O Calcutta

Es sind tatsächlich mehr als 28 Jahre vergangen, ehe es mich wieder in die bengalische Metropole verschlägt. Beim Verlassen des neuen, leider noch nicht an die Metro angeschlossenen Flughafens gerate ich erstmals ins Grübeln. Kann es sein, dass hier noch immer die guten alten Ambassador-Limousinen, die seit den 1950er Jahren nach einem britischen Modell über gut 60 Jahre nahezu unverändert in Indien gebaut wurden, dass sie noch immer den Kern der hiesigen Taxiflotte stellen? Ja, es ist so, zumindest bei den Fahrzeugen ohne Klimaanlage. Und noch einmal Ja, man mag es nach dem ach so heißen europäischen Sommer 2018 kaum glauben, die “ungekühlten” Taxis sind selbst hier in dieser schwülen Tropenküche noch immer das größere Marktsegment. In “Rest-Indien” sieht man hie und da noch welche, ähnlich wie in Deutschland Trabbis, aber das hier ist etwas anderes, eben Bengalen. Unglaublich!

Auf dem weiteren Weg in die Stadt strahlen mich dann bald Karl Marx und Friedrich Engels Hand in Hand von einem unübersehbaren Monument an. Verunsichert frage ich den Fahrer, wie sehr denn die Kommunisten hier noch immer das Sagen haben. Er grinst und sagt, dass sie wohl seit 2011 nicht mehr regierten, aber schon noch über eine breite Anhängerschaft verfügten, jedoch unter den Jungen der Stadt, zu denen er sich mit seinen 30 Jahren noch zählt, eher nicht mehr.

Je näher wir der Innenstadt kommen, umso deutlicher wird eine weitere Besonderheit dieser Stadt sichtbar, die der Zehntausende auf den Bürgersteigen lebenden Menschen jeden Alters. Wo anderswo in Indien oder in den Ländern jenseits des reichen Westens die von wem auch immer so bezeichneten Slums dominieren, hier sind sie aufgrund des ganzjährig feuchtwarmen Klimas nicht nötig. Also verlagert sich das Leben vieler Menschen mit all seinen – auch den intimsten – Facetten in den öffentlichen Raum. Das ist auch für einen “Altgedienten” wie mich immer wieder harte Kost.

Die Stadt stellt an vielen Stellen in den Straßen üppig sprudelnde Wasseranschlüsse zur Verfügung. Diese dienen sowohl den unter einfachsten Verhältnissen hier lebenden Wanderarbeitern aus dem armen Bihar oder Nepal als Waschstellen für sich selbst und ihre spärliche Kleidung. Im zentralen Bereich nahe unseres Hotels sind es dann ganze Familien von der Oma bis zum Baby, die auf dem Bürgersteig leben, ihre ganze Privatshäre in der Öffentlichkeit lebend.

Auch das hat sich überhaupt nicht verändert.

Dankenswerter Weise umgeht der Fahrer die großen stets staugeplagten Straßen und ich bin sofort mitten im Leben der Einheimischen. Irgendwann wird es draußen sehr hektisch und der Fahrer zeigt auf Massen, die einen Tempel schmücken. Er sagt nur Ganesh Puja und New Market und ich weiß, dass wir schon in der Nähe des Hotels sind. Glücklicherweise für mich zu einem Zeitpunkt, da hier alles vom gerade dem Höhepunkt zustrebenden Ganesha-Festival dominiert wird. Vom Morgen bis zum Abend sind die Tempel umringt, es läuft permanent ohrenbetäubende Musik, alle Gläubigen werden mit viel zu süßen und zu fettigen Speisen verköstigt. Und nach Sonnenuntergang tanzen sie sich in Trance und schlafen dann dort, wo sie zusammen-gebrochen sind. Unglaublich wieder einmal.

Welch ein Bruch dann, als ich in der engen Sudder Street die unscheinbare Einfahrt zum Fairlawn Hotel entdecke. Der Fahrer war fast schon dran vorbei gerollt und kutschiert mich nun, wie nur Inder es können, einige Meter zurück durch’s Gedränge in den kleinen Garten. Das in einem seltsamen Grünton gehaltene zweistöckige Haus liegt kaum wahrnehmbar rückversetzt darin. Obwohl Instandsetzungsarbeiten im Innenhof laufen fühle ich mich sofort in die Zeit des Empire zurückversetzt. Weiß livrierte Mitarbeiter des Empfangs bemühen sich sofort um mich, ein gut gekühlter viel zu süßer Apfelsaft wird mir zur Begrüßung gereicht wie auch ein warmes duftendes Handtuch.

