Trubel, Tempel, Tee und mehr…

Eine Radtour durch das vielfältige Land der Tamilen, die alle Sinne berührt, mitunter auch überstrapaziert. So die etwas erweiterte Fassung des Untertitels unserer soeben beendeten 3-wöchigen Tour durch eben dieses faszinierende Land ganz im Südosten des indischen Subkontinents. Angeregt zu dieser Erweiterung des Titels werden wir durch Dieter, den bald 80-jährigen Nestor in unserer Gruppe. Er hat keinen einzigen der 825 km der Tour verpasst und gelassen auch den Weg hinauf in die Höhen der Western Ghats genommen, dorthin wo der Pfeffer, viele Gewürze und beste Tee- und Kaffequalitäten wachsen. Der Name „Tamilische Tempel-Tour“ sei schlichtweg zu eng gewählt und würde die Vielfalt dessen, was uns begegnet nicht annähernd widerspiegeln. Auch könnte er potentiell Interessierte von einer Teilnahme abhalten, da sie keine reine Kulturreise, sondern eben eine Radtour mit einem viel breiteren Erlebnisspektrum suchten und dieses ja auch erführen.

Recht hat er, der Dieter und so wird die Reise unter neuem Titel künftig hoffentlich noch viele begeisterte Mitfahrer finden.

Erstmals starten wir in diesem Jahr im Oktober, wenn der Südost-Monsun aus der nahen Andamanen-See erwartet wird. So nimmt es denn nicht Wunder, dass wir am Abend unseres Ankunftstages nach einem erfrischenden Spaziergang entlang des immer gut von Abkühlung suchenden Einheimischen besuchten Marina Beach in der Metropole Chennai von einem tropischen Gewitter heimgesucht werden. Dieses läßt in seiner Urgewalt und den in kürzester Zeit niedergehenden Wassermassen Schlimmes für die bevorstehenden Radfahrtage befürchten.
Am kommenden Morgen scheint wie gewohnt die Sonne. Trotzdem ist es anders als im Januar/Februar, wenn wir üblicherweise hier unserer Leidenschaft frönen. Es ist die ungewöhnlich hohe Luftfeuchtigkeit, die uns zu schaffen macht. So kannten wir das sonst zwar heiße, aber eher trockene Klima hier noch nicht. Hinzu kommen die sich offensichtlich potenzierenden Bauarbeiten zur Erweiterung besonders der Verkehrs-Infra-Struktur sowohl in Chennai selbst als auch in der sich südlich und südöstlich anschließenden Sonderwirtschaftszone bis hinunter nach Mahaballipuram. Der gerade stattfindenden Explosion des Individualverkehrs wird in Form des ausschließlichen Ausbaus von breiten Mehrfachfahrspuren für Autos Rechnung getragen. Wir Radfahrer spielen in den Überlegungen der Verkehrsplaner keine Rolle. Wieder einmal werden die Fehler des Westens unüberlegt nachgeahmt. Schade!
Immerhin, einen Lichtblick gibt es auch hier. Die Stadtverwaltung von Chennai hat während unseres Aufenthaltes beschlossen, jeglichen Kfz-Verkehr von der Marina zu verbannen. So bleibt wenigstens diese Oase am Meer künftig von weiteren Abgasen verschont. Überhaupt ist sie seit unserem letzten Besuch im Januar insgesamt deutlich sauberer geworden. Dieser Eindruck wird sich im weiteren Verlauf der Tour immer wieder bestätigen und wir heben dies gern hervor. Wenngleich – die noch zu bewältigenden Aufgaben sind immens und werden der Gesellschaft und jedem einzelnen Inder noch gewaltige Anstrengungen abverlangen.

