Tamang Heritage Trail

Nach der spektakulären, aber auch ermüdenden Anreise aus Kathmandu erwartet uns am Abend in Shyabru Besi mit dem Hotel Tibet ein kleines Idyll, einfach und sauber, betrieben von sehr herzlichen alten Freunden Pasangs. Das zum Abend servierte traditionelle Dhal Bhaat ist exzellent, wir schlafen super und nach einem knackigen Frühstück am nächsten Morgen sind wir bereit für den ersten wirklichen Wandertag. Wobei ich noch die Rechnung für die genannten Leistungen zu verdauen habe. Es sind für Kost und Logie umgerechnet keine acht Euro. Da muss ich erst einmal durch. Aber ich werde sehr schnell lernen, dass es hier unten in der Noch-Zivilisation und bei dem harten Wettbewerb in der Nachsaison halt Nachlässe gibt, die schon fast unanständig sind. Mit jedem Meter jedoch, den wir uns ab sofort und  in den kommenden Tagen von der Strasse entfernen und den die Waren durch Träger transportiert werden müssen, werden sich die Preise in wundersame Höhen entwickeln und hie und da auch das Niveau mancher asiatischen Metropole müde von ganz oben belächeln. Mehr dazu, wenn es denn so weit ist. Jetzt freuen wir uns erst einmal, dass der erste richtige Berg ruft.

Welch ein Start. Direkt neben dem Hotel geht es in eine echte Wand. Wir steigen behutsam zwar, aber beständig nur nach oben. Am ersten Rastpunkt haben wir bereits 750 Meter an Höhe gewonnen, sind herrlich durchgeschwitzt, werden dafür mit einer ersten Aussicht belohnt, die es so eben nur im Himalaya gibt, auch wenn die Einheimischen ob unserer Extase nur verständnislos mit den Schultern zucken. Wir – oder doch nur ich? – jedenfalls sind schon mal verzückt. Und es wird mit jeder Stunde ja nur besser.

Da schmeckt wenig später selbst die chinesische Instant-Nudel-Suppe, die ich sonst immer stehen lasse. Aber der erste Anstieg war schon mal ein feiner. Wie mir Pasang erklärt, sind die von uns benötigten 1 Stunde und 45 Minuten dafür eine Zeit, die auch vielen Einheimischen ein respektvolles Kopfnicken abnötigt. Die meisten Touristen sind gern bis zu vier Stunden auf diesem Abschnitt unterwegs. Recht haben sie, denn die permanent wechselnden Aussichten, wenn man sich denn mal umschaut und diese auch wahrnimmt, lassen auch in mir im Nachhinein die Frage aufkommen, warum ich Alt-Marathoni immer so rastlos die Berge hinauf muss?

Jetzt aber nehmen wir uns in der herrlich wärmenden Vormittagssonne alle Zeit der Welt, um die trotz der sich minütlich sichtbar vermehrenden Wolken noch immer grandiosen Ausblicke auf die umgebenden Massive zu genießen. Mir wird erklärt und mir wird klar, warum wir unseren 18-Tage-Trek gerade mit dieser Schleife zu den Tamang beginnen. Zunächst geht es um unser Wohlbefinden. Wer immer die Zeit dazu hat, sollte aus Respekt vor den Bergen und mit Rücksicht auf seine eigene Gesundheit den Aufstieg auf über 3.000 Meter Höhe und darüber hinaus behutsam beginnen und die Belastung nur sehr langsam steigern. Ja, er/sie sollte sich unbedingt die Zeit dafür nehmen! Wir tun dies, zumal diese ersten 5 Tage mit einem Höhenprofil von anfänglich 1.460 m  in Shyapru Besi auf Höhen um 2.500 m in den kommenden Tagen, verbunden mit einem ersten Auf- und Abstieg am Nagthali Peak (3.165 m ) für die Anpassung des Körpers an die Höhe geradezu ideal sind.

