Magisches Südindien

Einige Gedanken zur Radtour „Zauberhafter Süden“  im März 2015

In den letzten Februartagen 2015 ist es wieder so weit. Unsere Tour „Zauberhafter Süden“ lockt erstmals ausschließlich nur Herren an den Start und damit in die Stadt der Städte am Arabischen Meer, nach Mumbai. Einer von Ihnen macht sich noch im Taxi auf dem Weg vom Flughafen ins Hotel über den Titel der Tour lustig. Zauberhaft passe ja bestimmt nicht zu einer Radtour läßt er uns andere verwundert wissen, magisch sei viel treffender, meint er. Sei es drum. Das, was uns in den kommenden drei Wochen erwartet, kann so magisch wie zauberhaft sein. Wichtig ist doch nur, was ein jeder für sich aus dem Angebotenen macht, weniger wie er es nennt.

Bombay, sorry Mumbai

So gar nicht zauberhaft sind die Wetterprognosen für unser Wochenende in der Stadt, soll doch ein Sturmtief über sie hinweg ziehen. Also machen wir uns nur kurz frisch und miteinander bekannt und nehmen die sonst für Sonntag geplante Bootstour nach Elephanta Island sofort in Angriff. Der Plan ist gut, das schlechte Wetter ist schneller. Beim Anlegen an der Insel setzt der befürchtete Regen ein. Zunächst ist er eher erfrischend, denn unangenehm und auch den Besuch der Höhlen beeinträchtigt er nicht. Er intensiviert eher den Kontakt zu den vielen Einheimischen, was angenehm und unterhaltsam ist. Die Rückfahrt nach Mumbai ist genau das Gegenteil davon. Der peitschende Regen macht vor nichts und niemanden halt. Kinder klammern sich blau vor Kälte wie kleine Äffchen an ihre Mütter. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in Indien so gefroren zu haben.

Über Nacht verziehen sich glücklicherweise die hier nicht in die Jahreszeit gehörenden Wolken und wir erleben einen Sonntag, wie er auch hier kaum schöner sein kann. Zunächst nehme ich meine Gäste mit in die Dhobi Ghats von Colaba, das Wäscherei-Viertel des südlichen Stadtteils. Wie immer ist der Besuch hier ein Eintauchen in eine andere Welt und emotional sicher für einige der Neuankömmlinge eine echte Herausforderung. Damit nicht genug, treibt es mich heute Morgen immer tiefer in das dahinter liegende Wohnviertel mit seinen engen Gassen, wo das wirkliche indische Leben passiert. Sofort sind wir von Kindern umringt und der eine oder andere „Guide“ bietet sich als Führer durch die Labyrinthe an. Ehe wir uns versehen, sind wir 90 Minuten in dieser Stadt in der Stadt unterwegs bis hin an den gar nicht sauberen Zugang zum Arabischen Meer, wo Dutzende Anwohner ihr Morgengeschäft und anderes mehr verrichten. Alle sind sie entspannt und freundlich, viele haben hier ihren Lebensmittelpunkt und verdienen hier ihren Unterhalt. Die privaten Bereiche, so beengt sie nach unseren Vorstellungen sein mögen, sind allesamt sehr sauber, auch wenn der erste äußere Eindruck etwas anderes suggerieren mag.

Auch später am Tage sind es immer wieder an den verschiedenen Punkten vor allem die Menschen, die uns mit ihrer freundlichen und offenen Art beeindrucken. Der Abend dann hält für mich ein kulinarisches Highlight bereit, welches ich lange nicht vergessen werde. Da wir uns das Erlebnis „Cloud No.9“ mit seinen atemberaubenden Blicken auf die Skyline der Stadt schon am Vorabend gegönnt haben, suche ich für den Abschluss des Tages nach einem Restaurant im benachbarten arabischem Viertel. Den Ausschlag gibt die Speisekarte. Ich traue meinen Augen kaum, wird hier doch eine Rubrik mit Innereien geführt. Ja, erhalte ich auf meine ungläubige Frage zur Antwort, alle ausgewiesenen Gerichte seien frisch verfügbar. So ordere ich denn mit einer gewissen inneren Unruhe „Brain Massala“ mit Cashew-Reis. Beide Gerichte erweisen sich als Punktlandungen, besser geht es wohl kaum. In mir werden Erinnerungen wach an Hausschlachtungen in meiner Kindheit. Immer wenn das Schwein an der Leiter hing und der Metzger es halbierte, kam mein Einsatz. Wenn er mit dem Beil den Schädel des armen Vieches in zwei Hälften gespalten hatte, durfte ich mittels Löffel das noch warme Gehirn entnehmen. Mit einer halben Zwiebel, etwas Salz und Pfeffer entstand so im Tiegel in wenigen Minuten eine meiner Leibspeisen, die es pro Saison leider nur 2-3 Mal gab. Und jetzt das! Da verschmerze ich gern, dass es in diesem Restaurant kein Bier dazu gibt. Egal, im November bin ich wieder mit einer neuen Gruppe da.

