Kerala Kompakt mit Co-Pilotin Melanie

Anfang des Jahres wurde ich auf verschiedenen Radreisemessen angesprochen, eine Art Radel-Modul für Individualreisende  in Südindien anzubieten, welches diese einfach in ihre Reiseplanungen integrieren können. Gesagt, getan – Mitte November an einem Sonntag sollte die erste Tour in Cochin starten.

Die angemeldeten Franzosen entschliessen sich kurzfristig für eine kürzere Variante, weshalb sie erst am Dienstag starten und von Josey begleitet werden.

Ich mache mich mit der einzigen verbliebenen Deutschen, Melanie, als Duett ohne Begleitfahrzeug auf in die Berge der Western Ghats. Wir treffen uns wie vereinbart bei unserer lieben Freundin Usha in ihrem Homestay „Casa Mia“ und starten sogleich zu einer ersten entspannten Gewöhnungsrunde teilweise unter dem Meeresspiegel südlich von Cochin, verschlafene Fischerdörfer am Meer und auch die Backwaters streifend. Obwohl es Sonntagnachmittag ist, erhalten wir auf dem Rückweg nach Fort Cochin einen Vorgeschmack auf den hiesigen Straßenverkehr. Aber nicht Melanie ist davon beeindruckt, sondern Josey von der souveränen Art, wie sie die Situation meistert, als wäre sie nie woanders, als hier Fahrrad gefahren. Offensichtlich hat ihr der gerade absolvierte Yoga-Kurs soviel innere Ruhe vermittelt, dass sie sofort eine von uns ist.

Als Vegetarierin bittet sie uns, am Abend gemeinsam mit Alex, einem anderen Teilnehmer des Yoga-Kurses, um ein authentisches lokales Essen. Wir verlassen das touristische Herz von Fort Cochin und finden nur einen Kilometer entfernt eine gänzlich andere hinduistisch geprägte Gegend vor, in die sich kaum mal sonst ein Tourist verirrt. Beide tun sich sichtbar schwer, das von unserer Gastgeberin empfohlene Straßenlokal zu betreten. Zu fremd scheinen beiden sowohl die offene, recht verrußte Küche als auch die für westliche Masstäbe nicht gerade einladende Möblierung sowohl auf der Straße als auch im hinteren Bereich dieses stark frequentierten und ebenso herunter gekommenen Lokals. Über all der vermeintlichen Tristesse prangt eine kunterbunte Leuchtreklame mit einer Vielzahl vegetarischer Verlockungen. Der Inhaber und ein Koch, beide in ihrer abgewetzten und stark verschmutzten Kleidung um die Wette schwitzend, laden uns strahlend zum ersten Chai, dem typischen Milchtee, ein. Unsere Gäste sind noch immer skeptisch, als dann der Tee in Gläsern serviert wird, die sicher nicht den heimatlichen Hygiene-Standards entsprechen. Auch das vor ihren Augen zelebrierte Ausbacken der Klassiker Massala Dosa, Paper Dosa und Parotha auf einer unglaublich speckigen schwarzen runden Backfläche begleiten sie mit alles andere denn Euphorie im Blick.

Aber sie trauen sich. Die umwerfend frischen Begleiter Sambar und die gut bis höllisch scharfen Kokos Chutneys verbinden sich mit den heißen  Fladen zu einem Genuss,  der beide nun endlich entspannt zugreifen lässt. Das Strahlen ihrer Gesichter wird nur übertroffen vom Glanz in den Augen des emsigen Chefs. Wie wir es in unserem Logo versprechen, haben beide mit uns an diesem Abend Indien erstmals sehr individuell und authentisch erfahren.