Das 1783 zunächst als Wohnhaus errichtete Gebäude zu beschreiben könnte ein ganzes Buch füllen. Die bis zu ihrem Tod 2007 selbst hier lebende Inhaberin hat dieses Haus über die Jahrzehnte mit Hingabe zu einer wahren Perle mit vielen Dokumenten aus der kolonialen und nachkolonialen Zeit entwickelt. In der Rezeption, im Restaurant, auf der mit dicken Teppichen ausgelegten Treppe ins Obergeschoss, in den Foyers und auch auf der wunderbar grünen Terasse, überall fühlt man sich in einer anderen Zeit. Schuld daran sind Hunderte alter Fotos, Zeitungsausschnitte und andere Original-Dokumente, die das von vielen Preisen gekrönte Leben des Hauses und seiner oft prominenten Gäste nachzeichnen.

Zwei Herren der großen Fabulierkunst seien stellvertretend erwähnt. Zum einen der strahlende Dominique Lapierre, der mit seinem Weltbestseller “Stadt der Freude” Calcutta weit über die Grenzen Indiens hinaus ein ergreifendes Denkmal gesetzt, der lange im Haus gelebt und an seinem Werk gearbeitet hat. Letzteres trifft auch auf den – warum nur – so grimmig dreinschauenden Deutschen Günther Grass zu, nur dass er während seines Aufenthaltes, was überhaupt keine Schande ist, an Calcutta gescheitert ist. Er hat es mit der ihm eigenen Sprache beschrieben, in die Seele der Stadt einzudringen vermochte er indes nicht.

Das ganze Haus und besonders die Zimmer weisen starke Spuren Ihres über 200-jährigen Dienstes an Ihren Gästen auf, um es freundlich auszudrücken. Trotz des freundlichen Service und der Aura des Hauses ist dies unübersehbar. Allerdings rühren die erwähnten Renovierungsarbeiten von einem zu Beginn dieses Jahres 2018 erfolgten Eigentümerwechsels her. Das berühmte Haus ist nunmehr Mitglied der Elgin-Gruppe, hinter welcher die nicht nur in Indien im Hotelgewerbe führende Familie Oberoi steht.

Ich darf mich in bereits renovierten Zimmern davon überzeugen, dass die dringend notwendige Modernisierung mit Augenmaß und großem Sachverstand betrieben wird und der Charakter des Hauses unverändert bleibt, ja noch aufgewertet wird.

Angeblich soll auch das Preisniveau nicht auf das absolute Luxuslevel angehoben werden. Wenn es denn dabei bleibt können sich meine Gäste an der künftigen Tour “Jenseits von Bhutan” auf zwei tolle Übernachtungen in dieser markanten Herberge freuen.

Am Abend mache ich mich auf, das Viertel zu Fuß zu erkunden. In der Sudder Street direkt beim kaum 100 Meter entfernten Indischen Museum und in den Nebenstraßen wimmelt es nur so von mobilen und mehr oder weniger festen Küchen aller Art. Street Food wird hier gelebt, Zehntausende werden allein hier an der Ostseite des Maidan auf dem berühmten Chowringee (niemand sagt Nehru Road) und rund um den New Market verköstigt. Ich gehöre an den kommenden drei Tagen zu ihnen und gerate ob der fantastisch frischen vegetarischen Curries und der immer ofenwarmen diversen Fladenbrote von einer kulinarischen Exstase in die nächste.

Die kongeniale Ergänzung dazu ist dann das very british servierte Frühstück im weiß mit Damast und morgenfrischen Blumen eingedeckten Hotelrestaurant. Bestes Porzellan, uraltes Silberbesteck, beides wie die gestärkten Stoffservietten mit dem Wappen des Hauses, Teekannen im großen textilen übergestülpten Wärmer und jede Menge weiterer netter Details wie das persönliche Namensschild mit Zimmernummer auf dem Tisch, das alles hat schon was und das Essen selbst wird souverän von einem Oberkellner alter Schule und einem bei weitem nicht so sicheren jungen Nepali am Tisch serviert.

Der frische Orangensaft und vor allem der folgende Obstteller sind eine Welt für sich, wie auch der Darjeeling Tee in einer schweren Metallkanne sowie das dazu gehörige Teesieb. Der folgende opulente Teller mit Masala Omelett, Baked Beans, Bratkartoffeln, Champignons, gebratenen Würstchen und Tomaten würden meinen englischen Schwiegersohn sicher in Exstaste versetzen. Da es nicht nur hinreißend aussieht, sondern auch vorzüglich schmeckt, esse ich alles auf. Selbst die von mir überhaupt nicht geschätzten Toastscheiben schmecken in Kombination mit der Orangen-Marmelade und dem von den Hängen des Himalaya stammenden Honig.