Indian Railways

Für Peter, den Eisenbahn-Freund in unserer Gruppe ist einer der Gründe für die Tour die enthaltene Bahnfahrt mit dem Shantabi-Express durch den Konkan, jene gut 700 km lange Strecke, die die Inder eigenständig durch Berge und über Flusstäler getrieben haben. Sie gilt unter Eisenbahnliebhabern als ingenieurtechnische Meisterleistung, als eines der „Must have done“, was man also zumindest einmal im Leben getan haben sollte. Bei unserem sonntäglichen Spaziergang lassen wir uns bewusst viel Zeit, um auch den imponierenden Weltkulturerbe-Bahnhof Bombays CST (Chhatrappati Shivaji Terminus) zu bestaunen. Hier gelingt es Peter, eine im 21. Jahrhundert kaum für möglich gehaltene Eroberung zu machen. Es ist die eines Kursbuches der Southern Railways, aus welchem u.a. der genaue Verlauf der Konkan-Strecke samt ihren Haltepunkten und Abfahrtzeiten hervorgeht.

Da der CST sehr weitläufig ist, sind wir am Montagmorgen knapp eine Stunde vor der geplanten Abfahrt um 07:10 Uhr am Bahnhof. Der Zug ist bereits ausgewiesen, jedoch fehlt noch die Zuordnung des Bahnsteiges. Wie viele andere um uns herum versammeln wir uns vor den einschlägigen Informationstafeln. Als die planmäßige Abfahrtzeit fast erreicht ist übersetzen freundliche Inder für uns eine Ansage, wonach die Einfahrt des Zuges sich verzögere. Kurz vor 08:00 Uhr lesen wir dann auf der Info-Tafel trocken und kommentarlos, dass unser Zug um 11:30 Uhr von Gleis 14 abfahren wird. Da wir es eh nicht ändern können, nehmen wir die Botschaft positiv und nutzen die verbleibende Zeit ein jeder auf seine Weise.

Gerade der Montagmorgen ist auf diesem Bahnhof unglaublich spannend und voller Motive für den, der ein Auge dafür hat. Ich halte mich über eine Stunde da auf, was sie in Frankfurt die „Fressgass“ nennen, auch wenn mein leckeres indisches Frühstück nach 5 Minuten verzehrt ist. Und für unsere speziellen Eisenbahnfreunde sind selbst die drei verbleibenden Stunden viel zu kurz. Gegen 11:00 Uhr treffen wir uns alle vor unserem Waggon und studieren die übliche „Reservation List“ an der Einstiegstür. Die Transkription der vorab übermittelten deutschen Namen hat schon zu so mancher Verballhornung dieser unserer schönen Namen geführt. Auch heute werden wir nicht enttäuscht, auch wenn alles erstaunlich nahe an der Wahrheit verläuft. Wir haben also die Ehre, mit den Herren Michael Jagger und Peter Forester zu reisen. Ein Dank an die Kultur der Umlaute in unserer Muttersprache, ohne die diese Stilblüten an uns glatt vorbei gegangen wären.

Die Fahrt beginnt mit knapp viereinhalb Stunden Verspätung exakt um 11:31 Uhr. Wir werden bestens versorgt, phasenweise extrem heruntergekühlt und genießen bis zum Sonnenuntergang an den stets offen Türen der Waggons das vorbei fliegende vielfältige Panorama der Konkan-Region. Kurz nach Mitternacht erreichen wir, viel zu früh für unseren überraschten Abholer Josey, dann den Bahnhof von Margao. Egal, wir können ein weiteres Mal das pulsierende Leben Indiens studieren, hier in Form der Räumung eines durch schlafende Wartende belegten Bahnhofsvorplatzes durch die gar nicht zimperliche Polizei. Und bevor wir dann tatsächlich ins Hotelbett am goanischen Strand fallen gibt’s sogar noch ein eisgekühltes Kingfisher-Bier bei Vollmond an der längst geschlossenen Pool-Bar als Absacker. Was für ein Tag! Was für eine Tour bis hierher. Und das Radfahren soll erst noch losgehen.

