Hirncurry, Husten und andere Highlights

(Gedanken zur Tour „Zauberhafter Süden“ im November 2015)

Bereits zum 6. Mal starte ich Anfang November nach Bombay, um meine Gäste für die bevorstehende Radreise „Zauberhafter Süden“ in Empfang zu nehmen. Vieles von dem, was wir in den kommenden Tagen wieder in Angriff nehmen werden kenne ich inzwischen gut und habe es auch in früheren blogs beschrieben. Alles Routine inzwischen, sollte man meinen. Dennoch beschleicht mich, noch als ich im Flieger von Cochin in die indische Businessmetropole sitze, eine gewisse Nervosität. Was werden das wohl dieses Mal für Typen sein – ausschließlich Männer! – , welche unerwarteten Themen werden auftauchen?
Und ich werde nicht enttäuscht. Unser Inlandsflug wird zum Internationalen Ankunftsbereich gebracht. Wir haben keine andere Wahl, als uns unter hunderte schwitzende Ankömmlinge aus dem wirklichen Ausland anzustellen. Nach einer knappen Stunde stehe ich endlich vor einem Einreisebeamten, der beim Anblick meines Inlandstickets und des bereits mit Einreisestempel versehenen Passes in große Ratlosigkeit verfällt, dann aber alle verfügbaren Vorgesetzten kontaktiert. Schließlich werde ich wie ein Krimineller von drei Uniformierten in ein Separee geführt. Mein Ticket wird abgestempelt, kein Wort des Bedauerns. Weitere folgende Kontrollierende hin zum Ausgang ignoriere ich einfach und sitze kurz danach endlich im Taxi nach Colaba…

Im Garden Hotel läuft dann alles wie gewohnt. Wir kennen und schätzen uns seit Jahren, stimmen die notwendigen Fragen kurz ab. Hier treffe ich sogleich erstmals auf Beat, einen sehr sympathischen und entspannten Schweizer, geringfügig älter als ich, auch schon Großvater, weit gereist und voller Vorfreude auf unsere gemeinsam Tour. Meine Anspannung verfliegt, er ist positiv ansteckend mit seiner angenehmen Art. In der Nacht hole ich zwei weitere Gäste ab. Alles läuft perfekt wie im Bollywood-Movie. So kann es weiter gehen. Geht es dann aber nicht.
Der Morgenflieger aus Dubai soll vier weitere Teilnehmer in die Stadt bringen. Sie hatten sich am Vortag noch per mail abgestimmt, so dass ich von einer Vierergruppe ausgehe, die ich suchen muß. Aber dazu kommt es nicht. Der erste von ihnen, Thomas, ist schneller als vermutet an meiner Seite neben Hunderten von Indern, die hier auf ihre Lieben warten. Aber dann verstreicht die Zeit und keiner meiner Radfahrer will erscheinen. Endlich klingelt wenigstens mein Mobiltelefon. Als ich die SMS lese, wird mir ganz mulmig. Martin teilt mir mit, dass irgendetwas mit seinem Visum nicht stimme und ihn die Inder wieder nach Dubai abschieben werden. Nach einigen weiteren Nachrichten hin und her ist klar, dass er, warum auch immer, kein gültiges Visum bei sich hat und das Vorgehen der indischen Seite wohl akzeptieren muß. Was für ein Schock für ihn, für mich, für uns alle!
Dann ein Anruf. Ein weiterer Teilnehmer fragt schon etwas verzweifelt, wo ich denn stünde. Er sei draußen, könnte mich aber nicht finden? Den Weg zum Ausgang nochmals beschreibend stellen wir fest, dass er noch im Gebäude ist und die ganze gigantische Dimension des neuen Terminals kaum fassen kann. Ähnlich geht es auch dem letzten der vier, der noch dazu mich nicht telefonisch erreichen kann. Er schnappt sich kurzerhand ein Prepaid-Taxi und wir treffen uns wenig später zu meiner großen Erleichterung im Hotel.
So sind wir denn am Nachmittag, nachdem sich auch unser Nestor Georg aus Bangkok kommend der Gruppe angeschlossen hat, bis auf Martin vollständig. Ich weiß nun, dass ich meine Beschreibung zur Findung des rechten Weges aus dem Flughafen Bombay noch detaillierter gestalten muß. In der Visa-Frage bin ich einstweilen ratlos, da jeder Reisende den entsprechenden Antrag selbständig auszufüllen hat. Alles hier ist eindeutig bzw. selbsterklärend. Wie das mit Martin passieren konnte bleibt uns ein Rätsel? Als sich der erste Tag bei einem traumhaften Blick über die Bucht von Bombay aus unserem bevorzugten Restaurant Cloud No.9 dem Ende zuneigt verspüre ich einen emotionalen Verschleiß, als ob drei hektische Tour-Wochen bereits hinter uns liegen.

