Monsun 2014

Die Bilder des vermeintlichen Jahrhundert-Monsuns aus dem vergangenen Jahr noch im Kopf habend blicke ich beim Flug von Delhi nach Cochin mit einiger Sorge auf die gewaltigen Wolkengebirge, die es vor der Landung zu passieren gilt. Dann geht aber alles fast ohne jeden Wackler, ja beinahe schon zu glatt der kaum spürbaren Landung auf der gerade wieder abtrocknenden Rollbahn entgegen.

Draußen ist es zwar feucht, aber geradezu frisch mit für Südindien ungewöhnlich niedrigen 26 Grad. Freundlich wie immer empfängt uns Prakash, unser Fahrer, und ab geht es in die abendliche Rush-Hour der keralischen Wirtschaftsmetropole. Ich gehe zunächst von zwei Stunden Fahrzeit runter in die Backwaters aus. Am Ende werden es fast vier sein bis zu unserer Ankunft bei Lisa und den Mädchen. Dazwischen liegen Momente, die selbst einen wie mich, der Indien zu kennen glaubt,  einem harten Test unterziehen.

Auf den ersten 25 Kilometern nach Cochin bauen sie seit einigen Monaten in der Fahrbahnmitte an den Säulen der neuen Metrostrecke, die künftig den Zubringerverkehr entlasten soll. Im Moment tut sie genau das Gegenteil. Da er mit uns Ausländer im Auto hat, fährt Prakash extrem defensiv und hält sich an die hier nicht existenten Regeln. Warum nur? Wird er damit doch neben der nicht endenden Baustelle zu einem weiteren Hindernis für die einer Lavawalze ähnelnde Masse lackierten, dabei oft verbeulten Blechs. Irgendwie nimmt sie uns mit und wir werden schließlich auf den National Highway gen Süden gespült.

Es beginnt gerade zu rollen, dann beginnt es auch schon zu regnen. Binnen weniger Sekunden wird dieser so stark, dass alle anhalten müssen. Nichts geht mehr! Schnell die Fenster hoch und schon lässt die Feuchtigkeit die Scheiben von innen derart beschlagen, dass sich in der Folge die Sturzbäche außen mit den sich innen bildenden Rinnsalen einen veritablen Wettkampf liefern. Gewinner sind beide und wir Insassen die schwitzenden Verlierer. Von jetzt auf gleich hat sich auch die Nacht über uns gelegt. Trotzdem wird wieder gefahren so gut es eben geht, entweder mit allen zur Verfügung stehenden Lichtquellen oder ganz ohne, wie meist auf indischen Straßen. Dazwischen gibt es hier wohl keinen Platz für uns vernünftig oder zumindest angemessen erscheinende Lösungen?

Eine Besonderheit der Umfahrung von Cochin sind etwa ein halbes Dutzend Ampeln, die den aus der Stadt fließenden Verkehr über den Highway bugsieren sollen. Brücken als mögliche Lösungen waren den Planern vor 20 Jahren anscheinend noch nicht bekannt. Dafür gibt es Ampelphasen, die den Verkehr auf dem Highway mal eben für 120 – 180 Sekunden mittels Rotschaltung „beruhigen“. Das tun sie, jedoch nur auf den Hauptfahrbahnen. Umso lebhafter rollt es nebenan auf der kleinen Ladenstraße und dem Fußgängerweg. Vor den Ampeln haben Monsun und Verkehr bereits riesige Löcher in den Asphalt gefressen. Durch diese quälen sich dann mühsam alle im Schlamm kurzzeitig wieder vereinten Vehikel. Klar, dass wir vor jeder Ampel ca. 20 Minuten um jeden Zentimeter Vorankommen kämpfen müssen. Irgendwann rollen wir dann doch mit sagenhaften 70 km/h, der offiziell zugelassenen Höchstgeschwindigkeit, dem Ziel entgegen und werden von unseren Freunden herzlich mit einem späten vegetarischen Dinner empfangen.