Endlich auf dem Rad

Am legendär langen Colva Beach im Süden Goas geht es nach einer sehr kurzen Nacht endlich auf die Räder. Die Gezeiten geben wie immer die Richtung unserer Gewöhnungsrunde vor. Bei einsetzender Ebbe fahren wir zunächst auf der Küstenstraße durch die Fischerdörfer gen Süden. Nach der obligatorischen Erfrischung in einer der relaxtesten Locations von ganz Goa, dem Blue Whale in Cavelossim direkt an der Mündung des Sal-Flusses in die Arabische See, schieben wir unsere Rösser über die Düne an den nun wasserfreien zementharten Strand. Los geht’s zurück nach Colva. Soll es zumindest gehen, geht es aber nur unter erheblichen Kraftanstrengungen. Warum? Weil das Tief vom vorhergehenden Wochenende hier noch einen bösen Nordwind dagelassen hat, der die kommenden 15 km nicht für alle zu dem erhofften Genuss werden lässt. Arbeiten ist angesagt und ich erfahre gleich einiges über die individuellen Ausprägungen meines Teams. Wenigstens hat die Sonne der letzten Wochen die sonst auf der Strecke ins Meer fließenden Priele versiegen lassen, so dass wir heute keine der mitunter unangenehmen Durchfahrten bestehen müssen. Entsprechend geringer fällt am Nachmittag auch der Pflegebedarf an den Rädern aus, worüber Josey und ich nicht wirklich traurig sind.

Auf dem Weg nach Palolem kommen die ersten Berge am kommenden Morgen für alle von uns dann doch arg früh. Der Respekt vor der Sonne verführt Jan dazu, sich über Gebühr mit Textilien dagegen zu schützen, was beim Klettern die ohnehin üppige Schweißabsonderung noch potenziert. Schon am nächsten Morgen wird er es besser wissen und den richtigen Mix gefunden haben. Unser Zielort ist wie immer ein Idyll, heute aber mit einer seltenen Besonderheit. In der Vollmondnacht bzw. am Nachmittag davor haben die Gezeiten ein unwirkliches, dafür aber für uns real erlebbares Ausmaß. Erstmals kann ich trockenen Fußes auf eine unbewohnte vorgelagerte Insel wandern und im Meer werden Felsen sichtbar, von denen wohl nicht einmal die einheimischen Fischer ahnten, dass es sie gibt.

Auf die „Bergetappe“ über das Fort Cabo da Rama nach Palolem folgt am nächsten Morgen wohl einer der idyllischsten Abschnitte. Zunächst fahren wir direkt am Meer durch Fischerdörfer und Mangrovensümpfe, um dann in den Wildpark von Cortigao einzutauchen. Hier sind wir allein in der Natur und auch das kurze offroad Stück zum Grenzbach nach Karnataka hin ist auf unseren Rädern gut zu bewältigen. Den weiteren Weg nach Süden haben wir bereits nach unserer Pilottour vor zwei Jahren auf nur noch einen Abschnitt auf dem National Highway 47 reduziert. Nun nehme ich besorgt massive Baumfällarbeiten auf dem Weg nach Murudeshwar zur Kenntnis. Aktuell sind die Vorboten der Fahrbahnverbreiterung noch so, dass unsere Tour nicht wirklich darunter leidet. Wobei, etwas mehr Schatten hatten wir in der Vergangenheit schon.

Das Tempo aber, welches die Inder anschlagen, wenn eine Entscheidung einmal gefällt ist, macht mir schlagartig bewusst, dass wir bereits im kommenden November, wenn die Tour erneut ansteht, hier nicht mehr mit dem Rad entlang fahren werden. Diese Entscheidung treffe ich quasi im Vorbeifahren. Natürlich werden wir auch künftig dem kolossalen Ensemble von Murudeshwar einen Besuch abstatten. Aber radeln werden wir dort nicht mehr, sondern Zeit gewinnen für einen weiteren Tag in den Backwaters. Auch ergeben sich für mindestens zwei weitere Reisetage neue Optionen, da sie künftig an einem anderen Wochentag gefahren werden. Insgesamt wird die Tour dadurch weiter gewinnen. Und. Natürlich bleibt es bei der Etappe von Palolem nach Karwar durch den Wald des Cotigao Wildlife Reservates.