Nach einem an Eindrücken erneut übervollen Sonntag lade ich alle in mein arabisches Lieblingsrestaurant ganz in der Nähe unseres Hotels zum Essen ein. Wir belegen zwei Vierertische. Auf Empfehlung des Hausherrn verzichten wir auf eine a la carte-Bestellung und haben kurz danach auf jedem der Tische eine riesige Platte mit diversen Köstlichkeiten aus Lamm, Hühnchen, Reis, Brot und Gemüse. Vor dem Besuch hatte ich alle auf die Spezialität des Hauses, einen exzellenten, orientalisch abgestimmten frischen Hirn-Curry aufmerksam gemacht. Genau dieser thronte nun jeweils in der Mitte unserer Tafeln. Obwohl ich explizit nochmals darauf hinweise, hat es Beat am Nachbartisch entweder nicht verstanden oder er kann sich schlichtweg nicht vorstellen, dass eben dieses von ihm im Vorfeld heftig abgelehnte Gericht nun vor ihm stehen soll. Er hält es wohl für eine Variation von Paneer, dem ebenfalls unvergleichlich leckeren indischen Frischkäse-Curry und schlägt kräftig zu. Ja, er wischt zur Verwunderung seiner Nachbarn sogar die Schale mit seinem Brot aus. Irgendwann später, wir haben das Lokal lange verlassen, realisiert er dann, was tatsächlich geschehen ist und man sieht ihm sein Unbehagen förmlich an. Nachts im Zug auf dem Weg nach Goa muss der arme Kerl sich dann auch noch den Spott von uns anderen gefallen lassen. Auf die Frage, wie es denn seinem Gehirn gehe erwidert er nur müde: „Das ist jetzt eh verdaut und bestimmt schon tief unten im Körper.“ Daraus wird dann schnell der running gag für den Rest der Tour „Mein Hirn? Ist eh im A…!“
Hinzu kommt dann nach der Ankunft in Goa und dem „Wiederauftauen“ nach dem Entsteigen aus dem viel zu kalten Zug, der bei beinahe allen zu Erkältungssymptomen und Dauerschnupfen führt, ein ehrliches, weil leider zutreffendes „Ich habe ja sowas von die Nase voll!“ Unabhängig davon freuen sich alle auf die Fahrräder und in der Folge bilden wir trotz der gesundheitlichen Probleme eine richtig starke Radler-Truppe.