Weiter geht es am Montag morgen bei Usha mit dem idealtypischen Frühstück für Radler, Puttu, einem in einem Rohr gedämpften Teig aus Reismehl und frisch geriebener Kokosnuss. Dazu wählt man als herzhafte Variante Kichererbsen-Curry oder als süße gedünstete Bananen. Vor den Toren der Stadt schwingen wir uns auf die Räder und beginnen mit dem radelnden Erfahren unseres Gastlandes. Zunächst besuchen wir das Vogelschutzgebiet Thattekad am Periyar-Fluss und dort den etwas in die Jahre gekommenen Homestay von Ms. Sudha. Diese kleine Frau (58) ist eine Institution, vor der die indischen Behörden in Form ihrer männlichen Repräsentanten stramm stehen. Sie empfängt ausschließlich westliche Gäste und umsorgt uns beinahe schon aufdringlich fürsorglich in ihrem privaten Speisezimmer. Ich werde sicher noch oft zu ihr zurück kehren, da sie auch über die robuste Gesundheit ihrer 92-jährigen Mutter zu verfügen scheint und mit ihrer Energie sicher noch Generationen von Besuchern beeindrucken wird. Ganz nebenbei lernen wir heute auch einiges über den Anbau von Kautschuk, Kakao, Kaffee und Pfeffer. Für die Namen gebenden Vögel müßte man sich etwas mehr Zeit nehmen, da sie im üppigen Grün des Regenwaldes erst entdeckt werden wollen.

Wir aber wollen weiter. Am Dienstagmorgen ruft nach einem einstündigen Einrollen und einem kräftigenden Tee an der Brücke über den Periyar-Fluss der schweißtreibende Aufstieg nach Munnar,  der legendären Hill Station aus den Tagen des Empire, heute Zentrum des Teeanbaus in Südindien. Ich bin gespannt auf Melanie. Als Kind des Nordens und unweit der hollaendischen „Bergwelt“ beheimatet,  sollte sie beste Voraussetzungen für die Kraxeleien der kommenden Tage mitbringen. Tatsächlich überzeugt sie erneut durch einen ruhigen und gleichmässigen Tritt hinauf bis zum ersten Wasserfall, der jetzt kurz nach dem Monsun wirklich spektakulär in die Tiefe rauscht. Leider begleitet uns von hier an ein immer stärker werdender ekliger Regen. Wir beschließen, im nächsten größeren Ort ein Zimmer zu suchen. Das Ergebnis ist besser, als von mir befürchtet. Wir werden schnell wieder warm. Unsere Laune bessert sich entsprechend, auch wegen der freundlichen Leute, die uns behilflich sind beim Erwerb von Mull und Pflaster, welches Melanie zur Behandlung einer Wunde aus dem Yoga-Resort braucht. Beweist es sich also mal wieder, daß Radfahren gesünder und ungefährlicher als anderer Sport ist – in Indien sowieso  :-))).

Am Mittwoch gilt es. Von Munnar trennen uns 30 harte Kilometer und ca. 900 Höhenmeter. Zunächst stärken wir uns im Hotelrestaurant mit einem Chai, der eigentlich das ab 7:00 Uhr versprochene Frühstück sein sollte. Als sich kurz vor 8:00 Uhr noch immer nicht abzeichnet, ob und falls ja, wann es denn feste Nahrung geben soll,  legen wir den kleinen Gang ein. Im ersten Dorf entdecken wir neben einer Bushaltestelle eine unscheinbare Hütte und davor ein klappriges Tischchen mit zwei Hockern. Dort genießen wir in der sich gerade über den Berg schiebenden Morgensonne ein uriges Frühstück, sind die Attraktion des Tages für die wartenden Schulkinder und Tuk-Tuk-Fahrer und nehmen bestens gelaunt den weiteren Weg nach Oben in Angriff.

