Pongal 2015

Sollten Sie sich mit dem Gedanken tragen, einmal eine Reise in den Süden Indiens zu unternehmen, so sei Ihnen der Jahresbeginn dafür wärmstens empfohlen. Nicht nur, daß es sich für den Europäer klimatisch um die wohl angenehmste Reisezeit handelt und er noch dazu dem heimischen Winter entfliehen kann. Nein, es wartet auch ein ganz besonderes kulturelles Highlight namens Pongal auf den Reisenden.

In Tamil Nadu im Südosten des Subkontinents ist es für die Einheimischen schlichtweg der Höhepunkt des Jahres, der offiziell jeweils Mitte Januar über 4 Tage hinweg begangen wird, der aber mit der oft damit zusammenhängenden Reisetätigkeit und dem Verweilen im Familienkreis und bei Freunden eine deutlich längere Zeitspanne in Anspruch nimmt. Für den westlichen Gast, so wie wir es in diesen Tagen durch unsere Radtour zu den Tempeln des Landes wieder einmal sind, stellt es sich wie eine bunte Mischung aus einer Art Erntedankfest, kombiniert mit Weihnachten und Neujahr dar. Die Einheimischen, in der Mehrzahl noch immer in der Landwirtschaft beschäftigt, feiern mit großem Enthusiasmus die zurückliegende Erntezeit und die Rückkehr der Sonne auf die nördliche Hemisphäre, die bei uns sog. Wintersonnenwende, auch wenn es den Winter hier nahe am Äquator natürlich so nicht gibt.

In Tamil bedeutet Pongal soviel wie „überkochen“ und ist ein Synonym für Überfluss und Wohlstand. Wichtiger Bestandteil der Feierlichkeiten ist die Speise gleichen Namens, die aus Milch, Reis- und Linsenmehl unter Verwendung von Butterschmalz, Rohrzucker, Trockenfrüchten, Nüssen und Gewürzen zu diesem Anlass in Tontöpfen gekocht wird. Alle im Haus warten gespannt auf das Überkochen der Speise und rufen dann überlaut „Pongalo Pongal!“ Anschließend wird der süße Brei gemeinsam verzehrt und auch den Kühen gereicht.

Der erste Tag der Feierlichkeiten, Bhogi Pongal, ist dem Regengott Indra gewidmet. Die Leute stehen früh auf, reinigen ihre Häuser besonders gründlich, schmücken sie mit Blumen und die Frauen gestalten vor den Eingängen bunte Zeichnungen, Kolam genannt. Anschließend kleiden sie sich in neue Gewänder und besuchen ihre Tempel. Wir erleben all dies noch in Pondicherry und sind beeindruckt von der Farbenpracht der sonst weißen, weil nur mit Reismehl auf den braunen Boden gestreuten Kolam-Zeichnungen. Auch weichen die Frauen aus Anlass des Festes von den sonst strikt vorgegebenen Mustern ab und entwickeln eine erstaunliche Kreativität.

Am zweiten Tag, Surya Pongal, trifft man sich zu Sonnenaufgang im Tempel und dankt dem Sonnengott Surya. Anschließend versammelt sich die Familie zu Hause, um dem beschriebenen Pongal-Kochen beizuwohnen. Wir sind an diesem Morgen in Chidambaram und erleben nach der vorabendlichen Feuerzeremonie erneut einen übervollen Nataraja-Tempel. Zumindest ich bin sehr beeindruckt von dem Gedränge und der spirituellen Hingabe der Tempelbesucher. Als die meisten meiner Mitradler gegen 7:30 Uhr in den Tag starten, hat sich die Stadt schon beinahe gespenstisch geleert. Von jetzt ab und für die kommenden drei Tage – mindstens – steht die Familie im Mittelpunkt. Beinahe alle Geschäfte, Restaurants und Garküchen sind geschlossen. Dies ist durchaus nicht unproblematisch für uns, da wir in der Region nicht wirklich gut vernetzt sind. Wir kommen uns etwa so vor, wie sich ein an Heiligabend in Deutschland gestrandeter Tourist fühlen muß, ziemlich einsam jedenfalls.

An Mattu Pongal, dem dritten Tag des Festivals, stehen traditionell die Rinder und andere Haustiere im Mittelpunkt. Sie werden herausgeputzt und mit Blumen geschmückt. Vielerorts finden Ochsengespann-Rennen statt. Früher übliche Stierkämpfe, bei denen (todes-)mutige junge Männer beim Lauf durch das Dorf versuchten, an den Hörnern der Stiere befestigte Geldscheine in ihren Besitz zu bringen, sind noch immer populär, aber verboten. Sie sollen, wie auch Hahnenkämpfe, weiterhin stattfinden. Uns jedenfalls gelingt es nicht, an einem dieser  Highlights im hiesigen Leben teilzunehmen. Dafür sehen wir allerorten Lauf- und andere Wettbewerbe der Kinder. Sie sind tausendprozentig bei der Sache und werden von allen Anwesenden, so auch von uns, enthusiastisch unterstützt.

Uns fällt auf, dass die Mechanisierung in der Landwirtschaft auch vor Pongal nicht halt macht. Mit noch größerer Hingabe als ihre Ochsen putzen die Bauern neuerdings ihre Traktoren und Anhänger in den Bächen und Teichen ihrer Gemeinden heraus. Der in Europa allgegenwärtige Umweltschutzgedanke ist hier noch völlig unbekannt und so strahlen die gereinigten und geschmückten Fahrzeuge in der Sonne um die Wette mit den breiten Ölfilmen auf den örtlichen Gewässern…. Auch in den Tempeln geht es wieder hoch her. Die Gebete sind heute der Göttin Parvati und ihrem elefantenköpfigen Sohn, Gott Ganesha, gewidmet.