Am Dienstag verschiebt die morgens einsetzende Flut unsere direkt am Strand geplante Runde des entspannten Einrollens auf den Nachmittag. Auf Vorschlag von Eduard nutzen wir die Wartezeit für einen kurzen Ausflug mit dem Bus nach Alt-Goa zu den berühmten Kirchen. Es ist für mich immer wieder ergreifend, diesen Ort erleben zu dürfen, der nicht zu Unrecht zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Warum haben wir diesen Trip bei den vorangegangenen Reisen nicht schon im Programm gehabt? Ich kann es nicht erklären. Klar ist jedoch, dass wir diesen Einblick in die Kolonialhistorie allen künftigen Gästen nicht weiter vorenthalten werden.
Beim nachmittäglichen Radeln muß ich dann noch einen Wermutstropfen verdauen. Am Wendepunkt unseres Ausfluges habe ich den Gästen einen Stopp in einer der urigsten locations von Südgoa, dem Blue Whale Cafe versprochen. Allein, dieses existiert nicht mehr! Von einem dort noch lebenden Verwandten erfahre ich, dass die freundlichen Betreiber dieses Eco-Resorts leider aufgegeben haben. Die Mehrheit der Urlauber seien inzwischen Russen oder entstammen der neuen indischen Mittelschicht und die glauben in 5-Sterne-Absteigen leben zu müssen, mindestens. Schade!
Das Radfahren auf dem brettharten Strand bleibt uns zumindest und es ist so faszinierend und – bei Gegenwind – anstrengend wie immer. Umso besser schmeckt das verdiente Kingfisher-Bier bei Jimmy in seinem Strandlokal unmittelbar vor unserem Hotel. Hier wie dort, wie auch in fast allen anderen Hotels während der Reise funktioniert inzwischen problemlos die WLAN-Verbindung. Dafür mußte ich beim letzten Mal mitunter noch kämpfen, drohen und teilweise etwas zahlen. Es geht also voran.
Voran geht es hier im tropischen Klima auch mit dem Zuwachsen gerade noch gepflegter Umgebung. Im Blue Whale wuchert der vor einigen Wochen aufgegebene Garten so sehr, dass es einige Mühe bereitet, unsere Fahrräder hindurch zu den Dünen zu schieben. Wenig später auf dem Geländ
e des ehemaligen Portugiesen-Forts Cabo da Rama hätte ich mir eine Machete gewünscht, um den mir bekannten, aber kaum sichtbaren Wanderpfad für uns frei zu schlagen. So haben wir alle mehr oder weniger tiefe Kratzer aus der Querung des Gebüsches davongetragen. Dass besonders Schlangen dieses heiße Areal lieben sage ich meinen geschundenen Mitstreitern erst, als wir wieder „sicher“ auf den Rädern sitzen.

Nicht zu Unrecht sind wir etwas stolz auf unsere Betreuung der Teilnehmer durch das stets präsente Begleitfahrzeug. Jedenfalls meistens. Bei der Durchfahrung des Cortigao Wildreservates im Grenzland von Goa nach Karnataka darf es uns nicht folgen, soll aber am frühest zugänglichen Punkt auf die Gruppe warten. Im Wald löst sich bei Thomas die linke Pedale. Bis zur möglichen Hilfe sind es 7 km, die er als erfahrener Radler mit Klickpedalen trotz des Handicaps bewundernswert meistert. Nur wartet der Bus,warum auch immer, schon im Tagesziel und muß erst durch mich gerufen werden.
In der letzten Woche signalisiert Klaus nach ca. 15 km einen Platten. Leider benötigen wir neben dem Schlauch gleich noch einen neuen Reifen. Letzterer ist im Bus und der Bus ist nicht da. Er ist immer da, aber diese beiden Male, wo wir ihn brauchen, nicht. Fehlanzeige. Natürlich ist er in beiden Fällen mit einiger Verzögerung hilfreich zur Stelle. Eigentlich haben die erzwungenen Wartepausen nur Positives. Wir halten mal inne, kommen mit den Einheimischen am Wegesrand ins Gespräch und haben alle viel Spass. Vielleicht hat das Schicksal hier etwas korrigierend eingegriffen, da wir in dieser Gruppe sonst immer recht zügig unterwegs sind und sicher schon an der einen oder anderen interessanten Situation vorbei gefahren sind. Alles hat seinen Sinn. Schließlich werden uns beim 2. Stopp die Tageszeitungen mit Beiträgen und Fotos über unsere Gruppe präsentiert, die am Vortag beim Treffen mit Journalisten entstanden sind. Und natürlich ist der Bus nun stets wieder an unserer Seite…

Es wird unglaublich viel gebaut in Indien, es werden große Summen in die notwendige Erneuerung und den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur investiert. Das hat auch Auswirkungen auf unsere Tourenplanung. Den küstennahen Highway haben wir bei der Pilot-Tour noch an drei Tagen über 200 km befahren. Inzwischen meiden wir ihn mit den Rädern vollständig. Die Highlights am Wegesrand, wie den legendären Om Beach bei Gokarna und den Shiva-Tempel in Murudeshwar sind nunmehr willkommene Übernachtungs- bzw. Frühstücks-Stopps während des notwendigen Bus-Transfers.