Dort kommen wir trotz einer unglaublichen Rumpelpiste auf den letzten 8 km deutlich vor dem Mittag an, finden schnell ein akzeptables Hotel und reihen uns alsdann in den Touristenstrom ein. Dieser ist hier wesentlich bunter als die ihrem Motto „Green Munnar, clean Munnar!“ spottende Stadt. Der Reiz der meisten Bergorte Indiens liegt eh in ihrer Umgebung. So feilschen wir denn – des Spaßes halber –  mit den Tuk-Tuk-Fahrern gnadenlos um jede Rupie und machen uns auf eine der spektakulären Touren, in unserem Fall nach Top Station an der Grenze zu Tamil Nadu. Neben vielen grandiosen Aussichten auf dem Weg durch die Teeplantagen sind es die eingebauten „Attraktionen“, die die rasant wachsende Zahl indischer Besucher in Ekstase versetzen. Ich denke etwas wehmütig daran, wie ruhig und idyllisch es hier noch vor drei Jahren war und wohl nie wieder sein wird.

Da es abends in der Höhe doch empfindlich frisch wird, beschließen wir im Hotel zu bleiben. Welch ein Glücksgriff! Zunächst sind wir allein im nicht sehr einladenden Restaurant und Köche und Kellner wirken überfordert mit dem, wofür sie wahrscheinlich nicht viel Geld bekommen. Dann aber ergreift eine Großfamilie aus Gujarat (indischer Unionsstaat) Besitz von Raum und müdem Personal und heizt so richtig ein. Schnell werden wir einbezogen in ihr lautes und von ständigem  Lachen geprägtes herzliches Miteinander der Generationen. Auch beeindrucken die Damen der Sippe durch eine Körperfülle, die ich so selten in Natura gesehen habe. Und all das als Vegetarier und ohne jeden Alkohol – ich bin platt! Wir dürfen erst gehen, als wir uns zu gefühlten hundert Erinnerungsfotos in wechselnden Konstellationen aufgestellt haben. Als sie uns am Folgetag mit ihrem Kleinbus kurz vor dem Mittag und nach fast erklommenen 1.000 Höhenmetern einholen, gibt es erneut ein heftiges Gejohle. Erst jetzt scheinen sie uns zu glauben, dass wir tatsächlich mit dem Fahrrad durch diese gigantische Bergwelt kurbeln. Verstehen werden sie es nie!

Womit wir schon beim Donnerstag wären. Der hält einen denkwürdigen Tagesabschnitt bereit, eine echte Königsetappe. Für den Radfahrer wie für den Fotografen, was die Tagesdurchschnittsgeschwindigkeit deutlich in den einstelligen Bereich drückt. Gut, dass wir unsere Wahrnehmungen heute digital festhalten, sonst hätte Melanie in vergangenen analogen Tagen wohl eine weitere Radtasche für die Filme und die Ausrüstung schleppen müssen…( oder ich für sie?)

Los geht es am Morgen mit einer giftigen 3 km-Steigung durch immer wechselnde, die Sinne betörende Aussichten durch den Tee in Richtung Devikulam, wo auch wieder ein kräftigendes Frühstück in der Morgensonne wartet. Auf dem weiteren Weg zum Lockart Gap, dem mit 1.720 m höchsten Punkt der gesamten Tour, muss man einfach immer wieder innehalten. Zu gigantisch sind die Bilder, die wir verarbeiten müssen. Da braucht es einfach Zeit. Und die nehmen wir uns. Lange begleitet uns das unbeschreibliche Grün des Tees. Später wird es abgelöst von neuen, nicht minder die Seele berührenden Tönen dieser Farbe des Lebens. Nur kommen sie nun vom Kardamom, vom Kaffee und vom Pfeffer als den wichtigsten Nutzpflanzen. Daneben, dazwischen und darüber prägt eine nicht zu beschreibende Vielfalt von Blumen, Farnen, oft blühenden Sträuchern und Bäumen und der in ihnen lebenden Vögel, Affen und Insekten das Bild. Da wir nicht im geschlossenen Fahrzeug reisen, geniessen wir das Privileg, alle Geräusche des tropischen Waldes ungefiltert aufnehmen zu koennen. Welch eine Erfahrung!