Am vierten und letzten Festivaltag Kannum Pongal, wie erleben ihn auf dem Wege in die alte Hauptstadt der Chola-Könige Thanjavur, ist eine gewisse Müdigkeit unübersehbar. Für südindische Verhältnisse ist es in der Stadt geradezu behäbig und ruhig. Kein Wunder nach all dem Trubel vorher. Man bleibt nun in Familie und genießt das Zusammensein mit den oft von weit her angereisten Lieben. Besonderheit in diesem Jahr ist allerdings, dass der Geburtstag eines verblichenen, aber noch immer sehr populären Mollywood-Stars und ehemaligen tamilischen Ministerpräsidenten auf diesen Tag fällt. Und so ist es denn punktuell doch wieder sehr laut, da speziell die junge Generation regelrechte Revival-Konzerte mit dessen Schnulzen aus den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts feiert. Und alle anderen finden das natürlich auch gut!

Zwei Tage später, wir sind inzwischen im beschaulichen Chettinad mit seinen imposanten Kaufmannspalästen angekommen, holt uns das Festival erneut ein. Zunächst preist der Manager unseres kleinen Hotels mit warmen Worten eine speziell für Touristen konzipierte Veranstaltung am kommenden Abend an. Wir lehnen dankend ab. Das sind wir unserem Radfahrerstolz gegenüber den tiefgekühlt am tamilischen Alltag vorbeifahrenden Bustouristen schuldig – mindestens. Wir hatten ja schon viele Facetten des Originals. Warum dann diese authentischen Eindrücke durch den künstlichen Aufguss der Touristik-Industrie verwässern?

Nach einer sehr entspannten Nacht machen wir uns per Rad wieder auf den Weg, um eine in ganz Indien berühmte Fliesen-Manufaktur aufzusuchen. Wir erreichen diese kurz nach 10 Uhr am Morgen und alles wirkt sehr beschaulich. Ich befürchte schon, dass ich meinen Gästen diese Ikone handwerklicher Meisterschaft nicht werde zeigen können. Doch die mich gleich wieder erkennende freundliche Public Relations Managerin beruhigt mich. Soeben seien die ersten zwei Zweier-Teams aus ihrem Pongal-Urlaub wieder in der Manufaktur erschienen und würden nur für uns einige Unikate erzeugen. Wir sind beeindruckt von der handwerklichen und künstlerischen Meisterschaft dessen, was wir hier sehen dürfen. Jede einzelne Fliese wird von Hand gefertigt, 24 Stunden gewässert und dann sonnengetrocknet. Am Ende des Prozesses, der ohne das Brennen auskommt, stehen meisterliche Produkte mit einer lebenslangen Hersteller-Garantie. Am Nachmittag bewundern wir welche, die seit über 75 Jahren einen der Kaufmannspaläste zieren.

Wirklich zum Nachdenken bringt uns jedoch eine völlig unbefangen und wie selbstverständlich vorgetragene Äußerung der jungen Dame während unserer Führung durch die Manufaktur. Heute ist Dienstag, Pongal ist seit zwei Tagen vorbei und damit auch die offizielle Freistellung. Und sie freut sich, dass heute die ersten Mitarbeiter in den Betrieb zurückkehren und die Produktion langsam zumindest teilweise wieder aufgenommen wird. Da muss sich der aus dem Westen Angereiste erst einmal schütteln. Nach Weihnachten oder Neujahr kommen die Arbeiter also dann wieder zurück an ihren Arbeitsplatz, wenn alle familiären Feierlichkeiten beendet und die Freunde wieder aufgebrochen sind. Das kann einige Tage, aber auch mehr als eine Woche sein. Und das Management des Betriebes freut sich über jeden wieder die Arbeit Aufnehmenden, begrüßt ihn lächelnd und erkundigt sich nach den Lieben. Kein Gedanke an Produktionsausfall, Abmahnung oder Schlimmeres.

Am nächsten Tag auf unserem weiteren Weg nach Madurai durchfahren wir bei Mellur eine Gegend, die berühmt ist für ihre Steinbrüche, ihre Marmor-, Granit- und Zementprodukte. Es ist eine extrem mit Feinstaub belastete Umgebung, auf den Straßen begegnen wir sonst wahren Ungeheuern von Transportern. Nicht so heute. Es herrscht noch komplette Betriebsruhe. Nie war es schöner, hier mit dem Fahrrad durch zu fahren, obwohl auch hier die Produktion bereits den dritten Tag wieder hätte laufen müssen, wie wir auf Nachfrage erfahren. Ja, Pongal sei seit Menschengedenken das Fest der Familie und die Familie das Zentrum der Gesellschaft. Von daher ist es für alle unsere tamilischen Gesprächspartner nur logisch, ja anders schlichtweg nicht vorstellbar, zu dieser Zeit jedem die Zeit für sich und seine Familie einzuräumen, die er benötigt.

Hier prallen wieder einmal diametrale Wertewelten aufeinander und ich wünsche meinen tamilischen Freunden, dass es ihnen in der sich globalisierenden Welt noch möglichst lange gelingen möge, diese Haltung durchzuhalten. Und wieviel schöner wäre es, wenn wir im Westen wieder etwas weiter weg kämen vom reinen Effizienz- und Gewinn-Optimierungsdenken hin zu etwas mehr Mitmenschlichkeit?

Wie auch immer – Happy Pongal 2015!

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