Wie in den Reiseinformationen versprochen, erhalten unsere Teilnehmer aus dem stets präsenten Begleitfahrzeug neben Wasser auch täglich frisches Obst und am Wegesrand macht uns Josey mit der ganzen Bandbreite südindischer vegetarischer Snacks vertraut. Wer schon einmal hier war, dem brauche ich nichts über die hiesige köstliche Vielfalt des Radfahrer-Klassikers Banane zu sagen. Über 40 Arten davon soll es geben, viele von ihnen genießen wir im Wechsel und keine schmeckt so langweilig wie das, was in Europa unter diesem Namen angeboten wird. Mandarinen, Wassermelonen, Ananas und Papayas sind während unserer Saison von Oktober bis April auch ständig leckere Begleiter, meist so auf den Punkt gereift, dass viele nur deswegen gern mit uns unterwegs zu sein scheinen. Garantiert probieren wir den Saft und das junge Fruchtfleisch der frischen Kokosnüsse. Nicht fehlen darf natürlich der frisch gepresste Zuckerrohrsaft, immer ohne Eis, aber unbedingt mit Ingwer und Zitrone. Der hat noch den müdesten Radler ins Tageszeil gebracht. Im März wird das ohnehin üppige Angebot noch um einige saisonale Highlights erweitert, was den einen oder anderen dann schon mal ratlos werden lässt. Wie esse ich eigentlich Granatäpfel am besten und was zum Teufel mache ich mit diesen braunen Sapota genannten Kugeln? Bei uns lernt man es. Wie auch den Genuss der angeblich größten Frucht der Welt, der reifen Jackfruit. Ende März beginnt dann hier im Süden endlich die Zeit für die Königin aller Füchte in Indien – die Mango. Auch die gibt’s als Salat oder in Stücken oder als dicken frischen Saft. Und vieles andere mehr. Radfahrerherzen schlagen höher. Und trotzdem bleibt für viele von uns am Abend ein ayurvedischen Getränk namens Kingfisher der krönende, weil verdiente Abschluss eines garantiert immer heißen Tages.

Nach den „Helden“ der November-Tour 2014, die keinen Berg auslassen konnten, gehen wir es im klimatisch deutlich anspruchsvolleren März entsprechend ruhiger an. Den Aufstieg nach Agumbe verbringen wir im Begleitfahrzeug und über den brutalen Ritt hoch nach Ooty denken wir nicht einmal ernsthaft nach. Wir genießen einfach Menschen, Natur und all die Sehenswürdigkeiten am Rande der Strecke. Radfahrerisch ist es noch immer keine Spazierfahrt und es bleibt auch so täglich schweißtreibend.

In den Bergen der Western Ghats erleben wir ein wahres Festival für die Sinne. Die Kaffeeplantagen am Rande sind jetzt im März wieder in voller Blüte. Die weißen Büschel, aus denen sich später die Kaffeekirschen bilden werden, thronen wie Schneebälle auf den Zweigen und bilden einen wunderbaren Kontrast zu den dunkelgrün lackiert wirkenden Blättern. Abertausende von Bienen verrichten ihr Werk und die Luft ist von einem betörenden Jasminduft erfüllt. Schöner kann es im Paradies auch nicht sein!

In Sringeri nehmen wir uns erstmals Zeit für den örtlichen Hindutempel. Durch seine Bauweise und vor allem seine Lage an einem Fluss gegenüber dem Regenwald ist er ein wahres Kleinod, welches viele Pilger anzieht, die den hier zu Hunderten an den Stufen wartenden Karpfen huldigen. Außer uns gibt es keine Europäer hier. Dafür aber Tempelelefanten, die Vorbeikommenden mit dem Rüssel quasi ihren Segen verabreichen, was von den Indern und auch uns gern in Anspruch genommen wird. Lediglich, als sich eine der stattlichen Damen mit ihrem geschickten Rüssel meines Ipads bemächtigen will, mache ich mich schleunigst auf den Rückzug.