Wir besteigen aus den genannten Gründen unsere Räder erst am nächsten Tag im 50 km südlich gelegenen und sich immer mehr zum Touristen-Hotspot wandelnden Mahaballipuram. So etabliert sich neben denn unverändert beeindrucken Weltkulturerbe-Stätten der übliche Mix von Tandläden, westlich angehauchten Cafes und Restaurants. Äußerst unangenehm bleiben uns einige traditionelle Töpfer in Erinnerung, die für ihre Produkte Mondpreise fordern und nicht daran denken, ihre Handwerkskunst zu demonstrieren, bevor geradezu unverschämt hohe Beträge gezahlt werden.
Zum Glück sind die hier seit Jahrhunderten ansässigen Steinmetze von einem anderen Kaliber. Sie laden uns mit traditioneller indischer Freundlichkeit ein, sie beim Entstehen ihrer Meisterwerke zu beobachten. Letztere können zu für beide Seiten vernünftigen Preisen erworben werden. Da sie oft viele kg schwer sind, kann man sie sich auch an die Heimatadresse schicken lassen.
Unbedingt erwähnenswert ist die umwerfend gute vegetarische Küche in den Hotelrestaurants des „New Woodlands“ in Chennai und noch mehr im Dachgarten des Mamalla Heritage Hotels in Mahaballipuram. Da kommt Vorfreude auf, die in den kommenden drei Wochen auch meist nicht enttäuscht, dafür oft übertroffen wird.

Erstmals Ernst wird es nach dem entspannten Einrollen auf der fast 100 km langen und dabei heißen Tagesetappe nach Pondicherry. Am Morgen passieren wir die Baustelle eines von mehreren AKW, die derzeit in Indien mit russischer Hilfe gebaut werden, um den immensen Energiebedarf der expandierenden Volkswirtschaft zu decken. Möge nur alles in sicheren Bahnen ablaufen und zum Wohle der Menschen. Argwöhnisch bedeuten uns Heerscharen von Sicherheitsleuten, hier ja keine Fotos zu machen. Wir sind weit davon entfernt, vielmehr sind es die zahlreichen Lagunenlandschaften
entlang des Meeres mit Pelikanen, großen Flamingo-Populationen und vielen kleineren Reihern und dem stets präsenten Kingfisher (Eisvogel), die es uns antun.
Ungläubig nahezu verfolgen wir auch die Salzernte in einer weiteren Lagune. Mir fehlt es jedenfalls an Phantasie mir vorzustellen, was die – meist – Arbeiterinnen in dieser Glut leisten. Hochachtung und Unverständnis ringen in mir.
Da es immer wieder Schatten gibt und es absolut flach bleibt kommen wir gut voran und auch nicht zu kaputt in der ehemaligen französischen Enklave an. Unser Zeitplan will es so, dass wir am Samstag eintreffen und so das Wochenende hier verbringen werden. Wir wohnen im Ajantha Seaview Hotel, dem letzten kolonialen Charme versprühenden Hotel direkt an der vom Abend bis zum kommenden Morgen für den Verkehr gesperrten Uferpromenade. Dafür wird diese dann von Hunderten Fitness-Freaks und Tausenden Flanierenden in Beschlag genommen. Und wir geniessen das beeindruckende Privileg, alles von unseren Balkonen beobachten zu dürfen – ein wenig wie damals Fürst Rainier in seinem Monaco…
In der sogenannten „weißen Stadt“ gibt es wohl noch einige französische Institutionen, französische Straßennamen und Polizei-Kopfbedeckungen, aber das kann nicht überspielen, das wir uns in einer typischen tamilischen Stadt befinden – laut, farbenfroh und nicht wirklich sauber. Ein Beleg dafür ist unsere versuchte Durchfahrt mit den Rädern auf der sonntäglich zu einem Flohmarkt mutierenden Haupteinkaufsstrasse, der MG road. Diese brechen wir ab, weil es schlichtweg kein Durchkommen gibt.
Bereits davor haben wir einen morgendlichen Ausflug ins ländliche Auroville unternommen, der uns sehr nachdenklich macht. Seit 1968 versuchen hier Angehörige aus 45 Ländern die Ideen Sri Aurobindos von einem friedlichen menschlichen Zusammenleben jenseits religiöser, kultureller oder nationaler Grenzen zu leben. Trotz erheblicher Mittelzuflüsse handelt es sich weiterhin um eine nur gut 1.300 Mitglieder zählende Gemeinschaft weit weg von den ursprünglich geplanten Zahlen. Immerhin ist es ihnen gelungen, mit jahrzehntelanger Verspätung den Matrimandir, das spektakuläre Meditationszentrum, fertigzustellen. Wir bewundern es mit anderen Tagesausflüglern, erhalten jedoch keine Möglichkeit, mit diesen Eigenbrödlern in persönlichen Kontakt zu kommen. Den erlauben sie nur Leuten, die sich länger bei ihnen aufhalten und einbringen wollen. Schade eigentlich und etwas an der Realität vorbei, aber so wollen sie es offensichtlich.
Am Montagmorgen planen wir einen frühen Start ein, um der aufkommenden Hitze des Tages etwas von ihrer Wucht zu nehmen. Als wir uns fertig machen setzt urplötzlich ein Morgengewitter ein und zwingt uns für fast 3 Stunden zur Untätigkeit. Immerhin können wir so zumindest gut gesättigt mit einem fast kompletten English Breakfast in die Pedalen treten. Auf überfluteten und schlammigen Straßen wird es dann kurz darauf sehr spannend für uns, geraten wir doch in die morgendliche Rushhour, die wir eigentlich vermeiden wollten. Nur gut, dass wir so spät dran sind. Gerade v
or den Schulen, wo jetzt die Kinder massenhaft eintreffen und minutenlang kein Durchkommen ist, erleben wir einige der spannendsten und am meisten authentischen Momente der Tour.