Aufgrund der körperlichen und emotionalen Belastung lassen wir den ursprünglich geplanten Abstecher zu Joseys hier entstehender Gewürzplantage weg und rollen direkt in die nächste Kleinstadt. Dabei lernen wir, dass in dieser Region, da wir nun von Nord nach Süd fahren und alle Flüsse aus den Bergen nach Westen dem Meer zustreben,  jede Abfahrt an einer Brücke endet. Zuverlässig folgt darauf die kommende Steigung mit ziemlich exakt der Spiegelung der soeben genossenen Abfahrt. Und das gilt auch und besonders für den Ort unserer nächsten Herberge. Der ist unspektakulär bis langweilig. Dafür erholen wir uns bestens auf den harten Betten des vermeintlich besten Hauses am Ort.

Am Freitag heisst es dann also erst einmal wieder klettern, um dann möglichst direkt den Zielort Kumily am Rande des Periyar Wildlife Reservates zu erreichen. Kurz vor der Stadt besuchen wir einen von Joseys Onkeln, der uns nach einem belebenden Strong Kerala Coffee mit sichtlichem Stolz durch seine Gewürzplantage führt. Ein immer wieder lehrreiches und genussvolles Erlebnis.

Dann ist es endlich geschafft. Wir stehen vor dem Green View Homestay von Mr. Suresh und freuen uns auf den kommenden Ruhetag und die zwei Nächte im tropischen Garten mit viel direktem Kontakt zu den hier lebenden gefiederten und vierbeinigen Genossen. Kontakt zu Malabarlanguren, Pavianen, Streifenhörnchen, Papageien, Kolibris und weiteren Spezies auf dem eigenen Balkon ist garantiert.

Mehr als das Naturerlebnis ist es aber die ganz persönliche Herzlichkeit von Suresh und seiner Frau, die uns beeindruckt. So teilen sie ganz selbstverständlich ihr köstliches keralisches Frühstück, als sie merken, dass die sonst auf westliche Touristen wartenden Toastscheiben nicht unsere erste Wahl sind. Auch werden wir in die Herstellung von Puttu, einschliesslich der (anstrengenden) Gewinnung der dafür notwendigen Kokosraspeln eingewiesen.

Am Freitag unternehmen wir am Nachmittag einen gemeinsamen Erkundungs-spaziergang, dem ich am Abend einen weiteren allein folgen lasse. Beide brennen sich mir ein, konfrontieren sie mich doch mit bisher so nicht von mir wahrgenommenen Seiten der hiesigen Lebens.

Zunächst fühlt sich der Spaziergang mit Melanie an wie eine Wanderung über ein Trümmerfeld. Bei meinem letzten Besuch vor zwei Wochen war bereits die zum Übergang nach Tamil Nadu führende Hauptstraße komplett aufgerissen, um neue Leitungen und Abwassersysteme unter und neben der Straße zu verlegen. Nunmehr sieht man an fast allen Gebäuden zu beiden Seiten der offensichtlich zu verbreiternden Straße fehlende Fassaden und einen offenen Blick in die Häuser. Ganz brachial werden hier zu weit auf die neu geplante Straßenbreite ragende Teile einfach mit dem Presslufthammer „auf Maß“ gebracht. So ähnlich, wahrscheinlich aber noch viel schlimmer, kann es nach den Bombardierungen im 2. Weltkrieg auch in europäischen Städten ausgesehen haben. Einfach grausig!

Offensichtlich hat man hier den Händlern, Hotel- und Restaurantbetreibern keine Wahl gelassen und sie fügen sich in ihr Schicksal, wohl hoffend, dass alles so schnell wie möglich ausgestanden ist und sie im kommenden Jahr umso bessere Geschäfte in der dann neuen breiten Einkaufsstraße machen werden. Deutsche und europäische Besucher sollten sich für die nächsten Monate jedoch auf das beschriebene Szenario einstellen oder ihre geplante Reise besser auf die zweite Jahreshälfte 2014 verschieben.