Wenig später am wegen seiner filigranen Steinmetzarbeiten berühmten Tempel von Halebid ist es eher das unbedachte Agieren einiger aus der Gruppe, welches uns in Bedrängnis bringt. Hier sind es lästige Souvenirverkäufer, die willige Opfer gefunden haben und wohl das Geschäft des Jahres mit uns machen. Sei es drum, alle haben wir unseren Spass. Die anschliessende längste Etappe der Tour führt uns von Hassan über das intensiv landwirtschaftlich genutzte Deccan-Plateau in die Stadt der Maharajas von Mysore. Trotz der Höhe bleibt es wegen der oft direkt auf uns nieder sengenden Sonne anstrengend. Umso schöner, dass es am folgenden Morgen in den berühmt-berüchtigten dreirädrigen Auto-Rikschahs hinauf auf den für die Stadt so bedeutenden Chamundi-Berg geht. Auch hier stimmt unser Timing und wir werden Zeuge einer hinduistischen Prozession mit einem der großen prächtig herausgeputzten Wagen, der ausschließlich durch die Muskelkraft der zunehmend in Ekstase geratenden männlichen Gläubigen bewegt wird. Beeindruckend!

Diese Bewertung trifft mit Sicherheit auch auf das zu, was wir bei unserer weiteren Fahrt hinauf in die zum Projekt Tiger gehörenden Wildreservate von Bandipur und Mudumalai erleben. Bei der Einfahrt in letzteres versucht uns ein Posten der Waldverwaltung zunächst mit dem Hinweis, dass Wandern und Radfahren nicht erlaubt seien, daran zu hindern. Tatsächlich wird empfohlen, auf beides zu verzichten. Nach kurzer Diskussion finden wir mal wieder eine sehr indische Lösung. Der Posten hat uns seine von den Vorgesetzten geforderte Version übermittelt und bedeutet uns, indem er sich sehr intensiv in seine Sonntagszeitung vertieft, dass wir bitte aus seinem Gesichtsfeld verschwinden mögen. So tun wir es dann umgehend.

Bei den folgenden Wildbeobachtungen zu Fuß, vom Rad oder aus dem Jeep fällt uns auf, wie sehr die Tiere an den Zivilisationslärm gewöhnt sind. Auf diesen reagieren sie meist nicht mehr. Wohl aber versetzen wir fast lautlose Radfahrer sie in helle Aufregung. Mit uns können sie nichts anfangen, das haben sie noch nicht erlebt. Schön zu sehen und doch schade. Gerade hier brauchen wir dringend weniger Autolärm und mehr behutsamen Tourismus zu Fuß oder auf dem Rad. Und weniger Müll natürlich!

Beim Warten an einer vielversprechenden Stelle zieht mitten im Nationalpark anstelle der erhofften wilden Tiere minutenlang Plastikmüll auf dem Bach an uns vorbei. Wir sind entsetzt ob dieses Verhaltens einiger Krimineller. Es ist nicht akzeptabel und konterkariert auch eine andere Beobachtung. Denn Indien wird an vielen Orten tatsächlich spürbar sauberer, die Initiativen der neuen Regierung scheinen erste Früchte zu tragen. Gut so und umso schlimmer ist das, was wir hier sehen. Zum Glück sehen wir auch die, weshalb wir hier sind. Zumindest einen der Elefanten und einige seiner nicht minder imposanten Gefährten des Waldes.

Die einzige durch den Wald führende Straße ist vernünftiger Weise während der Dunkelheit für den Verkehr gesperrt. Im Ergebnis führt dies jeden Morgen aber zu einer Rush hour, in welcher sich dutzende von Trucks, Bussen und anderen Gefährten laut- und abgasstark durch die Natur wälzen. Unter ihnen sind notgedrungen auch wir, die wir unseren weiteren Weg nach Kerala fortsetzen. Das ist zwar nicht optimal, hat aber auch Gutes. Erneut sind die Trucks eine Art Schutzwand, als urplötzlich ein ausgewachsener Elefantenbulle am Straßenrand auftaucht. Die Trucker stoppen sofort respektvoll und rufen mir aufgeregt „Elefant, Elefant!“ zu und tatsächlich schreitet der Herr des Waldes in diesem Moment keine 20 Meter vor mir ungerührt durch eine Lücke zwischen zwei Trucks und ist sofort auch wieder im dichten Bambus verschwunden. Welch ein Moment!