Am Om Beach werden wir Zeuge einer nicht alltäglichen und doch typisch indischen Veranstaltung. Der höchste Polizeioffizier des Distriktes zieht mit einer unübersehbaren Gefolgschaft durch die durchweg als Schwarzbauten angelegten klapprigen und dabei so urgemütlichen Strandlokale. Alle kredenzen sie leckeres Seafood, schenken sie Bier und vieles mehr aus. So schaffen sie eine Atmosphäre, wofür sie von meist westlichen Travellern seit Jahrzehnten innigst geliebt werden. Nur, für all ihr freundliches Tun haben sie keine Lizenz von den zuständigen indischen Behörden. Diese können sie sich schlicht nicht leisten. Dafür drücken sie dann eben periodisch bei derartigen „Besuchen“ nicht unerhebliche Beträge an die Herren in Uniform ab. Win-win auf indisch eben und keine Seite scheint Lust zu haben, irgendwann daran etwas zu ändern.
Bei unserem Eintreffen am Strand ist von der sonst so entspannten Atmosphäre so gar nichts zu spüren. Unsere erste Bierbestellung wird mit einem gequälten „Jetzt nicht, vielleicht später!“ quittiert. Im Lokal herrscht ein hektisches Gewusel, als wenn der Fuchs durch den Hühnerstall geht. Per Mobiltelefon hält man sich auf dem Laufenden über den aktuellen Standort des „Bösen“. Es wird dunkel und wir bestellen unser Abendessen ohne das übliche Kingfisher-Bier. Also löschen die meisten von uns heute ihren Durst ungewollt mit Freshlime Soda. Schmeckt auch super und bei vielen anderen Radlern ist dies in der hiesigen Hitze eh das präferierte Getränk. Kurz vor dem Servieren der Speisen kommt der Chef dann endlich grinsend an den Tisch und verkündet, dass der Typ weg, das Bier wieder verfügbar und der Abend somit gerettet sei.
Am kommenden Vormittag geraten wir kurz vor dem Verlassen der Dauerbaustelle National Highway mit unserem Bus im unansehnlichen Städtchen Kundapura in einen veritablen Stau. Nichts geht mehr! Auf Nachfrage bei den die Straße willkürlich absperrenden Polizisten erfahren wir, dass sie das auf Wunsch einer maßgeblichen politischen Partei tun. Das sei hier ebenso üblich und keiner wisse, wann der Zauber vorbei sei. Wir beratschlagen uns kurz und entscheiden, unsere heutige Radetappe einfach hier in diesem Chaos zu starten und dann mal zu schauen, wie wir weiter verfahren werden.
Unsere Entscheidung erweist sich als goldrichtig. Wir schlängeln uns noch 5 km durch den menschengemachten Wahnsinn dieser Mittagsstunde und biegen dann ein in eine wunderbare leicht wellige, dabei schön schattige Landstrasse in Richtung der später vor uns auftauchenden Berge der Western Ghats. Bisher haben wir hier immer noch im Bus gesessen und dabei knapp 50 traumhafte Kilometer auf dem Rad ausgelassen. Das passiert uns heute nicht und wird auch den künftigen Gruppen nicht mehr passieren. Zwar haben wir unser vorbestelltes Mittagessen in einem historischen Herrenhaus in Agumbe dann erst sehr spät am Nachmittag zu uns genommen, doch nach dem auch noch zurückgelegten Anstieg hoch in den Ort hat es besser geschmeckt, denn je.