Am Abend vollzieht sich dann auf dem, was wieder eine Strasse werden soll, eine der hier nicht unüblichen Kraftmeiereien der Kommunisten. Sie haben für den Samstag zum Generalstreik in ganz Kerala aufgerufen. Vordergründig geht es um höhere Löhne für die unteren Einkommensschichten, was in Anbetracht der Preissteigerungen gerade für Lebensmittel im letzten Jahr sicher Sinn macht. Tatsächlich aber geht es ihnen nach fast drei Jahren in der Opposition darum zu zeigen, wie mächtig sie noch immer sind und über welch eine treue und zahlenmäßig große Anhängerschaft sie weiterhin verfügen. Denn politisch befinden sie sich eindeutig in der Defensive, da das vom Congress (I) geführte Regierungsbündnis mit seinem Fokus auf den schnellen Ausbau der lokalen Infra-Struktur durchaus populär ist.

Da stehe ich also mit Dutzenden Indern am Straßenrand und sehe den Fackelzug der krakelenden Kommunisten an uns vorbei ziehen. Einigen Einpeitschern vornweg folgen mehrere Hundertschaften von Getreuen, die die vorgegebenen Losungen monoton nachbrüllen. Es wird nicht recht deutlich, wie die Inder neben mir zu diesem Hokuspokus stehen, euphorisch sehen sie jedenfalls nicht aus. Mich aber erinnert das Geschehen fatal an die dunkelste Zeit in unserer eigenen Geschichte, auch wenn ich die Fackelmärsche der SA nur aus filmischen Dokumentationen jener Zeit kenne.

Am Samstagmorgen radeln wir entspannt  die 4 km ins Project Tiger Wildlife Reservat nach Thekkady. Melanie besteigt dort mit Hunderten indischer Touristen eines der bereitstehenden Boote zur Wildbeobachtung, wohl wissend, dass sie kaum eine der hier lebenden wilden Spezies zu Gesicht bekommen wird. Umso mehr freut sie sich auf den unvermeidlichen Kontakt zu den Einheimischen aus allen Teilen des Landes. Ich selbst lerne in den zwei Stunden einiges über Flora und Fauna des Reservates im sehr konzentrierten Info-Zentrum direkt vor dem Bootsableger. Für die in Scharen eintreffenden Jungen sind unsere Räder viel interessanter als die mögliche Sichtung von Elefanten und anderem Getier. Wir haben viel Spaß miteinander, sie dürfen mal eine Proberunde drehen und sind unendlich stolz und dankbar. Tut auch mir gut, mit so kleinen Gesten Freude zu bereiten. Dann kommt auch noch Melanie strahlend zurück. Neben einigen neuen Bekanntschaften – wieder mit Gujaratis –  hat sie doch tatsächlich einen Elefantenbullen, Hirsche und seltene Vögel gesichtet!

Nach einem so unerwartet erfolgreichen, wie entspannten Vormittag genießen wir danach den Luxus unserer in die Wildnis ragenden Balkone, ignorieren die wegen des Streikes gespenstisch leere Stadt und sind am Abend fit für die eigens für Touristen auf die erträgliche Länge von gut einer Stunde komprimierten Darbietung des klassischen keralischen Kathakkali-Tanzes. Für uns war es ein Erlebnis, viele der anwesenden Inder jedoch konnten ihre wichtigen Debatten wegen des bisschen Kultur doch nicht einstellen und störten durch ihre unverschämte Lautstärke doch erheblich. Zumindest haben viele der anwesenden westlichen Gäste das wohl so empfunden, nicht jedoch die auftretenden wie zuschauenden Inder, warum auch immer?

