einigen Tagen an der Wand eines öffentlichen Gebäudes entdeckt hatten – „Tranforming Indians to transform India!“ Genau das ist der Weg. Es sind die Menschen, die sich ändern müssen, damit sich im Land, in jedem Haus, jeder Gemeinde und letztlich in dieser Welt etwas zum Richtigen hin ändert. Das wiederum gilt für einen Jeden von uns, egal wo er sich gerade aufhält. Und da gibt es überall – nicht nur in Indien – mehr als genug zu tun.

Solch ein nun schon seit Stunden anhaltender Stromausfall, wenn er denn irgendwann auch ein Ende findet, hat durchaus eine Menge positives. Sarah, Joseys jüngste Tochter, ist der Verzweiflung nahe, da der TV-Empfänger heute schweigt und auch sie gezwungen ist, sich anderweitig zu beschäftigen. Ihre Großeltern, sonst auch Serien-Junkies, haben damit kein Problem. Sie erzählen von früher, wo man die meiste Zeit in der dörflichen Gemeinschaft verbrachte. Die Frauen trafen sich zur gemeinsamen Handarbeit. Es wurde viel geredet, gelacht, gesungen. Die jungen Männer liebten schon damals Cricket und Badminton. Auch bereiteten sie sich ganzjährig auf die Wettkämpfe in den traditionellen Kanus vor. Das Radio wurde meist nur für Nachrichtensendungen eingeschaltet, da die Programme einfach zu schlecht waren. Schau einer an, klingt doch fast wie die Schilderungen meiner eigenen Oma, nur dass bei der damaligen Generation der Deutschen erst die „Goebbels-Schnauze“ und später der Empfänger mit dem RIAS ständig im Raum waren – mit allen sich daraus ergebenden Folgen.

Da der Strom nicht zurückkommt, landen wir noch einmal bei der Verantwortung des Einzelnen für Veränderungen. Die Alten werden wir sicher nicht mehr ändern. Aber sie sind es auch kaum, die Schaden anrichten. Geschenkt, dass in den von ihnen entzündeten täglichen kleinen Feuerchen zur Entsorgung des zusammen gefegten Unrates auch die eine oder andere Plastetüte ist. Erst, wenn wir keine mehr von unseren Einkäufen mitbringen, müssen sie auch nicht mehr entsorgt werden. Es fängt immer wieder bei uns selbst an. Das ist es, was wir mit den Mädchen besprechen, denn sie sind es, die neben und nach uns die Verantwortung haben, heute schon und auch in Zukunft alles für den Erhalt ihrer wunderschönen Heimat zu tun.

Und irgendwann, es dämmert schon, kommt auch der Strom wieder und der Regen lässt nach. Ich stelle mir amüsiert vor, was bei einer vergleichbaren Situation in einem westlichen Land wohl abgegangen wäre, wie viele Millionen Beschwerden die Versorger innerhalb eines solchen Weltuntergangs -Tages wohl zu bearbeiten hätten? Hier kam keiner auch nur auf die Idee, irgendwo anzurufen. Ist das schlecht?

Auch das Fußballspiel in London ist ohne uns zu Ende gegangen. Und ja, wir haben es wie geplant verschlafen und sind – ja, gibt es denn das? – gut erholt und bestens gelaunt in einen wieder sonnigen Sonntag gestartet. Ist das etwa schlecht?

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