Üblicher Weise freue ich mich, wenn wir“oben“ auf dem Deccan-Plateau angekommen sind, werden doch die Temperaturen angenehmer und mit ihnen das Radfahren in der gesamten zweiten Woche. In diesen November-Tagen empfangen wir endlich Martin nach dessen unglaublicher Odyssee in unserer Mitte. Und wir erfahren eine neue meteorologische Seite des östlich von uns im Tamilenland stattfindenden Nordostmonsuns. Dieser treibt seine Regenwolken bis hinauf an den östlichen Rand der Western Ghats, genau hierher wo wir radeln wollen. Unglaublich, aber wahr. Wobei, wirklich beeinträchtigt werden wir nur am Sonntag auf dem Rückweg vom Shiva-Tempel in Halebid nach Hassan, als der Nieselregen in der letzten Stunde etwas unangenehm wird. Später in der Woche machen die tiefhängenden Wolken unserem Unterfangen, den Aufstieg nach Ooty trotz angeschlagener Gesundheit zu wagen, bereits in der ersten von 36 Haarnadelkurven ein frühes Ende. Vernünftiger Weise drehen wir in der beginnenden Waschküche alle bei. Bei einem Häuflein ausgeprägter Alphatiere ist das durchaus erwähnenswert.
Im Gegensatz dazu hat uns das vergleichsweise frische Wetter ermuntert, endlich mal die bisher wegen vermeintlich zu schlechter Straßenbedingungen von Josey in der Vergangenheit gemiedene direkte Rückpassage nach Hassan zu fahren. Auch diese erweist sich für Bus und Räder als unproblematisch und im Ergebnis als ein Gewinn für die Tour.
Den Weg nach Mysore haben wir erstmals bis direkt an den Autobahnring auf knapp 100 km ausgedehnt. Den dichten Wolken, die die sonst erbarmungslose Sonne verhüllen, sei Dank. Und auch den Weg auf den Chamundi Hill, den Stadtberg von Mysore, fahren einige von uns erstmals nicht im TukTuk, sondern mit sichtlichem Spass auf dem Fahrrad hoch. Bei diesem Wetter ist beides für die meisten überhaupt kein Problem und ruft förmlich nach Wiederholung.

In den vergangenen Auflagen war die Fahrt in die ehemaligen Jagdgründe des letzten Maharajas von Mysore in die heute zum Projekt Tiger gehörenden Wildreservate von Bandipur und Mudumalai schon immer ein Highlight. Auch der Besuch im November 2015 reiht sich hier würdig ein. Kurz hinter Bandipur möchte ein ausgewachsener wilder Elefantenbulle das schmale Asphaltband überqueren. Die wie immer unsensiblen indischen Autofahrer hindern ihn lärmend eine gefühlte Ewigkeit daran. Ich finde das schade, andererseits gibt es uns die Möglichkeit, ihn ebenso lange aus sicherer Entfernung zu bestaunen und zu fotografieren. Als uns signalisiert wird, das
s er im Dickicht verschwunden sei, fahren wir langsam weiter und passieren ihn dann ruhig äsend keine 10 Meter entfernt – viel näher, als mir lieb ist.
Auf dem Rückweg aus Mudumalai lässt uns ein Ranger nicht mit den Rädern in den Wald, weil dies zu gefährlich sei und wir müssen sie schweren Herzens verladen und in den Bus steigen. Welch ein von mir zunächst verfluchter Glücksfall. Keine 100 Meter hinter dem Schlagbaum wartet ein weiterer großer Bulle mit beängstigenden Stoßzähnen direkt am Straßenrand auf uns. Aus dem Bus können unsere Fotografen in aller Ruhe einmalige Bilder vom Chef des Waldes machen. Nach wenigen Kilometern zwingt uns ein Gaur, der indische Bison, erneut zu einem Stopp. Ihm folgt gemächlich durch den Morgen trottend, eine stattliche Herde mit weiteren Bullen, Kühen, Kälbern, Halbwüchsigen. Ich kann mich nicht satt sehen. So viele auf einmal hatte ich noch nie zu Gesicht bekommen. Und alle bewegen sie sich völlig entspannt, da sie wissen, dass ihnen von unserem Bus keine Gefahr droht. Ganz anders ist es wenig später, als wir wieder fast geräuschlos mit unseren Rädern unterwegs sind. Das irritiert die Rehe, Pfauen und anderen Beutetiere viel mehr. So still nähern sich sonst nur die für sie wirklich gefährlichen Räuber wie Tiger, Panther oder Bären an. Entsprechend aufgeregt preschen sie in alle Richtungen auseinander. Wir hingegen erreichen vollgepackt mit neuen Erlebnissen geschlossen den Parkausgang und damit unser verdientes Frühstück.