Daneben ist es natürlich das unverfälschte Erleben der bäuerlichen Kultur der Tamang, einer vor langer Zeit aus Tibet eingewanderten Volksgruppe mit mongolischen Wurzeln und deren seit Jahrhunderten offensichtlich fast unverändertem Alltag. In Chilime im vor uns liegenden Tal des gleichnamigen Flusses durchschreiten wir dann die gerade entstehende Baustelle für einen Damm und ein sehr überschaubares Wasserkraftwerk, welches die umliegenden Dörfern in 3-5 Jahren mit Elektroenergie versorgen und damit den Zugang zum 21. Jahrhundert ermöglichen wird. Dieses wird in Kooperation mit den Indern angegangen und schaut bei allen unvermeidlichen Narben doch sehr vernünftig, angemessen und weitestgehend im Einklang mit der Natur aus – nachhaltig sagt man neudeutsch wohl gern zu einem derartigen Projekt.

Nach diesen ersten Erklärungen und einem weiteren atemberaubenden Blick auf die Langtang-Gruppe geht es nun weit weniger anstrengend in ein Seitental. Unser Tagesziel nennt sich Gatlang. Es ist ein sehr spezielles Dorf mit einer eigenen Sprache, Kultur und auch Bauweise für die Häuser. All dies rührt aus der langen Abgeschiedenheit und dem schlichtweg nicht vollzogenen Austausch mit anderen Regionen, sprich Tälern, jenseits der offensichtlich nicht nur für uns überwältigend hohen Berge her. Hier gibt es außer ersten Solarzellen noch immer keinen Anschluss an die moderne Infrastruktur. Strom- und Straßenanbindung sollen in den nächsten fünf Jahren realisiert werden. Obwohl, auf dem Pfad, über den wir in den Ort einwandern, kommen uns erste Motorräder mehr springend, denn fahrend entgegen. Auch die unvermeidlichen Mobiltelefone funktionieren schon hin und wieder. Es wird viel gebaut im Dorf, man rechnet wohl mit steigenden Touristenzahlen.

Sonst aber ist es zutiefst ländlich geprägt. Alle Anwohner sind irgendwie mit der Produktion und der Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte, meist Kartoffeln, Gerste, Hirse, Mais und Gemüse und der Aufzucht von Ziegen und Yak-Rindern zu Gange. Die das Dorf umschließenden Terassenfelder sind über Jahrhunderte entstanden und erweitert worden. Sie künden von großem Verständnis und belegen ein Leben im Einklang mit der Natur. Am Bach mahlt eine archaisch anmutende Mühle Mais. Viele Frauen in den Höfen sitzen an Webstühlen oder bereiten die Yak-Wolle zum Stricken vor. In den Häusern gehört die untere Etage immer dem Vieh. Darüber wohnt der Mensch. Aus den engen Gassen tönt von überall her das laute Geschrei übermütig spielender Kinder zu uns. Sie sind hier eindeutig in der Mehrzahl. Alte sehe ich kaum. Offensichtlich sind die rauen Umstände und sonstigen Lebensbedingungen noch nicht so, dass ein langes Leben hier die Norm wäre.

Ich war schon überzeugt, der einzige westliche Gast des Tages zu sein, als am späten Nachmittag noch eine Vierergruppe ins Dorf einbiegt. Es handelt sich um einen Weißen, begleitet von einem Guide, einem Träger und einem weiteren Einheimischen mit einem überdimensionierten Regenschirm. Pasang schüttelt den Kopf, als er sie so kommen sieht. Üblicher Weise kommen Trekker in diese Gegend entweder allein oder sie werden von einem Einheimischen geführt, der mitunter auch einen Teil des Gepäcks trägt. Aber ein derartiges Team hat er noch nicht gesehen.

Abends wartet dann noch die erste wirkliche Herausforderung in Form einer Art Nationalspeise der Tamang auf mich. Mit dem wie in Tibet hier überall und jederzeit angebotenen salzigen Yak-Butter-Tee habe ich ja inzwischen weitgehend meinen Frieden gemacht. Nun lerne ich ein weiteres für den Europäer sehr gewöhnungsbedürftiges Highlight der hiesigen Küche kennen, auf welches sich die Familie schon sichtlich freut. Es ist eine vergleichsweise fade Brennessel-Hanf-Suppe, wohl ohne jedes weitere Gewürz, nur mit etwas Maismehl angedickt. Dadurch verändert sich die Konsistenz deutlich in Richtung dessen, was hier allen Kindern unablässig aus dem zentralen Gesichtsbereich gen Süden läuft und hin und wieder mit der Zunge aufgefangen wird. Dazu gereicht wird ein kräftiger Klumpen gut gesalzenen Maisbreis. Daraus kann man auch als Ungeübter mit der Hand mundgerechte Portionen formen. Diese tut man in die Suppe, zerdrückt das ganze soweit, als das man es noch gerade laut schlürfend irgendwie mittels der rechten Hand in den Mund bekommt. Löffel oder andere Esswerkzeuge sind hier unbekannt. Auf separaten Tellern stehen frische grüne Chillies, Knoblauch und rote Zwiebeln als Gemüsebeilagen bereit, die in Mengen gegessen werden, die auch für mich, der ich Ähnliches ja aus Südindien kenne, doch beeindruckend sind.