Was für ein Start in den Tag!

Wobei es schon der zweite große Moment des Morgens ist, denn bereits um 6:00 Uhr hält es mich nicht mehr im Bett und ich muß aufbrechen zu einem Spaziergang durch die erwachende Stadt. Magisch zieht es mich hier immer wieder den Maidan entlang nach Norden durch die Regierungs- und Bankenviertel hin zu den fleißigen einfachen Leuten rund um die Howrah-Brücke über den hier Hoogli geheißenen Ganges.

Es ist bereits schwülwarm in dieser frühen Stunde und sehr nass, also schlammig auf den Straßen. Es hat wohl in der Nacht einen kräftigen Regenguss gegeben.

Der eigentlich schönste Platz und koloniales Herz der Stadt B.B.D.Bagh ist wegen der Metro-Erweiterung eine riesige Baustelle und eine Ernüchterung. Immerhin thronen Writers Building und Hauptpostamt imposant wie eh und je an den Seiten.

In einer Seitenstraße hämmert megalaute Musik. Sie stammt von einem kunterbunt geschmückten Ganesh-Tempel, wo die Jünger ihm noch immer oder schon wieder huldigen.

Dann sehe ich die Stahlkonstruktion der markanten Brücke vor mir. Als einziger Nicht-Inder überquere ich die Gleise der Eastern Railways und bin mitten unter den Heeren der Transportarbeiter, die sich hier als Tagelöhner in Knochenjobs verdingen müssen, weil sie nichts anderes können. Es ist unglaublich schmutzig. Die Menschen jedoch sind entspannt, sie genießen ihren Morgentee, waschen sich, machen wohl ihre Witze über mich und laden mich ein, auch in die trübsten Ecken zu schauen. Natürlich mache ich hier wie schon in der Vergangenheit keine Fotos.

Aber oben auf der Brücke, wo die betrüblichen Details verschwimmen, da tue ich es schon. Auch die an den verschiedenen Ghats in der braunen Brühe des Flusses Badenden nehme ich mit einem Schaudern auf. Alle tragen sie einen unbeschreiblichen Glanz in den Augen, als sie das reinigende Bad im schwer verunreinigten Fluss hinter sich gebracht haben. Viele lassen sich dann, wie am Babu Ghat massieren und treiben auch einen fast schon narzisstischen Kult mit ihren Körpern, die für mich eher fett, denn schön sind.

Nach dem beschriebenen Frühstück lasse ich mich zunächst bis zum in seiner weißen Pracht den vielen Schmutz rundherum fast vergessen machenden zeitlos schönen Victoria Memorial und seine Gärten treiben. Heute am Freitag sind Unmengen Inder zur Besichtigung und zu Fotoshootings da, jedoch kann ich außer mir keinen Ausländer entdecken. Vielleicht liegt es an den eigenwillig gestaffelten Eintrittspreisen, die für Inder 20,- und für uns 500,- Rupien betragen? Aber die umgerechnet 6 Euro für uns sind ok, zahlen wir in der westlichen Welt für den Zutritt zu derartig schönen kulturellen Highlights doch oft ein Mehrfaches.

Ich genieße es und komme mit vielen Indern ins Gespräch, da sie ein überraschendes Vertrauen in meine fotografischen Künste zu haben scheinen und mich mit ihren nicht abreißenden Bitten konfrontieren, sie in den unterschiedlichsten Konstellationen zu fotografieren. Ich genieße es wie sie wohl auch. Sie kommen wirklich aus allen Ecken des Subkontinents, nur nicht aus Calcutta.

Ein weiteres “Muss” ist für mich der kurze Abstecher in den am Rande des Maidan gelegenen Presseklubs von Calcutta. Im Februar 1990 war ich als damaliger Presse-Attache der DDR-Botschaft zur Vorbereitung der letzten Kulturtage des Arbeiter- und Bauern-Staates als Associate Member des Press Club of India einige Tage hier und wurde perfekt von den damaligen Kollegen unterstützt. Ich erzähle den jungen Kollegen davon, sie hören interessiert zu, aber eigentlich sind sie mehr bei der laufenden Cricket-Übertragung. Immerhin laden sie mich noch auf ein Bier ein und staunen nicht schlecht, womit ich heute so unterwegs bin. Wir verabreden mit den Kollegen von “The Statesman” und 2 bengalischen Blättern schon einmal jeweils eine Story, wenn wir in 2019 erstmals mit einer deutschen Radfahrergruppe hier eintreffen wollen.