Ganz so spektakulär wird es dann im ländlichen Kerala nicht mehr, aber erlebnisreich geht es allemal weiter. Besonders der letzte reguläre Abschnitt von Cochin nach Alleppey wird uns in Erinnerung bleiben. Es ist der 19. März und die hier mehrheitlich beheimateten Christen begehen mit großer Hingabe den Tag des heiligen Joseph. Egal, wohin wir kommen, die Kirchen sind übervoll, die Ortschaften und die Menschen herausgeputzt und alle freuen sich auf das opulente Essen, welches nach den Gottesdiensten gemeinsam mit Nachbarn und Freunden, auch denen aus der hinduistischen oder muslimischen Gemeinschaft, eingenommen wird. Natürlich erhalten auch wir eine Einladung, die wir schweren Herzens ausschlagen, da unser gebuchtes Hausboot schon wartet. Schade zwar, aber alles geht halt nicht. Übrigens ist der Tag kein offizieller Feiertag. Da er aber von allen so intensiv begangen wird, ruht faktisch das gesamte gesellschaftliche Leben. Keinen stört es. Im Gegenteil, alle genießen diesen Tag des friedlichen Miteinanders.

Erwartungsmanagement

Bei einer dreiwöchigen Reise gibt es immer einmal Momente, wo es nicht so ganz optimal läuft. In diese Rubrik muss ich wohl unseren Abend in Murudeshwar einordnen, zumindest aber das Abendessen. Eigentlich ist alles bestens angerichtet. Wir treffen uns im Garten unseres Hotels zum Abendessen. Die umfangreiche Speisekarte enthält einige vegetarische Verlockungen, die man nicht so oft erhält. Diese haben es mir sofort angetan. Alle bestellen wir heute selbst. Ich bin als letzter an der Reihe und äußere frohgemut meine Wünsche. Zu beiden gewünschten Gerichten teilt mir der Kellner emotionslos mit, dass sie heute nicht verfügbar seien. Ich dringe tiefer in die Karte ein und äußere Alternativwünsche. Die gleiche Antwort. Da ich die gewünschten Gemüse beim Weg zum Hotel wenige Minuten vorher auf dem Markt sah, biete ich an, diese selbst schnell zu kaufen und in der Küche zubereiten zu lassen. Auch das lehnt er, quasi als Majestätsbeleidigung ab. Darauf werfe ich die Speisekarte frustriert zurück auf den Tisch. Sie segelt aber übers Ziel hinaus und fällt auf den Rasen. Ich teile ihm mit, dass ich unter diesen Umständen nicht zu Abend essen werde und verkompliziere damit die Situation für alle unnötig. Der beleidigte Kellner zieht mit den Bestellungen der anderen ab. Die Speisekarte aufzuheben ist jenseits seiner Würde.

So sitzen wir am Tisch und nichts geschieht. Die stolzen Inder bewegen sich keinen Millimeter und tun gar nichts. So rappele ich mich auf, gehe in die Küche und bitte darum, wenigstens die georderten Gerichte zu servieren. Wenigstens soll die Gruppe nicht unter der von mir forcierten Eskalation leiden. So wird denn wenig später das Essen serviert, die anderen genießen es und ich bleibe zumindest bei Tisch, bis sie fertig sind. Ich selbst rühre nichts an. Später gehe ich dann noch in ein auch kurz vor 22:00 Uhr noch überfülltes Lokal der Einheimischen mit der komplett verfügbaren Karte und genieße mein verspätetes Abendessen.

Was habe ich nun gelernt aus dieser unnötig von mir auf die Spitze getriebenen Situation? Wie anderswo auch sollte man gerade bei aufgeblähten Speisekarten von Hotelrestaurants seine eigenen Erwartungen im Zaum halten. Besser ist es, erst einmal nach den Tagesangeboten oder besonderen Empfehlungen zu fragen und die Verfügbarkeit von Besonderheiten vorab zu klären, als alles, was da geschrieben steht als gegeben vorauszusetzen. Dies hätte mir meinen Frust und den Serviceleuten eine für sie nicht lösbare Situation erspart. All das hätte ich eigentlich wissen müssen. Hoffentlich beherzige ich es, falls ich mal wieder in eine ähnliche Situation gerate. Zumindest in Indien werde ich das nach Kräften zu verhindern wissen, und mich wie so oft in der Vergangenheit mit Vorliebe außerhalb der abgehobenen Gastronomie dort verköstigen, wo es die einfachen Leute tun.