An der langen Reihe der Schnapsläden und endlich dem eindrucksvollen Portal erkennen wir die erneute Grenze Pondicherrys zum Tamilenland. Jetzt sind wir wirklich auf dem Lande, dort wo es nicht mehr indischer, konkret tamilischer werden kann. Schon weit vor Chidambaram erkennen wir die eindrucksvollen Gopurams (Eingangstore) des den Shivaiten heiligen Nataraja-Tempels, welcher Shiva in seiner Eigenschaft als Weltgott des Tanzes gewidmet ist. Hier wie auch in den wunderschönen alten Tempeln von Kumbakonam am kommenden Tage fällt uns vor allem die Geschäftstüchtigkeit der die Tempel führenden Brahmanen auf. Selbst wir Nicht-Hindus dürfen in einigen Fällen bis in das Heiligste der Tempel, wenn denn der Geldschein die rechte Größe hat. Egal, für uns ist es beeindruckend und wir glauben fest daran, etwas Gutes für das Fortbestehen der Tempel getan zu haben. Wir geben es gern und die Beträge sind für uns eher unerheblich. Durch die frisch aufgetragenen Farben kommen im ehrwürdigen Nageshwara-Tempel aus dem 12. Jahrhundert opulente erotische Darstellungen ungewohnt drastisch neu zur Geltung. Diese lassen so manche jungen indischen Besucher verschämt zur Seite blicken.
Leise Zweifel kommen mir dann doch im Sarangapani-Tempel von Kumbakonam. Bei jedem meiner vorherigen Besuche habe ich eifrig Futter gespendet für die einst 37 Kühe des Tempels samt ihren Kälbern. Nunmehr ist der Kuhstall nur noch von 10 eher bemitleidenswerten Kreaturen bewohnt. Da ist wohl zu vieles, wie anderen Ortes in Indien auch, in die privaten Taschen der Brahmanen geflossen?
Aber schon am nächsten Tage in der einst wichtigen Königsstadt Thanjavur ist die Welt wieder in Ordnung. Im 1.000-jährigen Brihadishwara-Tempel, der als einer der wenigen ganz ohne Bemalung auskommt, entdecken wir im Südteil des Geländes eine gesunde Population heiliger Kühe, die noch dazu von 2 imposanten Stieren betreut wird. Wir geniessen es, am Abend sowohl das spirituelle,wie auch das musikalische Geschehen unterhalb der frisch renovierten Nandi-Statue verfolgen zu dürfen.
Bewußt bleiben wir einen Tag länger In Thanjavur, um auch dem alten Königspalast, oder was davon noch übrig ist, einen Besuch abzustatten. Mit dem Komplexticket kommt man in die verschiedenen Bereiche. Zunächst bestaunen wir die alte königliche Empfangshalle, die seinerzeit ob ihrer Ausmaße und Farbenpracht die Untertanen mit Siicherheit gewaltig beeindruckt hat. Im Museum gibt es Unmengen von Plastiken und Bronzegüssen, die meist die hinduistischen Gottheiten darstellen. Für uns wird es in der königlichen Bibliothek besonders spannend, auch wenn wir die weltberühmten Sanskrit-Schriften nur ahnungslos bestaunen können. Wir sind beeindruckt von Atlanten und naturwissenschaftlichen Bänden aus der Napoleonischen Zeit in englischer, französischer und auch deutscher Sprache. So entdecken wir auf zeitgenössischen Karten Orte unserer näheren Heimat und erfahren, dass die Nordsee in jenen Tagen eher als „Deutscher Ozean“ bekannt war. Hätten Sie es gewusst?
Der abschließende Besuch des Glockenturmes verläuft kurios kurz. Zunächst kontrolliert uns eine Mitarbeiterin todernst und stempelt unser Ticket gewissenhaft ab und dann ist statt der erhofften 8 Stockwerke bereits nach 3 Stufen Schluß mit unserem Unternehmen. Wegen Baufälligkeit ist der Turm geschlossen. Einen Hinweis gibt es nur an der verschlossenen Aufgangstür. Incredible India!