Im Anschluss checke ich noch einige Hotels in der Nähe, eines smarter als das nächste und bin mir am Ende umso sicherer, dass wir unbedingt im Fairlawn absteigen werden, selbst wenn die Modernisierung der Zimmer bis zu unserer Anreise im März 2019 noch nicht abgeschlossen sein sollte. Meine Gäste kommen ja schließlich nach Indien und nicht ins aseptisch saubere seelenlose Dubai oder Singapur.

Auf Empfehlung meines Indienreise-Paten Hans-Jörg treffe ich dann am Nachmittag einen echten hiesigen Reiseprofi, den Inhaber einer lokalen Agentur, der mir bei der Gestaltung unseres kurzen Aufenthaltes hier helfen soll. Der Typ, Mr. Dutta, ist Businessmann vom Feinsten und verkauft mir sofort alle nur denkbaren Reisen in Ost-, Nordostindien, Bhutan und Bangladesh. Er kennt jeden, den man kennen muß, um in der Branche erfolgreich zu sein, steht angeblich auch mit einem gleichaltrigen Sproß des Oberoi- Clans auf Du und Du. Ich lasse ihn reden. Anschließend umreiße ich mein bescheidenes Anforderungspaket und er verspricht, mir zeitnah ein entsprechendes Angebot zu übermitteln. Ich weiß, dass dieses sicher den mindestens doppelten Umfang des von mir gewünschten haben wird, ich also vieles streichen werde und freue mich auf die Zusammenarbeit mit meinem neuen agilen Partner. Warum nur sind die meisten Deutschen in seinem Alter (43) nicht auch so geschäftshungrig und begnügen sich lieber mit Posten als angestellte Manager?

Da es am Samstag erst am Abend mit dem Flieger in Richtung Heimat geht habe ich noch viel Zeit, Sinnvolles in der Stadt zu unternehmen. Da es vor der Tür liegt beschließe ich mich zu bilden (oder doch mehr zu quälen?) und dem berühmten Indischen Museum einen Besuch abzustatten. Neben Herausragendem gibt es auch Abteilungen zum Einschlafen und solche, in denen nach dem Abgang der Briten keine wirkliche Arbeit mehr geleistet wurde. Auf jeden Fall kann ich interessierten künftigen Gästen meine in vier Stunden erworbenen Eindrücke vermitteln. Das Streetfood rechts am Ausgang an der Ecke Sudder Street ist allein die Reise nach Calcutta wert.

Bevor ich das Taxi bestelle muss ich nochmals eine Abschiedsrunde durch den New Market drehen. Der ist so unglaublich voller Menschen und der unterschiedlichsten Gefährte, dass trotz allen Lärmens nur die Fußgänger langsam voran kommen. Und die Rikscha-puller. Ich beobachte sie mit dem größten Respekt, wie sie ihre sperrigen Gefährte, meist befüllt mit sperrigen Damen und deren Dutzend Einkaufstaschen, souverän, mitunter rücksichtslos durch die Massen bugsieren. Ein harter Job für kleines Geld.

Auf dem Rückweg zum Flughafen sehe ich sie dann doch, nachdem bisher nur die Gleise in den Straßen darauf hingewiesen hatten – die Straßenbahnen der Stadt. Es fahren immer nur Einzelwagen, stark ramponiert und immer überfüllt. Wahrscheinlich sollten sie Kampfbahnen heißen, denn das, was sich da in der abendlichen Rush Hour abspielt ist Überlebenskampf pur.

Mein Fahrer ist etwa so alt wie ich und sein Ambassador kaum jünger. Natürlich ist das keine “Waffengleichheit”, für uns spricht die Gelassenheit. Anders kann man die nicht vorhandene Infrastruktur wohl auch nicht ertragen. Die abgewählten Kommunisten mögen viel Gutes und Sinnvolles in Fragen Bildung und Gesundheitswesen für die Bürger getan haben, für die Verkehrsinfrastruktur haben die Briten definitiv mehr getan. Die sind seit 1947 weg und der Individualverkehr ist seit den 1990er Jahren explodiert, obwohl das die Genossen so nicht beschlossen hatten. Vielleicht sind sie auch deswegen abgewählt worden? Und so schnell wird sich an der Situation nichts ändern.

Egal. Calcutta, im März 2019 bin ich wieder hier. Und ich freue mich drauf!

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