Nach Sonnenuntergang wird es hier oben auch jetzt im Mai sehr schnell sehr kalt. Morgens haben einige Pfützen im Hof eine kleine Eisschicht. Obwohl meist warm eingepackt, laufen alle barfuß oder nur in Flipflops umher. Es ist ja Sommer. In der großen Küche wird abends natürlich auch der zentrale Ofen zum Kochen und Wärmen angeheizt. Die Tür nach draußen bleibt aber grundsätzlich weit offen, um immer genügend Frischluft im Raum zu haben. Die ist bitter nötig, da die Kochstellen meist offen und ohne jeden aus der Heimat bekannten Abzug gearbeitet sind. Entsprechend zeigen sich die Decken auch in neuen Häusern alle tiefschwarz, wie geteert. So muss es wohl in einer Raucherlunge aussehen. Beeindruckend in jeder Beziehung.

Die ohne jeden Mörtel errichteten Steinhäuser werden innen mit massiven Brettern und Bohlen als Zwischendecken ausgekleidet. Und nur mit diesen. Entsprechend ähneln unsere Zimmer einfachen Verschlägen. Der Sichtschutz ist meist gegeben. Geräusche und auch die dicke Luft aus der Küche verteilen sich ungefiltert in allen weiteren Räumen. Das Bettzeug ist sauber und schön wärmend, weshalb ich meinen Schlafsack unangetastet lassen kann. Zähneputzen und Katzenwäsche im Hof mit dem eiskalten Wasser aus einer irgendwo aus dem nahen Berg stammenden Leitung sind ein kleine Herausforderung, aber ok. Dieses weiche Gebirgsquellwasser ist von einer Qualität, die in Europa so kaum noch vorstellbar ist. Es ist so weich, so angenehm zur Haut. Es schmeckt phantastisch, wenn es doch nur nicht so kalt wäre. In der unmittelbaren Nähe vieler neuerer Häuser gibt es inzwischen auch Plumpsklos mit einem Eimer Wasser zur Linken. Viele Einheimische aber gehen wie seit Generationen weiterhin ins nahe Feld.

Nach einer erholsamen Nacht – und keinem bisschen Frösteln unter der Steppdecke! – wird es bereits deutlich vor fünf Uhr hell und unten im Haus setzt geschäftiges Treiben ein. Gegen halb sechs Uhr wage ich einen ersten Blick durch mein nun schon sonnendurchflutetes Fenster. Die Langtang-Gruppe baut sich im gleißenden Gegenlicht unverschämt schön hinter dem Tal mit den Terassenfeldern auf. Welch eine Begrüßung, für die sie hier keine Blicke haben. Es ist wie immer im Paradies…

Unten wartet dieser unvermeidliche dicke Tsampa-Brei oder ein frisch gebackenes tibetisches Brot, selbst gemachter Honig und ein starker schwarzer Kaffee auf mich. Ich ignoriere den Power-Brei. Auch ohne ihn ist alles so einfach, so ehrlich gut. Mehr braucht kein Mensch. So gestärkt machen wir uns dann bestens gelaunt auf den Weg. Es ist kurz nach 7:00 Uhr. Viele Einheimische sind schon seit mehr als zwei Stunden im Feld. Die Kinder spielen draußen, nur die jugendlichen Motorrad-Helden sind noch nicht zu sehen. Liebe Bewohner von Gatlang, bleibt noch möglichst lange so und zeigt Euch noch vielen Gästen aus der „Zivilisation“ von dieser ursprünglichen Seite!

