Chettinad – Land der Chettiar-Kaufleute

Es scheint eine ganz normale ländliche Gegend im indischen Südosten zu sein und ist doch ein Stück weit eine ganz andere, sehr spezielle. Es ist die Heimat eines der bedeutendsten Kaufmanns- und Bankiers-Clans Asiens, der Chettiars. Wieder einmal lassen wir uns auf unserer jüngsten Tour durch Tamil Nadu im Oktober im ruhigen Chettinad Court Hotel im Dorf Kanadukathan zwei Nächte Zeit, um das besondere Flair dieser Region auf uns wirken zu lassen.

Schwer zu sagen, warum sich in so einer abgelegenen Region fernab größerer Handelswege oder anderer begünstigender Faktoren Fähigkeiten entwicklen konnten, die dem Familienclan der Chettiars schon in alter Zeit, besonders aber Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu unglaublichem Reichtum verhalfen.
Einer der wenigen noch lebenden und auch hier wohnenden Nachfahren eines der maßgeblichen Clan-Oberhäupter präsentiert uns beim Besuch des noch immer prächtigen Familiensitzes und heute teilweise als Hotel fungierenden Chettinadu Mansion dazu seine Version.

Danach besagt die Legende, dass die Chettiars, die sich selbst lieber Nagarathars nennen, schon zu Zeiten der Chola-Herrscher im 12. Jahrhundert eine entscheidende Rolle im Geschäftsleben dieses berühmtesten aller südindischen Reiche gespielt haben. Sie sollen an den Küsten den Salz- und Edelsteinhandel dominiert haben. Erfolgreich in ihren Geschäften, erwarben sie sich den Respekt der Herrscher und knüpften mit ihrem ausgeprägten Geschäftssinn und angeborenem Talent für Handel zahlreiche Kontakte nach Übersee, vor allem in die Region des heutigen Malaysia. Als ihre Gemeinschaft immer größer wurde, errichteten sie westlich der Stadt Karaikudi neue Dörfer und Shiva geweihte Tempel.
Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Chettiars in einem Land wohlfühlten, das ihnen nicht viel zu bieten hatte. Offensichtlich war es ihr angeborener Geschäftssinn,der sie dazu drängte, mit Reis aus dem reichen Deltagebiet des Cauveri-Flusses zu handeln und Salz von der Koromandelküste ins Innere der Pandya- und Cholareiche zu bringen. Sie benutzten ihr Wissen über Diamanten und Edelsteine dazu, den Handel mit orientalischen Ländern aufzubauen. Die Geschäfte blühten, sie häuften Wohlstand an und errichteten Festungen, Wasserreservoirs und prächtige Herrenhäuser. Sie füllten ihre Häuser mit Reichtümern aus Übersee, eigneten sich weiter Land an, bauten Tempel und gemeinnützige soziale Einrichtungen, besonders Krankenhäuser. So verdienten sie sich nach eigenem Verständnis den bevorzugten Gemeinschaftsnamen Nagarathar (Stadt oder Volk der Stadtsiedlung).

In den von Briten, Franzosen und Holländern beherrschten Kolonialgebieten Südasiens waren die Chettiars ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Kolonialzeit und der Bildung unabhängiger Nationalstaaten Mitte des 20. Jahrhunderts ein wesentliches Element des Finanzhandels und eng mit den Mächten verbunden. Kein Wunder, dass sie nach der Erringung der Unabhängigkeit in Indien und anderen Staaten Südasiens ihre privilegierte Stellung verloren. Viele mussten Hab und Besitz verlassen, die meisten verließen auch das unabhängige Indien. Zunächst galt es für die neue Regierung, grundlegende Bedürfnisse der armen Massen in den Griff zu bekommen, Armut und Elend zu bekämpfen und ein funktionierendes Gesundheits- und Bildungssystem aufzubauen. Für die Superreichen aus der Kolonialzeit gab es keine Verwendung mehr.
So verfielen denn die Paläste der Chettiars. Das aggressive tropische Klima beschleunigte den Prozess noch zusätzlich. Erst nach Jahrzehnten des „Dornröschenschlafes“, unterbrochen hier und da durch die Nutzung als Kulisse für die indische Filmindustrie, erinnerte man sich mit dem Aufblühen des Tourismus des möglichen Wertes und der Bedeutung der Paläste für die Region.

Heute stellt sich dem Besucher in Kanadukathan schon ein bizarres Bild dar. Es wimmelt nur so an halbverfallenen Palästen. Dazwischen lassen das halbwegs intakte Chettinadu Mansion und 2-3 weitere zumindest äußerlich nett hergerichtete Prunkherbergen den (kitschigen?)Glanz früherer Tage erahnen. Einige kann man betreten, wo man sofort die Weite der schattigen Innenhöfe und den Luxus jener Tage spüren wird.
Sicher wird es nicht möglich sein, den Ort wieder in seiner alten Pracht aufleben zu lassen. Das ist auch nicht nötig. Die gemütliche Fahrt durchs Dorf mit dem Ochsenkarren, der Besuch einer auf alt gemachten Weberei oder der einer nahegelegenen Fliesen-Manufaktur und die Besteigung des Thirumayam-Forts auf dem Wege von/nach Pudukottai machen den Besuch auch in unseren Tagen interessant und reizvoll. Schon gibt es auch weitere Projekte für Hotelneubauten und Umwidmungen einiger der alten Kaufmanns-Paläste.

Und dann ist da noch die in ganz Indien berühmte Chettinad-Küche. Sie ist wirklich so extravagant, wie es die Chettiars wohl in ihrer Zeit selbst waren – wenn sie denn gut gemacht ist. Im Gegensatz zu vielen Hotel-Restaurants in Indien ist sie das hier. Sie ist oft nicht ganz so scharf wie im Umland, aber ungeheuer fein in der Abstimmung der verschiedenen Gewürze, die jedem Gericht eine wohldifferenzierte Eigenständigkeit verleihen. Auch beziehen sie im Kernland der vegetarischen Küche als quasi Alleinstellungsmerkmal das Fleisch von Wild, Lämmern und Rind in ihre Kreationen ein. Von den Europäern haben sie das Mehrgänge-Menü übernommen. Also darf man sich hier nach einigen Appetit anregenden kleinen Happen zu Beginn auf eine präzise abgestimmte Suppe und nach all den köstlichen Curry-Variationen abschließend auf raffinierte supersüße Desserts freuen.
Allein schon deshalb sollte man hier einmal Station machen!

Mit uns wieder auf dem Fahrrad im Februar und Oktober 2016!

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