Auf dem weiteren Wege nach Süden läuft vieles in zumindest mir vertrauten Bahnen ab. Kurz vor Guruvayur stoppen wir kurz an der traurigen Aufbewahrungsstelle für Tempelelefanten. Nach den beeindruckenden Begegnungen im Wald scheint mir das Leben der hier zwangsuntergebrachten Dickhäuter noch trostloser. Offensichtlich sehen das andere Besucher wohl auch so und haben sich scheinbar auch in dieser Richtung geäußert. Jedenfalls verkündet eine Neuerung am Eingangstor, dass auf dem gesamten Gelände striktes Foto-Verbot herrsche. Wir wissen, warum.
Die Stadt selbst ist wieder einmal voller hinduistischer Pilger und – an unserem 3. Tour-Sonntag – zahlreicher Hochzeitsgesellschaften. Das ist gut für uns, besonders für die Fotografen, die vor lauter Motiven sicher ihre liebe Not haben, die richtigen festzuhalten. Erstmals entdecke ich unweit vom Tempel nahe des Busbahnhofes ein heftig frequentiertes Kirmesgelände mit diversen Fahrgeschäften, Gauklern und nicht enden wollenden Fress-Ständen. Eine Art Oktoberfest ohne Bierzelte, allemal sehenswert.
Am Abend nehmen wir unser einfaches, aber sehr schmackhaftes Essen gemeinsam mit vielen Einheimischen in einem lauten, bestens frequentierten Pilgerlokal ein, eine mich immer wieder ergreifende Erfahrung. Einige von uns bleiben dann bis tief in die Nacht in Tempelnähe, um den Darbietungen immer besser werdender Künstler in klassischer indischer Musik und Tanz beizuwohnen.
Montagmorgen machen wir uns auf den Weg nach Cochin. Wichtiger aber ist der kleine Ort Azhikode auf dem Wege dorthin. Auf Anregung von Martin steuern wir ihn erstmals an. Er will Grüße seiner Kirchgemeinde an Pater Frank überbringen, der lange in Köln gewirkt hat. Die hiesige Kirche beherbergt eine Reliquie des Apostels Thomas, von dem gesagt wird, dass er im Jahre 52 an eben jenem Flecken den Boden Indiens betreten und für die Verbreitung des christlichen Glaubens auf dem Subkontinent gesorgt habe – lange vor den Portugiesen und lange, bevor das Christentums sich überhaupt in Europa durchsetzte.
Dank Martin reduziert sich auch die zu fahrende Strecke auf der Hauptstrasse um mehr als die Hälfte. Stattdessen rollen wir auf der viel ruhigeren küstennahen Strasse Azhikode und dort der Fähre nach Vypin Island entgegen. Damit ist dann auch das letzte Stück einer größeren Strasse so gut wie eliminiert aus unserer Tour. Alle sind wir damit zufrieden und ich darf mich schon auf die Wiederholung im März freuen. Radfahrerisch fühlt sich unsere Tour nun noch besser an. Wenn es mir doch nur besser gelingen würde, meine Heißsporne etwas zu bremsen und an all den spannenden Dingen am Wegesrand öfter zu verweilen. Naja, vielleicht klappt es im kommenden Frühjahr besser, wenn auch wieder Frauen dabei sein werden.
Die Touristenmetropole Fort Cochin empfängt uns wie immer geschäftig. Aus meiner Sicht hat sich seit Ostern wenig verändert. Allerdings finde ich nach einer Enttäuschung in meinem bisherigen Lieblingslokal am zweiten Abend ein kleines privat geführtes Haus, welches sich sehr um uns bemüht, gutes Seafood anbietet und abschließend noch einen unerwartet guten „Local Wine“ in der Art eines Portweins kredenzt.