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Erst durch die Felder und dann direkt am Fluss entlang durch die Wälder – von Pasang „Jungle“ genannt – geht es zunächst ins Tal nach Chilime, den einzigen Ort während des gesamten Trails, der dem Fortschritt sichtbar Tribut zollen muss. Mit aller Macht beginnen sie hier gerade, den Damm für den Stausee zu errichten und Rohrleitungen in den Berg zu treiben für die Zuleitung weiterer Wasserressourcen für das entstehende kleine Wasserkraftwerk. Die wenigen Narben in der Natur werden bald verheilt sein und für die Menschen in der nahen Umgebung ist diese saubere Energie ein Segen. Dieses Projekt macht vielen viel Hoffnung. Kein Größenwahn, sondern eine intelligente Lösung für einen sehr begrenzten Bereich. Dann wird man auch hier viele Jobs ausüben können, die heute die Jüngeren noch ins Kathmandu-Tal ziehen. Die können dann auf ihre halsbrecherischen Motorrad-Touren verzichten und in ihrem Tal auch künftig ihr Auskommen haben. Kein Wunder, dass wir einigen großvolumigen Jeeps ausweichen müssen, die Regierungsvertreter und ausländische Gäste hierher zum dienstlichen „sightseeing“ kutschieren.

Für den Trekker, wie für die vielen Träger, gibt es trotz all der politischen Euphorie nur eines – schnell weg von dieser Baustelle, über die neue Hängebrücke den Fluss überqueren und hoch in den gegenüberliegenden Berg nach Tato Pani. Wie so oft sagt uns der Name des Ortes bereits alles, worum es hier geht, um heißes Wasser nämlich. So können wir uns, zwei Europäer und zwei Guides wie später die Einheimischen auch, am Nachmittag nach dem schweißtreibenden Aufstieg in den zwar optisch nicht sehr einladenden Becken bei 37 – 40 Grad Wassertemperatur doch reinigen und zudem wunderbar entspannen. Ohne an so etwas, wie Eintritt zu zahlen auch nur erinnert zu werden. Einzigartig wird das Erlebnis durch die zu dieser Zeit gerade aufziehenden dramatisch wirkenden Wolkenformationen in das noch immer reichlich schneebedeckte Bergmassiv gegenüber und die steinalten urigen Eichen des Himalaya-Regenwaldes im Vordergrund. Aufgrund der steten Feuchtigkeit sind sie über und über mit Moos behangen, oft mit nur hier vorkommenden Orchideen bewachsen und geben für uns unglaubliche Fotomotive ab.

Der Abend wird dann beispielgebend für die kommenden Tage an den Orten, wo der elektrische Strom erst noch hin will. Spätestens gegen 19:00 Uhr wird es dunkel und damit auch kalt. Zum Glück steht da gerade das allabendliche Dhal Baat auf dem offenen Feuer, welches die Küche, die meist zugleich auch das familiäre Speise- und Wohnzimmer ist, ein Stück weit heizt. Nach dem immer guten und reichlichen Essen erhalten die einheimischen Männer in der Runde noch ihren selbst gebrannten mehr oder weniger hochprozentigen „local wine“. Die Frauen trinken ihn wohl auch, aber zumindest für mich als Gast nicht sichtbar. Ich verzichte dankend, auch wenn das ein herzliches Gelächter bei Kindern und Frauen hervorruft. Irgendwann zwischen 20:00 und 21:00 Uhr liegen wir alle in der Koje und es wird schnell still in der meist sternenklaren und kalten Nacht.

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Nach der Kälte folgt nun im Mai mit der morgendlichen Sonne sofort eine wunderbare Erwärmung. Voller Elan steigen wir auf in den nach einem abendlichen Schauer nun gespenstisch dampfenden Rhododendren-Wald. Unterwegs lässt Pasang mich die violetten und roten Blütenblätter probieren. Die Träger kauen sie ständig, auch seien sie hier in den Bergen ein bewährtes Mittel zur Senkung des Blutdruckes – brauchen sie das hier etwa auch schon? – und finden beim Auftreten der Höhenkrankheit Anwendung. Übrigens schmecken sie durchaus gut, zunächst etwas säuerlich und später dann leicht nussig.

