Saga Dawa – Tibet 2014

Am Freitag, dem 13.06.2014, für viele im Westen ein eher negativ besetztes Datum, fand nach der Vollmondnacht vor den längsten Tagen des Jahres wie immer das Zusammentreffen der Tibeter am heiligen Berg Kailash und dem nicht minder heiligen See Mansarovar statt. Es wurde der im Ablauf des vergangenen Jahres verstorbenen Angehörigen gedacht, einige wurden symbolisch „himmelsbestattet“. Wie immer trafen sich Stämme, alte Freunde und Familien zum alljährlichen Austausch  und zum Wechseln der inzwischen von Wind und Wetter verschlissenen Gebetsfahnen mit dem Versprechen, sich genau nach einem Jahr wieder an diesem für sie so magischen Ort zu begegnen.

Im Westen, im Internet und wo auch immer außerhalb des großen Tibet wurde wieder einmal mehr oder weniger laut die Forderung „Tibet ist kein Teil Chinas!“ vertreten. Im Internet gab es dazu einen vielschichtigen Gedankenaustausch. Hier zum Nachlesen die von mir in einer Facebook-Debatte geäußerte sehr persönliche Sicht auf diese mich nicht loslassenden Dinge.

„Das Leben schreitet voran und ist mitunter brutal. Die Tibeter werden von den Chinesen nicht  erschossen, wie vor nicht zu langer Zeit die Ureinwohner anderer Kontinente von angeblich „zivilisierten“ Einwanderern aus Europa. Sie treffen heute (und seit einiger Zeit schon) in der Grundschule auf ausschließlich Mandarin sprechende Lehrer aus dem chinesischen Hauptland. Letztere lernen sicher auch die tibetische Sprache, wenden sie als bewusste Kader der Volksrepublik aber eher nicht an. Ihre Schüler aber werden vorbildlich für den ausschließlich im Mandarin ablaufenden offiziellen Alltag fit gemacht. Tibetisch findet noch in der Familie statt, aber wie lange noch?

Wo früher imposante Tschörten für das Leben der Einheimischen wichtig waren finden wir nun übermächtig an ihrer Seite – ja, es gibt sie noch – Volks- und Kinderbelustigungs-Parks, so wie in Peking oder anderen Orts im großen Reich der Mitte auch. In spätestens zwei Generationen, so der offiziell eher nicht offen geäußerte Plan aus Peking, ist die tibetische Nation, ihre Kultur und ihre Sprache, wie für den aufmerksamen Beobachter schon heute traurig erlebbar, von innen her ausgetrocknet. Sie ist dann wohl nur noch ein Relikt von gestern und ihre beeindruckenden Klöster werden Magneten und schöne Kulisse einer boomenden Tourismus-Industrie sein. Man mag es, wie ich selbst, aufrichtig bedauern. Ändern werden wir es nicht.

Und fragen Sie die jungen Tibeter oder die jungen „Mönche“, die in den Klöstern die Schlüssel verwalten, wie sie ihr Leben sehen. Das klingt bei weitem nicht so deprimiert, wie man es im Westen gern glauben möchte. Im von China verwalteten Tibet sehen diese ihre Zukunft einheits-chinesisch oft optimistischer als so mancher Gleichaltrige weiter östlich im chinesischen Mutterland. Die heutigen Exilanten, besonders die bereits im Ausland geborenen, sind oft clevere Geschäftsleute. Einige dealen mit der für andere in Indien oder Nepal sonst unerreichbaren Möglichkeit, sich den Status eines tibetischen Flüchtlings zu erkaufen und so in einen westlichen Staat ausreisen zu können.

Tibetan Refugee Camps (Flüchtlingslager für Tibeter), die in den 1980er und 90er Jahren besonders in Indien noch lebendige Zentren tibetischer Kultur waren, sind bis auf medial wichtige Orte inzwischen meist sehr traurige Domizile der letzten dort Verbliebenen, die nur noch auf ihr baldiges Ende warten. In dem von uns dieser Tage besuchten in Nepal leben noch drei sehr alte Tibeter, die vom Dorf würdevoll unterstützt dort ihre letzten Tage verbringen. Die in unserem westlichen Bewusstsein als besonders benachteiligt verinnerlichten Indianer Nordamerikas in ihren Reservaten und die australischen  Aboriginees würden, wenn sie die Chance zum Tausch mit den Exil-Tibetern hätten, wohl sehr ins Grübeln kommen. Leider wahr! Oder neudeutsch: Fucking modern world!