Die Region wird uns auch wegen einiger kulinarischer und Service-Highlights unvergessen bleiben. Der in Tamil Nadu in großen Mengen und bester Qualität angebaute Kaffee wird in Kumbakonam zu einer regionalen Berühmtheit veredelt, dem Kumbakonam Filter Coffee – ein Genuss auch für verwöhnte europäische Genießer!
Die tamilische Nationalspeise Pongal, ein gewürzter, mitunter auch gesüßter Getreide-Milch-Brei, haut uns in einigen einfachen Lokalen am Wegesrand schier um und bleibt dann wieder in Frühstücksbuffets bester Hotels erstaunlich fad und langweilig.
Im Gnanam Hotel Thanjavur bemüht sich eine Riesenschar von Koch- und Kellner-Lehrlingen um unser Wohl. Meinem Curry fehlt sowohl die Würze als auch das Salz. Ich reklamiere und erhalte eine Verschlimmbesserung des Gerichtes zurück. Noch während wir essen präsentiert ein schüchternes Bürschlein ungefragt die Rechnung. Ganz so, wie es in der Straßengastronomie Südindiens üblich ist. Wir sind zunächst irritiert. Dann aber realisieren wir, dass der arme junge Mann nichts ahnt von seinem Fehlverhalten und brechen in herzliches Lachen aus. Dies wiederum irritiert unsere unsicheren jungen Freunde noch mehr. Wir erklären dem Service-Chef alsdann die Situation. Er entschuldigt sich, wir haben unseren Spass und die Lehrlinge wieder etwas gelernt, hoffentlich.
Beim Durchfahren dieser Region, in der verschiedene Arme des den Hindus heiligen Flusses Cauveri ein fruchtbares Delta bilden, auch bekannt als die Reis- und Gemüsekammer Südindiens, treffen wir einen außergewöhnlichen jungen Mann aus dem nordindischen Uttar Pradesh. Doch dazu mehr in einer gesonderten Geschichte, wie auch zu unseren Erlebnissen in der sich anschließenden Chettinad-Region und die auf einer Boots-Tour in den Backwaters von Kerala von Alleppey nach Kollam gesammelten Eindrücke.