Unser erstes Tagesziel, der Nagthali Peak (3.165 m ) begrüßt uns in gleißendem Sonnenschein mit gewaltigen Ausblicken in alle Richtungen. Trotzdem ist es recht kalt. In der Hütte wärmt uns der angebotene Tee. Dazu reicht die Wirtin frische Pellkartoffeln, die hier mit einem gerade im Mörser entstehenden Chilli-Knoblauch-Salz kombiniert werden. Ein Gedicht!

Nach einem halsbrecherischen Abstieg erreichen wir noch vor dem Mittag Thuman. Sofort gesellen wir uns zur Wirtin in die Küche und erfahren den neuesten Tratsch aus der Region. Sie berichtet später dann von ihren beiden Söhnen ( 5 und 8 Jahre alt), die seit kurzem in Kathmandu zur Schule gehen und die sie nun nur noch 2x im Jahr sehen kann. Das macht ihr das Herz schwer. Es müsse aber sein, damit sie ihre Zukunftschancen nicht einbüßten. Eine tolle Frau! Sie kümmert sich später um Kühe und Hühner. Wir genießen die unglaubliche Ruhe und den Blick hinüber nach Briddhim, unserem morgigen Tagesziel. Es sieht zum Greifen nahe aus, wäre da nicht die 800 m tiefe Schlucht des aus dem nahen Tibet kommenden Bothe Koshi-Flusses.

Die Stille des Nachmittages, unterbrochen nur vom Flattern der Gebetsfahnen und dem aufgeregten Tschilpen der Spatzen – das wird das Bild dieses Dorfes in meiner Erinnerung prägen. Alle Grundstücksgrenzen, egal ob am Haus oder am Feld, werden hier durch von Hand aufgeschlichtete Mauern aus den überreichlich vorhandenen Steinen markiert. In deren Windschatten wachsen wahre Monster von Brennesseln und Disteln sowie kleine, aber extrem robuste wilde Hanfpflanzen.

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Nach einer weiteren sehr entspannten Nacht geht es nach dem üblichen kräftigen Frühstück wieder zeitig los. Zunächst brachial bergab hinunter ins Tal durch einen beinahe deutsch wirkenden Kiefernwald, wären da nicht Affen und Adler, die da nicht hingehörten, oder wohl hier doch? Weder an der Brücke, noch beim ersten Tee-Stop auf halbem Wege nach oben lasse ich mich von den einheimischen Mädels zum Kauf ihrer vermeintlich oder tatsächlich selbstgemachten textilen Produkte überreden..

So sind wir noch am späten Vormittag in Briddhim. Unser anvisiertes Domizil sieht verwaist aus. Pasang erreicht den Eigentümer am Mobiltelefon. Er ist in Kathmandu und bietet uns an, in seinem Haus zu schlafen. Die Türen seien offen, die Zimmer sauber, die Betten bezogen. Kosten würde es nichts, nur um das Essen mögen wir uns bitte bei der Nachbarin bemühen. So machen wir es dann auch und waschen sogleich unsere noch vom Schweiß des Aufstiegs triefenden Klamotten im weichen Gebirgswasser rein.

Ich lasse das Telefonat von Pasang nochmals langsam durch meinen etwas müden Geist laufen. So richtig verstehen kann ich es noch immer nicht. Im Westen bemühen wir uns nach Kräften, unser Eigentum vor unrechtmäßigem Zugriff zu schützen und hier stehen dem Wanderer alle Türen offen? Ja, bestätigt die freundliche Nachbarin. Und fragt als geschäftstüchtige Wirtin der „3 Schwestern“ genannten Herberge gleich nach unseren Wünschen für die anstehenden Mahlzeiten.

Die Situation erinnert mich an meine alternde brandenburgische Heimat und auch wieder nicht. Vieles scheint vergleichbar und ist dann doch wieder ganz anders. In Kindertagen waren alle Häuser des Dorfes immer für alle von uns offen. Heute schließen sie auch im fernen Brandenburg alles ab, mindestens.

Während des leckeren Abendessens erfahren wir vieles über die Familie, den Ort und die Region. Die drei Töchter des Hauses, daher der Name „3 Schwestern“, seien inzwischen alle gut ausgebildet und machten in der Welt Karriere, eine in Frankreich, eine in den Golf-Staaten und die Jüngste in Kathmandu. Die beiden aber, die seit über 30 Jahren glücklich verheirateten Eheleute mühten sich, da sie ungebildet seien, wie ehedem ab, die Felder zu bestellen.