Der Sonntag Morgen empfängt uns mit einem dichten Dunstschleier, so dass wir gern der Einladung unserer Gastgeber in die Küche folgen und der Herstellung des Puttu und des begleitenden Curry beiwohnen. Beides schmeckt unglaublich lecker und vom starken einheimischen Kaffee können wir gar nicht genug bekommen. Dann geht es wieder auf die Fahrräder und nach einer letzten ordentlichen Steigung endlich wieder hinunter Richtung Backwaters – glauben wir zumindest.

Bis zur Mittagspause läuft alles nach Plan. Unser Essen nehmen wir in einem Lokal ein, das als solches erst auf den zweiten Blick zu erkennen ist, da es derzeit eine Baustelle ist und nur durch ein Labyrinth aus Bambus-Stützen erreicht werden kann. Durch die obligatorischen Thali Tellergerichte gut gestärkt nehmen wir erwartungsfroh die 20 km lange Abfahrt in Angriff, müssen jedoch schon nach wenigen Minuten bei einem Obstverkäufer unter seinem großen Sonnenschirm Zuflucht suchen, da uns ein tropischer Gewitterregen überrascht. Der ist aber schnell vorbei und wir setzen unsere Abfahrt fort. An einem Durchbruch, wo die Strasse vom linken an den rechten Bergrand wechselt und sich für gewöhnlich eine unbeschreibliche Aussicht in das vor uns liegende Tal auftut, schlägt uns eine dichte weiße Wolkenwand entgegen. Die Sicht ist fast null, dafür wird es erschreckend kühl und der Regen wird wieder stärker.

Egal, wir wollen ans Tagesziel, und das noch, solange es hell ist. Also starten wir vorsichtig in die nicht ungefährliche Waschküche. Völlig durchnässt und auch schon etwas unterkühlt stoppen wir nach einigen weiteren Kilometern und suchen unter dem ausladenden Dach eines heute geschlossenen Shops Schutz vor dem inzwischen monsunartig heftigen Regen. An ein Weiterfahren ist nicht zu denken!

Wir besprechen unsere Situation und mögliche Optionen, um keine unnötigen Risiken einzugehen. Ich schildere Josey am Telefon unsere Lage und bitte ihn um Hilfe. Jetzt schlägt die Stunde meines Familien-Netzwerkers. Nach 5 Minuten ruft er zurück und teilt mir mit, dass er mit seinem Cousin in der nächstgelegenen Stadt und einem Freund aus unserem heutigen Zielort gesprochen hat. Diese chartern gerade – es ist Sonntagnachmittag gegen 16:00 Uhr – einen Jeep und werden in etwa einer halben Stunde bei uns sein und uns in die gebuchte Herberge für die Nacht bringen.

Genauso ist es dann abgelaufen. Wann immer ich mal Zweifel hatte, ob diese aus meiner Sicht übertriebene Pflege familiärer Kontakte sinnvoll und tatsächlich so belastbar sei, wie von Josey immer behauptet – heute wird der Beweis dafür erbracht! Wir sind beide happy und haben neben der Panoramafahrt im Jeep auch noch einen sehr sympathischen und eloquenten Gesprächspartner in Joseys Freund kennengelernt.

Unser heutiges Domizil, der alte (ehemals britische) Club am Rande der Stadt Kanjirappally war zwischen den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts das gesellschaftliche Zentrum und ist auch heute ein wichtiger Treffpunkt der nicht ganz Unwichtigen von Stadt und Region. Allerdings ist er nicht nur optisch arg in die Tage gekommen. Seit dem Abzug der Briten und der Übernahme durch die lokale Elite 1947 ist hier kaum etwas verändert worden. Aber der Service, der nur uns beiden zuteil wird, ist von umwerfender Freundlichkeit und die zum Dinner vor unseren Augen zubereitete Dosa mal wieder ein Gedicht. So akzeptieren wir gern die Einladung, auch das Frühstück am kommenden Morgen hier einzunehmen, welches wir für 7:30 Uhr vereinbaren.