Auf unserem Weg ins Chettinad nehmen wir wie immer die alte Landstrasse nach Pudukkottai, auch weil wir durch Dörfer kommen, die vom Anbau von Cashew- und Erdnüssen leben und wir deren Ernte und Verarbeitung erleben, frisch geröstete Ware probieren und mitnehmen können. Leider begegnet uns auch hier wieder der vermeintliche Fortschritt in Form von umfangreichen Arbeiten zur Erweiterung der Strasse in einen oft schattenlosen 4-spurigen Highway. Dies nun wissend machen wir uns gleich am Abend mit Hilfe eines einheimischen Freundes an die Erkundung einer alternativen Route auf diesem Teilstück für alle künftigen Befahrungen.
In Pudukottai selbst sind wir mal wieder in einem rechten Verkehrsgewusel gefangen, dessen Ursache sich jedoch sehr schnell als die Fahrrad-Demo von Studentinnen gegen die weitere Zerstörung der Umwelt und für den Erhalt des Lebensraumes vieler hier noch frei vorkommender wilder Spezies entpuppt. Laut klingelnd unterstützen wir ihr Anliegen natürlich begeistert. Dass sie unbedingt Recht haben mit ihren Forderungen erleben wir auf dem weiteren Wege. Nirgendwo sonst in Indien und auch hier nicht ist uns der Wappenvogel Indiens, der Pfau, in derartiger Anzahl begegnet.

Eine durchaus ernst gemeinte, uns dann aber doch erheiternde Anekdote erleben wir wenig später beim Besuch des Thirumayam-Forts, einer mittelalterlichen Befestigung auf einer Art kleinem Ayers Rock. Der diensttuende sehr dunkelhäutige tamilische Beamte erklärt unseren relativ hellhäutigen indischen Begleiter Josey doch glattweg zum Ausländer, nur um das für uns deutlich höhere Eintrittsgeld einfordern zu können. Es kommt zu einem kurzen Streit in der Landessprache. Aber erst nachdem Josey seinen indischen Führerschein vorlegt glaubt ihm sein Landsmann.
Einige Tage später sind wir in Madurai und nach dem Besuch der immer wieder beeindruckenden Tempelanlage von Sri Meenakshi und des erlebten intensiven Zelebrierens hinduistischer Rituale sind wir ob der Schwüle platt und besuchen den Dachgarten eines nahegelegenen Hotels, um in luftiger Höhe mit toller Sicht auf Altstadt und Tempel ein kühles Bier genießen zu können, Soweit der Plan. Die Umsetzung gestaltet sich dann etwas komplizierter. Just heute eröffnet gerade gegenüber vom Hotel ein neues Shopping-Center, was uns aufgrund des nochmals erhöhten Verkehrs- und damit Lärmaufkommens nicht verborgen bleibt. Das Restaurant- Management nutzt diese Chance für Mehrumsatz auf seine Art, in dem es tagsüber Sonderangebote für shoppingmüde Mütter und deren Töchter bereit hält. In der Konsequenz findet oben eine laute und nicht sehr ansehnliche
Massenfütterung statt und wir werden höflich, aber bestimmt in die tiefgekühlte Hotelbar verwiesen.

Zögernd nur bewegen wir uns dorthin. Umgehend werden wir jeder mit einem frischen Kingfisher-Bier und üppig mit vegetarischen Snacks und Salaten versorgt und sind begeistert. Während des Gesprächs gleitet mein Blick über die auf dem Tisch liegende Karte. Ich lese da etwas, was ich nicht glauben will und was mich beim zweiten Lesen laut auflachen lässt. Da steht doch allen Ernstes geschrieben, dass die maximale Verweildauer in der Bar eine Stunde beträgt. Für jede weitere angefangene Stunde werden pro Gast 300 Rupien fällig. Das ist ja wohl der Hammer! Keiner von uns hat so etwas jemals zuvor irgendwo auf der Welt erlebt. Unsere Heiterkeit legt sich aber recht schnell, realisieren wir doch den traurigen Hintergrund dieser Zeilen, der im unvernünftigen Kampftrinker-Verhalten der hiesigen Männer besteht. Passender Weise gibt es in dieser und in anderen indischen Bars auch keine Toiletten für Damen. Wieder einmal bestätigen sich in dieser Mittagsstunde das offizielle „Incredible India!“ als auch unser Firmenname „Indien Erfahren!“ auf sehr eindringliche Weise.