Typisch für die Jahreszeit werden wir am nächsten Morgen vom prasselnden Aufschlagen eines regelrecht wütenden Monsungewitters geweckt. Schnell verwandelt sich der Garten in einen 10 cm tiefen See, der mit dem Ende des Schauers und der nun strahlenden Sonne dampfend genauso schnell verschwindet. Ja, so kennen alle hier den Monsun. Er überschüttet das Land mit dem lebensnotwendigen Nass und macht dazwischen Pausen, die groß genug sind, um den normalen Alltag fortzuführen. Ganz anders im letzten Jahr, als es sich wochenlang pausenlos vom Himmel ergoss, die Ernte vernichtete und tausende Häuser über zwei Monate bis zu einem Meter unter Wasser setzte.

So können wir also die Räder fertig machen und auf den schnell abtrocknenden Straßen täglich zu unseren geliebten Ausfahrten aufbrechen. Unpassierbar jedoch sind die sonst besonders reizvollen kleinen Pfade direkt an den Kanälen, die jetzt oft komplett geflutet sind oder aber sich in glitschige Schlammbahnen verwandelt haben.

Das hat aber durchaus sein Gutes, zwingt es uns doch zu Fortbewegungsweisen, die die Einwohner hier seit Urzeiten praktizieren. So unternehmen wir stets nassen Fußes wunderbare Wanderungen durch die Dörfer und entlang an Seen, Kanälen und ausgedehnten Reisfeldern. Oder aber wir setzten uns ins Kanu und gleiten entspannt durch die durch die vielen Sedimente meist sattbraune Brühe. Dabei werden wir leider gewahr, wie der Mensch durch voranschreitende Zersiedelung und den Bau von immer neuen Straßen den ursprünglichen Charakter dieser einmaligen Region irreparabel verändert.

Gab es vor 20 Jahren nur einige wenige Straßen für Busse und Lastenverkehr, von wo aus sich jeglicher weitere Transport von Menschen und Gütern auf dem Wasser vollzog, so muss heute noch zum letzten abseits liegenden Weiler ein Damm aufgeschüttet werden, damit dieser für den zunehmenden Individualverkehr erschlossen wird. Neben der höchst sinnvollen Anbindung an das schnelle Internet und ca. 300 meist total sinnentleerten TV-Kanälen gehören immer neue Straßen halt zur unverzichtbaren Infrastruktur für die schnell wachsende Zahl der Besitzer eines fahrbaren motorisierten Untersatzes, egal ob 2-, 3- oder 4-rädrig. Aber warum sollen sie hier im Namen des vermeintlichen Fortschritts nicht auch all die Dummheiten begehen dürfen, die für uns im Westen so unverzichtbar geworden sind?

Juni und Juli, üblicher Weise die Monate mit dem intensivsten Niederschlag, brachten in diesem Jahr den nassen Segen etwa in den Mengen, die die Menschen erhofften, vielleicht knapp unter den Erwartungen. Und ab August nehmen ja die regenfreien Tage wieder zu, zumindest im langjährigen Mittel. Nicht so in 2014. In der Nacht auf den 1. August bemächtigt sich vom Meer her ein ausgedehntes  Regengebiet des küstennahen Unionsstaates und setzt binnen 24 Stunden große Teile unter Wasser. Die Alten stehen staunend am Fenster und schütteln die Köpfe. Nicht ist mehr, wie es war und wie es doch sein sollte.

Viele der schönen neuen Straßen sind über Nacht unpassierbar geworden. Vielleicht ist es ja doch ein Wink der Natur, mit ihr im Einklang zu leben? Vielleicht sind die Kanäle hier eben doch die eigentlichen Straßen und die Kanus und Boote die angemessenen Transportmittel? Vielleicht muss die Natur eine noch klarere Sprache sprechen, damit wir endlich verstehen, dass wir nur eine Zeit lang zu Gast bei ihr sind?

Aus den Medien lernen wir, dass es auch die Menschen in anderen Regionen Indiens hart trifft und sogar Menschenleben zu beklagen sind. Noch schlimmer ist es in Nepal. Dort, wo ich erst vor wenigen Wochen mit Pasang Sherpa eindrucksvolle Trekkings am Sunkoshi Fluss erleben durfte, hat eine Geröll- Lawine ein ganzes Dorf verschüttet. Selbst über dem immer trockenen Tibet liegen ausgedehnte Regenfelder.