Gern erklären sie mir ihren imposanten Wohnbereich. Die hinter Glas verstauten heiligen Schriften könnten sie selbst nicht lesen. Regelmäßig trift sich jedoch die Familie und ein Lama bringt allen Versammelten die Schriften nahe. Dies dauere drei Tage und sei der Höhepunkt des Jahres für die Familie.

Leider bestätigen die beiden uns den Eindruck des Tages, dass hier im Ort die Jugend auf der Flucht ist. Viele Häuser stehen leer und man mache sich Gedanken, wie es in einigen Jahren mit der Bestellung der Felder weiter gehen soll. Das Tibetische Flüchtlingslager werde sicher bald schließen. Der Tourismus, die große Hoffnung aller hier, sei sehr saisonal. Da im Tal bald ein Highway von den Chinesen von Tibet nach Kathmandu kommen soll, sei man aber guter Dinge. Dann kommen mit der modernen Infrastruktur sicher auch die Leute aus Kathmandu zurück. Wir drücken die Daumen!

Als einzige während des Treks legen sie uns zum Abschied ein Gästebuch vor, in welchem sich, für mich erstaunlich, viele Osteuropäer verewigt haben. So zum Nachdenken aufgefordert wird mir bewusst, dass das Leben in diesem Dorf so weit gar nicht entfernt ist von dem, welches ich als Kind auf dem brandenburgischen Bauernhof noch erlebt habe. Genau das schreibe ich dann auch da rein und es beschäftigt mich seitdem fortlaufend. Es ist kaum 50 Jahre her. Wie werden sie dort wohl in 50 Jahren leben? Spannende Fragen tun sich auf.

Am kommenden Morgen brechen wir zeitig auf. Unser Ziel nennt sich Lama Hotel. Kurz davor erreichen wir die Route des Langtang-Treks, die auch zu diesem späten Zeitpunkt der Saison noch viel begangen ist. Vorbei ist es also mit der herrlichen Ruhe der ersten Tage. Noch aber ist es nicht so weit und wir haben einen langen Tag des Wanderns durch eine wunderbare Natur mit nicht zu anstrengendem Profil vor uns. Heute ist es sogar noch viel ruhiger als ohnehin schon. Der Grund dafür heißt Buddha Jayanthi, der Geburtstag Buddhas also, der ja in Nepal geboren wurde. Die Einheimischen sind seit dem Morgen in den Klöstern und treffen sich später in den Familien. Wir jedenfalls treffen sie nicht. Bis auf einen.

In Sherpagaon, dem „Ort der Sherpas“, machen wir für eine kräftigende Nudelsuppe eine kurze Mittagspause bei einem alten Freund von Pasang. Sie tragen beide den gleichen Namen Pasang Sherpa, wohl vergleichbar mit etwa Dieter Müller in Deutschland. Aber unser Gastgeber war im Gegensatz zu meinem Freund und Begleiter seit frühesten Kindestagen im Kloster und wurde zum Mönch ausgebildet, hat also eine ausgezeichnete Bildung und ein unglaubliches Wissen in religiösen, historischen und kulturellen Fragen. Mit Anfang 20 änderten sich dann, wohl biologisch begründet, seine Interessen. Er lernte eine junge Frau kennen und lieben, verließ das Kloster und gründete seine Familie. Beide betreiben nun eine offensichtlich gut gehende Herberge am Hauptwanderweg hinauf zum Langtang-Massiv und erfreuen sich einstweilen zweier hyperaktiver Buben. In der Mittagssonne, wenn mich der ältere der beiden Jungen denn lässt, hänge ich meinen Gedanken nach und frage mich, warum bloß die katholische Kirche im fernen Europa so weltfremd agiert und ihren Jüngern nicht auch ein Leben im Einklang mit der Natur ermöglicht. Wie weise ist doch Buddha und wie viel Leid ließe sich vermeiden…

Ich muss das zum Glück nicht beantworten und werde von den beiden Pasangs unsanft aus meinem Dösen gerissen. Auf geht es nach Lama Hotel und damit zum vermeintlichen Highlight unserer Tour, dem Langtang-Trail. Das ist dann aber der Stoff für die nächste Geschichte.

 

 

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