Bleiben die Backwaters, für die wir uns ja neuerdings einen Tag mehr Zeit lassen und endlich können auch die Gäste die Tour im soeben fertig gestellten Kadavil Lakeshore Resort am malerischen See von Kainakary angemessen ausklingen lassen. Wie immer nehmen wir sie nach der Nacht auf dem Hausboot mit zu Lisa und Josey für den Kochkurs in keralischer Küche und das Abschiedsdinner. Neben gutem Essen und freundlichem Ambiente wird hier im unter dem Meeresspiegel gelegenen Kuttanad allen aber sehr deutlich vor Augen geführt, was das Ansteigen der Meeresspiegel für die Menschen hier sehr konkret bedeutet. Joseys von seinem Urgroßvater vor über 100 Jahren erbautes einst prächtiges Herrenhaus ist dem Untergang geweiht. Die ehemals ertragreichen Obstbäume und Palmen im Garten, sie sterben langsam ab, verlieren ihre Kronen. Im Gemäuer steckt die Feuchtigkeit, rundherum ein deprimierendes Bild. Schweren Herzens hat sich die Familie entschlossen, das Haus als Wohnsitz aufzugeben.
Trotzdem, wo immer es möglich scheint, entsteht auch viel Neues. Der Lebensmut der Leute hier in „Gottes eigenem Land“ ist ungebrochen. Wir erfahren es hautnah am Freitag bei unserer abschließenden Runde auf den Rädern. Zunächst geht es, immer imm Schritt-Tempo auf den Deichen quasi durch die gute Stube, oder zumindest durch Küche und Bad der Anwohner. Später sind wir dann direkt am Meer bei den einlaufenden Fischern und den Krabben puhlenden Frauen zu Gast. Die Runde zieht sich doch länger hin, als von mir gedacht. Es wird deutlich wärmer und als ich dann schon am Nachmittag alle am Strand von Alleppey in ein schattiges Bierlokal führe habe ich den Eindruck, wenig falsch zu machen. Egal, auch hier können wir nur kurz verweilen, denn Martin und Georg müssen schon auf die Uhr schauen, da ihr Flughafen-Transfer näher rückt. Das hält uns aber nicht davon ab, ganz kurz vor der Rückgabe der Leihräder noch eine letzte urtypische Besonderheit der Region zu besuchen.
Es ist ein TODDY Shop. Ich halte mein Versprechen, dass keiner das Land verlässt ohne vorher das traditionelle leicht alkoholische Getränk der Einheimischen probiert zu haben. Es ist der noch junge, leicht angegorene Saft der Kokospalme, den die sog. Toddytapper aus den oberen Trieben der Palmen gewinnen. In diesem Stadium ist er nur leicht alkoholisch und erinnert an Federweißen mit Kokosnote. Später legt er deutlich an Alkohol zu, kippt aber auch schnell in Richtung Essig. Dann nutzen ihn die Frauen gern zum Kochen. Die Shops selbst sind eher schmuddelige Einkehren der Land- und Transportarbeiter und sicher für Europäer gewöhnungsbedürftig. Daher nehmen wir unseren „Scheidebecher“ auch draußen bei unseren Fahrrädern und schießen noch ein letztes Gruppenfoto!

Es war wieder einmal eine intensive Tour, wir haben uns alle gut rein gehangen. Wir haben viel erlebt, zum Glück Stürze oder gar Unfälle vermieden. Die freundlichen Worte zum Abschluss, sie klingen ehrlich in meinen Ohren. Auch mein Dank an Euch, Männer dieser Tour, kommt aus ehrlichem Herzen. Und da Ihr Euch so kreativ in die Verbesserung der Tour eingebracht habt, darf ich mich schon auf die nächste in 2016 freuen. Danke und frohe Weihnachten!

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