In der Nacht war ich mehrfach wach ob der lauten Gespräche in der benachbarten Küche, in der wohl auch unser Service Personal schläft, oder eben nicht. Jedenfalls hören wir gegen halb acht – wir sind reisefertig – den Handywecker unserer Freunde. Irgendwann gibt es Tee und kurz vor 9:00 Uhr steht von irgendwo her auch am Vortag gekochtes kaltes, aber doch wenigstens leckeres Frühstück auf dem Tisch. Der Deutsche in uns hat alle seine Selbstbeherrschung aufgebracht, um während dieser Ewigkeit nicht zu explodieren. Unser indischer Kellner strahlt uns freundlich an und verschwendet keinen Gedanken daran, sich eventuell zu entschuldigen…

So kommen wir deutlich später als geplant los und werden neben einer schon beachtlichen Morgentemperatur von erneut gespenstisch leeren Strassen und geschlossenen Geschäften überrascht. Am Vorabend wurde die Verlängerung des Generalstreiks um einen weiteren Tag ausgerufen. Das hat für uns den Vorteil fast vollständig verwaister Strassen, also sehr angenehmen Radelns. Andererseits sind alle Teeläden konsequent geschlossen. Eine derart umfassende Befolgung eines Streikaufrufes habe ich in all den Jahren noch nicht erlebt. Zumindest treiben wir Wasser und später noch für jeden eine leckere frische Kokosnuss auf. So erreichen wir denn von der Hitze des Tages ziemlich gezeichnet, aber vor allem glücklich den Zielort unseres 9-taegigen Abenteuers –  das Haus von Lisa und Josey.

Sofort erfahren wir ihre ganze Aufmerksamkeit und zuerst ein leckeres Mittagessen. Auf Melanie warten noch einige spannende, vor allem aber entspannende Tage in den durch den jungen Reis wieder herrlich grünen Backwaters. Wie während unserer Tour wird sie, auch dank ihrer Offenheit für und Neugier auf Indien, sicher  weiterhin dieses Land und seine einmaligen Menschen nah und authentisch kennen lernen.

Eine Herzenssache muss jetzt unbedingt noch folgen: Ein grosses  Dankeschön an Dich, liebe Melanie für Deine positive Art auf dem Rad und am Rande der Strecke. Danke auch für unseren – unvermeidlich –  intensiven Gedankenaustausch und dass Du es lächelnd ertragen hast, über mehr als eine Woche von mir permanent zugetextet zu werden.

Abschließend  kurz zu den gefahrenen Strecken und unseren Rädern. Wie immer konnten wir uns auf unsere robusten Giants verlassen, nicht mal einen Platten hatte ich zu beheben. Zunehmend befahren wir aber auch gute, oft frisch geteerte Strassen. Die machten bei unserer Tour ca. 95% der Strecke aus. Der Rest war für die Räder unproblematisch, nicht immer aber für unser Hinterteil…

So sahen die einzelnen Tagesabschnitte im Detail aus:

Verlauf                                          Distanz          Anstiege

1. Tag    Cochin und Backwaters                 30km              < 50HM

2. Tag    Cochin – Thattekad                         72km              320 HM

3.Tag     Thattekad – Adimali                         48km              620 HM

4.Tag     Adimali – Munnar                             30km              810 HM

5.Tag     Munnar – Nedumkandam                66km              930 HM

(Königsetappe mit dem höchstem Punkt der Tour am Lockart Gap auf   1.720 m über dem Meeresspiegel)

6.Tag     Nedumkandam – Kumily                 55km              590 HM

7.Tag     Ruhetag in Kumily/Thekkady        –                       –

8.Tag     Kumily – Kanjirappally                    72km              610 HM (-1.250 HM)

9.Tag     Kanjirappally – Alleppey                 63km              360 HM

Gesamt:                                                       436km            4.240 HM

 

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