Auch auf unserem weiteren Weg finden wir zahlreiche Bestätigungen dafür.
Im Innenstadthotel von Kollam wird es zwar Abends in den Läden und auf den Straßen ungewöhnlich schnell ruhiger, dafür signalisiert uns der Glockenturm gleich gegenüber vom Hotel konsequent die komplette Nacht hindurch jede volle Stunde mit den obligaten megalauten Schlägen, unterstützt durch ein überlaut schäpperndes Musikeinspiel. Selten haben wir uns am Morgen so gut erholt und frisch gefühlt…
Security-Leute in Hotels und auf bewachten Parkplätzen weisen Fahrzeugführer beim Einparken grundsätzlich durch intensives Nutzen der Trillerpfeife in ihrem Mund ein. Gleiches tun auch die vermeintlichen Rettungsschwimmer an den Stränden, wenn die badenden Inder waghalsig bis zur Knietiefe im Wasser stehen. Beide Kategorien sind wohl des Schwimmens nicht kundig und gleichen dieses Defizit mal mit lebensfrohem Gejohle oder eben durch übertriebenes ohrenbetäubendes Gepfeife aus.
In vielen Tempeln sind inzwischen unmissverständliche mehrsprachige Hinweisschilder angebracht, die das Ausspeien untersagen und um die Einhaltung der Ruhe bitten. Auch hier sind es die allgegenwärtigen Aufpasser in den verschiedensten Kostümierungen, die sich daran wohl nicht zu halten haben. Als ich einem von ihnen bedeute, ebenfalls keinen Lärm zu verursachen, schaut er mich entgeistert an. Solch eine Majestätsbeleidigung kann nur von einem Ausländer kommen. Zumindest ist es für einen Moment wirklich still im Meditationszentrum des Vivekananda-Memorials am südlichsten Punkt Indiens in Kanyakumari.
Die Reihe von Beispielen ließe sich wohl unendlich fortführen, wenn ich nur an die mit Lautsprechern aller Größen, Formen und Herstellungsjahre vollgepackten Gefährte denke, die in jedem Wahlkampf Straßen und Orte noch lauter machen, als sie eh schon sind. Und Wahlkampf ist in der größten Demokratie der Welt (fast) immer. Und wenn mal wirklich keiner ist, gilt es auf religiöse Feste oder die Neueröffnung von Geschäften oder, oder, oder hinzuweisen.
Ich habe unlängst eine Studie gelesen, der zufolge Indien das weltweit am stärksten „lärmverschmutzte“ Land der Erde sei. Dem stimmen die Einheimischen bestimmt fröhlich und vor allem laut zu! Genauso begrüßen sie uns verrückte Radfahrer auf ihren Straßen und Plätzen. Es soll „Willkommen“ heißen. Also seien Sie alle auch künftig auf unseren Touren willkommen und stellen Sie sich bitte auf die hiesige Lautstärke ein, denn abstellen werden auch Sie sie nicht können.
Letztendlich aber ist das nur eine Seite, wenn auch eine mitunter fast schmerzhafte dieses faszinierenden Landes. Laut ist hier nicht nur lauter als anderswo, bunt ist auch bunter, scharf ist garantiert schärfer und die Schere zwischen arm und reich nirgendwo größer. Und trotzdem geht es in vielen ärmlich anmutenden Gegenden viel fröhlicher und optimistischer zu als in so mancher ängstlichen westlichen Wohlstandsfestung.

Überzeugen Sie sich, so Sie denn wollen, von „Incredible India“, begleiten auch Sie uns auf dem Rad und Sie profitieren ganz persönlich für Ihren Alltag von „Indien Erfahren“. Garantiert!

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