Terminmanagement

Der Tempel von Murudeshwar, besonders sein über 80m hohes Eingangstor, sind zwar weithin sichtbar, aber aus gutem Grunde (noch) in keinem Reiseführer zu finden. Der ganze Ort profitiert von einem reichen Bürger, der sich auf verschiedenste Weise in fragwürdigen Bauwerken verwirklicht hat, so dem Tempel-Neubau und dem angehängten Disney-ähnlichen Hügel mit der übergroßen Shiva-Statue. Ein Gast aus Bayern bringt den Vergleich mit König Ludwigs Schloss Neu Schwanstein. Seinerzeit dachten alle nur, der Typ spinne, und heute ist es einer der größten Tourismusmagneten Bayerns. Vielleicht geht das ja hier auch in diese Richtung. Zumindest der Fahrstuhl hoch in die 18. Etage des Turmes ist einmalig und spricht für einen klaren kommerziellen Blick des Mäzens. Warten wir es mal ab, ob neben uns in Zukunft noch andere Nichtinder Station hier machen werden?

Aber noch ein anderer Fakt ist interessant am Tempel und seinem Turm. Dort prangt nämlich eine große Tafel, die das Datum seiner Eröffnung auf einen Tag im Jahre 2008 um exakt 11:22 Uhr vormittags wiedergibt und nur höchste hinduistische Priester als Ehrengäste aufführt. Das macht neugierig. Auf Nachfrage erfahre ich, dass das gesamte Ensemble schon in den 1980er Jahren geplant und mehrere Jahre vor der feierlichen Einweihung baulich fertiggestellt war. Warum dann diese unnötige Zeitspanne zwischen beiden Terminen?

Aus Sicht der Hohen Priester ist das ganz einfach. Aufgrund der Wichtigkeit des Tempels mussten verschiedenste Voraussetzungen, besonders bezüglich der Stellung der Gestirne und weiterer kosmischer und anderer Einflüsse für die feierliche Eröffnung gegeben sein. Dies war aus ihrer Sicht erst an jenem Tag gegeben. Und so wurde dann auch gehandelt. Was sind vor der Geschichte schon einige Jahre?

Kurios ist in unseren Augen auch die Geschichte der Freigabe für den Verkehr der in Goa 2012 fertig gestellte Brücke über den Sal-Fluss. Auch dort dauerte es fast zwei Jahre, ehe sie durch den Premierminister offiziell ihrer Bestimmung übergeben wurde. Der Grund für die Verspätung in diesem Falle könnte Politikern im Westen Beispiel oder zumindest Argumentationshilfe sein. Es heißt, dass der Landesvater schlicht keinen früheren Termin finden konnte für diesen höchst wichtigen Akt. Vielleicht sollten die stressgeplagten Aufsichtsräte des neuen Berliner Flughafens angesichts dieser Sachlage entspannen, denn wer weiß schon, ob Frau Merkel nach der einmaligen Absage der Eröffnung so schnell einen Ausweichtermin findet, bzw. wer das dann, wenn es einmal so weit sein sollte, überhaupt machen könnte oder möchte?

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Was fällt mir beim Radeln in diesem Jahr 2015 besonders auf? Weiterhin verbessern sich die Beläge der Straßen, auf denen wir fahren, von Tour zu Tour. Dies ist in vielen Fällen toll. In anderen, da wo die Straßen zu 4-spurigen Highways ausgebaut werden, wird es uns in Kürze auf neue Routen zwingen. Und in den Backwaters von Kerala verändert es gar das über Jahrhunderte gewachsene Gesicht der Region. Immer mehr schwarze Asphaltbänder machen die einzigartigen Kanäle als Transportwege überflüssig. Für uns Radler hat das viel Gutes. Wir rollen auf guten Straßen und wenn es zu dick wird, können wir auf die schmalen Pfade auf den Deichen ausweichen. Es ist eine sehr spezielle Erfahrung. Machen auch Sie diese und seien Sie dabei bei einer unserer kommenden Touren im zauberhaften Süden Indiens!

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