Das alles ist nicht wirklich schön und es verschwindet ein weiteres, mir sehr nahes Stück kultureller Vielfalt auf unserem Planeten. Warum aber rege ich mich eigentlich nicht viel mehr über vergleichbare Vorgänge in meiner alten Heimat Brandenburg auf? Die nationale Minderheit der Sorben wurde dort schon zu DDR-Zeiten quasi als Feigenblatt künstlich am Leben erhalten. Eigenständig als Sorben leben sie schon lange nicht mehr, aber sie sind integriert, nehmen am deutsch geprägten Leben teil. Ihnen geht es als Deutsche wohl so schlecht nicht, einen eigenen Staat fordern sie auch nicht, also scheint es zu passen?

Ein freies Tibet klingt toll! Wie für mich auch: Ein Nordamerika ohne privilegierte weiße Einwanderer, also ohne die relativ jungen Vereinigten Staaten! Ein Australien ohne die in Scharen vom Empire dorthin ausgesetzten und heute scheinbar übermächtigen Kriminellen! Ein Süd- und Mittelamerika ohne spanische Conquistadores mit einer blühenden nicht-christlichen Kultur der verschiedenen indigenen Völker!

Träumen wir also weiter, oder stellen wir uns den Realitäten und treten ein für das Machbare? Offensichtlich gilt es, die wirklich wichtigen Dinge in der gegenwärtigen Zeit eher im südlichen und südöstlichen Europa, im nahen und mittleren Osten und in Teilen Afrikas zu lösen. Überall dort, wo in Folge wenig sinnhafter Grenzziehungen nach dem ersten und zweiten Weltkrieg und am Ende der Kolonialzeit die Basis für die heute unvermeidlich aufbrechenden Konflikte gelegt wurde. Dies ist zutiefst im Interesse der dort lebenden und noch mehr der gerade von dort fliehenden Menschen.

Aus Tibet fliehen sie so heftig schon seit einiger Zeit nicht. In den angrenzenden Regionen Nepals sehnen sie sich zuforderst nach den chinesischen Investitionen in die noch immer kaum vorhandene moderne Infrastruktur. Und die Tibeter, die z.B. in Indien und an anderen sicheren Orten geschäftstüchtig ihr Vorankommen betreiben, sie haben alles, nur nicht die Rückkehr in das Land ihrer Eltern und Großeltern im Auge. Die Gründe dafür sind sicher vielschichtig, aber zu leugnen ist diese eindeutige Situation nicht.

Fordern wir also weiterhin ein von China unabhängiges Tibet! Und dies und jenes mehr. Gestorben wird immer. Und an anderen Orten des Planeten derzeit leider weit, weit mehr, weil auch gemordet.

Also JA! Ein freies Tibet für seine Ureinwohner wie auch ein freies, selbstbestimmtes und menschenwürdiges Leben überall auf unserem Planeten! Schön, dass wir Europäer uns dies nach den vielen grausamen Erfahrungen noch in der Generation meiner Großeltern zum Ende des 20. Jahrhunderts erkämpft haben. Tun wir also alles, damit es uns erhalten bleibt! Und damit uns die, die noch dafür kämpfen, bald begleiten können!

Vor fast 70 Jahren hat Deutschland im Ergebnis des Krieges große Gebiete im Osten verloren. Millionen, unter ihnen meine Mutter und auch mein Schwiegervater mussten damals ihre geliebte Heimat aufgeben, wurden zu Flüchtlingen und zum Neuanfang gezwungen. Heute, zwei Generationen später sind wir alle in der Europäischen Union vereint. Nicht mit dem Panzer, mit dem Fahrrad fahre ich im Sommer 2014 nach Polen und ins Baltikum. Und Reisende wie Gastgeber freuen sich aufeinander.

Ich habe die Hoffnung, ja ich bin mir sicher, dass das in wenigen Jahren in Tibet auch so sein kann, ja so sein wird! Und an möglichst vielen anderen Orten, wo es derzeit gar nicht friedlich ist, auch!“

 

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