Im Kuttanad, wo die Reisfelder unter dem Meeresspiegel und die Häuser und Straßen nur knapp darüber liegen, haben sie derzeit weder Zeit noch Lust zum Philosophieren, sind sie doch nach nur 4 Tagen heftigen Monsunregens erneut mit der ganz konkreten Bedrohungen ihrer Häuser und der auf dem Halm stehenden Ernte beschäftigt. Ein zweiter Ernte-Komplettausfall in Folge würde für die meisten den Ruin bedeuten. Wo gestern noch die Kinder in den steigenden Fluten spielten, da sichern heute ihre Eltern mit sehr sorgenvoller Mine ihr Hab und Gut, so weit es eben geht. Viele aus den tiefsten Bereichen mussten ihre Dörfer verlassen und sind schon in die nahe Distrikt-Hauptstadt Alleppey evakuiert worden.

Am Morgen des 06. August ist es dann doch wieder passiert. Einige der Deichabschnitte im unteren Teil der Gemeinde Kainakary, in der wir zu Gast sind, konnten dem immensen Druck des Wassers nicht länger standhalten und brachen. Zunächst rief Joseys Verwalter noch im Morgengrauen an und teilte mit, dass sein Haus bis zu 1,50 m unter Wasser steht. Da bei uns lediglich in Küche  und Speisezimmer ein max.  Wasserstand von 10 cm zu verzeichnen ist und die Prognosen ein leichtes Absinken voraussagen, wird er sofort hierher gebeten.

Wir sitzen noch irritiert ob der Nachricht am Frühstückstisch, unsere Beine bis über die Knöchel in der braunen Suppe steckend, da klingelt das Telefon erneut. Lisas Gesicht lässt nichts Gutes erahnen. Und so ist es auch. Soeben sei auch der Damm an den Reisfeldern gebrochen. All die über Kredit finanzierten Investitionen in die neue Ernte sind verloren! All die Anstrengungen zur Rettung des Deiches und damit der kommenden Ernte waren wohl umsonst! Es breitet sich eine lähmende Stille aus. Lisa kann mit Mühe ihre nur zu berechtigten Tränen unterdrücken.

Nach einer weiteren Nacht, nachlassendem Regen und einem minimalen Absinken des noch immer historisch hohen Pegels sind wir alle in der Lage, die Situation etwas nüchterner zu betrachten. Die Ernte ist definitiv verloren. Es ist Josey klar, dass es nun nicht mehr wie in der Vergangenheit selbstverständlich zwei Reisernten pro Jahr geben kann. Eine ist sicher, aber das bisherige Privileg von zwei oder mehr Ernten pro Jahr, es wird durch die Natur, konkret durch den unaufhaltsamen Anstieg des Meeresspiegels in Folge der globalen Erwärmung unserer Erde in Frage gestellt. Es wird komplizierte Debatten geben, ahnt er, um die anderen ca. 300 Eigentümer im Trust zu überzeugen, von sich aus auf die Investition in die zweite Ernte zu verzichten. Die allermeisten können es sich schlichtweg nicht vorstellen, weil nicht leisten, darauf zu verzichten.

Bleibt noch, das Land, welches er von seinem Vater und seinen Vorvätern geerbt hat zu verkaufen und das Leben künftig aus neuen Geschäftsmodellen und anders erworbenem Einkommen zu bestreiten. Aber da stehen viele Emotionen dagegen. Auch will dieser Schritt wohl abgewogen sein und die Brücke in die Zukunft, sie muss sehr tragfähig sein. Er wird nichts überstürzen, ist dies doch ein sehr existenzieller Moment! Viele vermeintliche Probleme, mit denen wir uns im Westen so herumschlagen, wirken demgegenüber klein und unbedeutend. Seien wir uns dessen ab und an einmal bewusst.

Mitte August. Wir packen unsere Sachen und machen uns wieder auf nach Europa. Die Kinder haben seit über zwei Wochen „Flutferien“. Viele Straßen, auch große überegionale sind nicht passierbar, der Busverkehr ist bis auf weiteres eingestellt. Und es regnet und regnet…

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